Theologiegeschichte

Ich will Schwefelpredigten und Drohungen von Fegefeuer und ewiger Verdammnis. Ich will eine Kirche, die ihre Mitglieder über den schmalen Pfad des Lebens peitscht und unmißverständlich darlegt, dass der Rest der Welt der ewigen Finsternis entgegengeht.

Über diese (und weitere) Sätze über eine „Toleranztheologie, bei der die Grenze zwischen Recht und Unrecht verschwimmt“ aus Anne Holts Krimi „Ein norwegische Gast“ werden an einem Ort zitiert, an dem man sowas ganz sicher nicht erwartet hätte: der „Christ in der Gegenwart“ vom 31.01.2010.

Thomas Meurer kommentiert zunächst in einer Art „captatio benevolentiae“, jeder Leser dieser Zeilen würde wohl zunächst „schlucken müssen, weil er eine solche Theologie und ein solches Kirchenbild einer eher unheilvollen Vergangenheit zuschreibt“. Und natürlich sei zu berücksichtigen, daß es sich ja nur um die Aussagen einer Romanfigur handelt.

Dann aber holt er aus: Könne es nicht sein, daß die Autorin hier die gegenwärtige Theologie daran erinnere, daß es auch Menschen gibt, die einer „alle und alles verstehenden Umarmung eher kritisch gegenüberstehen“? Die eine „leidenschaftliche, entschiedene und auch bewertende kirchliche Verkündigung wünschen“? Es könne schon sein, so schließt er, daß „von der Kirche genau das erwartet wird, was sie sich manchmal am wenigsten traut“.

Daß ich so etwas in CiG lesen darf, verstärkt meinen Eindruck, daß es mit der Theologie langsam wieder bergauf geht. Als ich die Zeitschrift damals im Studium mal im Probeabo hatte, war mir schon nach zwei Ausgaben klar, daß ich das einfach nicht ertrage – auch auf die Gefahr hin, „dumm“ zu sterben (oder eben Außenseiter zu sein). Wenn aber sogar dort schon Zweifel am blind-anbiedernden Kurs geäußert werden kann, bleibt eigentlich nur noch Publik-Forum als zu schleifende Bastion. 😉

Nachtrag auf besonderen Wunsch Elsas: Der Artikel heißt „Ich will nicht umarmt werden“ und steht auf Seite 51.

Eigentlich hatte ich in Anknüpfung an das Posting über das Häßliche und Obszöne an eine kleine Hommage an H.R. Giger (u.a. der künstlerische Vater des Alien) gedacht, der just heute 70 wird. Allerdings war ich mir dann doch nicht sicher, ob ich selbst die jugendfreien Bildern allen meinen Lesern unvorbereitet zumuten kann… ;-P

Darum also doch ein Posting zu einem Artikel, über den ich mich heute geärgert habe (Wolfgang Pauly, Mission – Inkulturation – reziproke Interkulturation. Aspekte zur Begegnung zwischen Christentum und anderen Kulturen, in Orientierung 73, 2009, 123-125):

Uargh! Wie soll das mit der Inkulturation denn funktionieren, wenn sie offenbar bedeutet, möglichst viel über Rom und europäische Theologie zu schimpfen – obwohl man sie offenbar gar nicht verstanden hat?! Dient „Inkulturationstheologie“ nur dazu, das eigene Unwissen zu kaschieren?

Das „Prinzip der Relationalität“ (in der pseudo-südamerikanischen „andinen Philosophie“, die sich natürlich ein in Südamerika lebender Europäer ausgedacht hat, natürlich in Anknüpfung an das Denken der Indios; ist wohl nur zufällig total modern) paßt so wunderbar zur mittelalterlichen Metaphysik, daß es geradezu ein Irrsinn ist, wenn als Fazit Gott nicht mehr als „das Absolute“ anerkannt werden kann, weil das bedeutete, daß Gott aus aller Relationalität herausfalle und folglich nicht das volle Sein, sondern Nichts sei. Daß die aristotelische Metaphysik bezüglich der Eigenschaft Relation (Beziehung) so ihre Schwächen hat, d’accord. Aber kein geringerer als Thomas von Aquin selbst baute seine Trinitätstheologie genau auf der nun als wesensbestimmend verstandenen Relation auf, die nach Aristoteles die schwächste aller Akzidenzien ist!

Und so hat Thomas die Relation dermaßen aufgewertet, daß sie mit der „andinen Philosophie“ locker flockig kompatibel wäre – wenn man denn nur wollte und Gott Gott sein ließe: Denn als der Absolute – und der damit tatsächlich aus der dieser Welt immanenten Relationalität Herausfallende – ist Gott gerade Grundlage und Möglichkeitsbedingung von Beziehung, Relationalität! Man müßte ihn dann halt nur als Schöpfer und die Beziehung zu ihm als eine besondere, nicht gleichberechtigte, sondern asymmetrische anerkennen.

Vielleicht sollte man da mal mit Theologie und nicht mit (meist auch noch idealistischer) Philosophie rangehen. Dann klappt’s womöglich auch mit der Inkulturation. Doch irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß das gar nicht gewollt ist, daß die „Inkultutrationstheologie“ aktiv an der Destruktion einer bestimmten kulturellen Ausprägung des Christentums, nämlich der römischen, gearbeitet wird. Was sollte sonst etwa der (selbst im Kontext von Inkulturationstheologie) völlige Quatsch, Inkulturationsergebnisse von sonstwo nach Europa, also einen ganz anderen kulturellen Raum, importieren zu wollen? Statt dem verdammten Eurozentrismus jetzt also Eurorelativismus…

Nachtrag: Wenn sich sogar die Kritik an „auf die konkreten Wünsche für ein gelingendes diesseitiges Leben“ ausgerichteten neuen religiösen Bewegungen in Japan einzig und allein auf „die Nähe mancher Gruppe zu ultrakonservativen politischen Bewegungen und deren meist unhinterfragtes Autoritätsverständnis“ (S. 124) beschränkt, fällt mir zu dieser Theologie- und Transzendenz-, ja Gottesvergessenheit echt nichts mehr ein – außer: Wo ist hier eigentlich die geforderte vorurteilsfreie Offenheit gegenüber einer fremden Kultur?

Nach dem gestrigen Post darf ich mich ja eigentlich nicht beschweren, aber diejenigen, über die ich mich beschweren will, dürften den Post gar nicht gelesen haben, also heul ich jetzt doch mal rum.

Ich wurde jetzt schon mehrfach mehr oder weniger direkt gefragt, ob ich Traditionalist bin. Und nein, ich bin kein Traditionalist; zumindest verstehe ich mich selbst nicht als solcher. Was ist denn eigentlich ein Traditionalist?

Wolfgang Beinert hat vor gut 15 Jahren mal folgende Differenzierung vorgeschlagen, der ich mich im wesentlichen anschließen würde. Demnach gebe es zwei Pole, zwischen denen sich die Kirche immer bewegen müsse, nämlich Identität und Relevanz (man könnte auch sagen: Tradition und Gegenwart). Denn nicht alles, was zur (vermeintlichen) Identität gehört (also zu den Traditionen), ist tatsächlich relevant (auch für die Identität!). Als Beispiel wäre etwa der Kirchenstaat zu nennen, dessen drohender Untergang Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Großteil der Theologen als unmöglich verleugnet wurde, da der Kirchenstaat dogmatisch notwendig sei. Untergegangen ist der Kirchenstaat trotzdem, ohne daß das Ende der Welt eingetreten wäre. Auf der anderen Seite gehört die Relevanz zur Identität: Der christliche Glaube ist per se relevant, wenn er also nicht mehr als relevant erscheint, muß irgendwo ein Fehler im System sein. So korrigieren sich die Pole Relevanz und Identität, Gegenwart und Tradition gegenseitig.

Entsprechend kann, darf und muß es immer „polarisierte“ Gläubige geben. Die einen betonen mehr die Relevanz, die anderen mehr die Identiät. Erstere bezeichnet Beinert als modern, letztere als traditional (wenn ich mich recht erinnere).

Problematisch werde es jedoch, wenn Gläubige die Berechtigung des anderen Pols leugnen, wenn also um der Relevanz willen die Identität aufgegeben wird oder die Identität so erstarrt, daß sie sich nicht mehr von der Relevanz in Frage stellen läßt. Gläubige, die den ersten Weg gehen, bezeichnet Beinert als Modernisten (vielleicht verwendete er auch einen etwas weniger belasteten Begriff, aber der Sache nach stand das so da), letztere als Traditionalisten.

Folglich müßte ich die Berechtigung des Relevanz-Pols leugnen, um Traditionalist zu sein. Das tue ich aber keineswegs. Vielmehr greife ich gerade deshalb gerne auf die Tradition zurück, weil die übermäßige Relevanzbetonung der letzten Jahrzehnte nicht gerade zu faktischer Relevanz des Glaubens in der Gesellschaft geführt hat. Wer das leugnet muß reichlich blind sein. Es ist also gerade die Relevanz der Identität, um die es mir geht. Wie kann ich dem Atheisten von nebenan klarmachen, daß es durchaus hilfreich ist zu glauben? Das schaffe ich ganz sicher nicht, indem ich als erstes sage, alles was aus Rom kommt, ist eh scheiße.

Nun erwarte ich nicht großes Jubelgeschrei vom durchschnittlichen Theologen, wenn ich diese Position vertrete. Gegen eine sachliche Auseinandersetzung habe ich nichts; sollte der andere gute Argumente haben, bin ich gerne bereit, meine Ansicht zu vertiefen. Aber was mich ernsthaft verletzt, ist die arrogante Überzeugung, man könne gar nicht anders denken als der theologische Mainstream, die in der Frage, ob ich Traditionalist sei, zum Ausdruck kommt.

Diese selbst bei vielen gleichaltrigen Theologen selbstverständliche Annahme, die (ich nenne es mal:) Verkonservatisierung der jüngeren Generation sei einfach nur ihrer Unreife geschuldet, dieser überheblich Hochmut, der darin zum Ausdruck kommt, die praktisch damit verbundene Verunmöglichung, eine abweichende Auffassung zu formulieren – das alles kotzt mich, gelinde gesagt, an.

In einer Gesprächsrunde äußerte mein Pfarrer einmal, es verwundere ihn, wie sich Joseph Ratzinger entwickelt habe: Die wissenschaftliche Karriere fast wegen Modernismusverdacht gescheitert, auf dem Konzil noch einer der „jungen Wilden“, in den Siebzigern dann plötzlich der Bremsklotz an der Modernisierung der Kirche und später dann der „Panzerkardinal“. Auch andere wunderten sich darüber, daß „Einführung ins Christentum“ und diverse Publikationen der Glaubenskongregation von derselben Person verfaßt sein sollen. Mein Pfarrer konnte sich das ganze nur mit ’68 erklären: Der Professor Ratzinger sei völlig schockiert vom Verhalten der Studenten gewesen und habe dabei „einen Knacks“ bekommen.

Auf dem Hintergrund meiner Vermutung eines Epochenwechsels um 1970 erschließt sich mir diese Vermutung plötzlich in einem positiven Sinne – mein Pfarrer hatte das rein apologetisch gemeint, so im Sinne von: der kann nichts dafür. Doch, das kann er, und vielleicht haben die ’68er tatsächlich dafür gesorgt, daß dem immer noch jungen Professor Ratzinger aufging, daß die Moderne nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann. Während man ihm dies in der Kirche aber als Rückschritt auslegte, war er damit eigentlich auf der Höhe der Zeit, ja sogar an der Speerspitze der Entwicklung und damit seiner Zeit ein wenig voraus.

Das hatte er gemeinsam mit dem gleichalten (und vor einem Monat verstorbenen) Bernhard Stoeckle OSB, der der „Glaubensethiker“ schlechthin unter den Moraltheologen war (und zu den Glaubensethikern wird auch, na: wer gerechnet? Genau: Joseph Ratzinger). Ohne auf die damalige Konfliktlage zwischen der „autonomen Moral“ und der „Glaubensethik“ eingehen zu wollen: Einer der Gründe Stoeckles, gegen die autonome Moral zu schreiben, war die Beobachtung, daß die Zeit der Rationalität und menschlichen Machbarkeit vorbei war, daß es wieder Menschen, noch dazu weit von der Kirche entfernte, gab, die auf der Suche nach Spiritualität und Transzendenz waren. Wenn man Stoeckles 35 Jahre alte Kampfschrift „Grenzen der autonomen Moral“ liest, ist man überrascht, wie hellsichtig und zukunftsweisend einige Stellen wirken – und schockiert, wenn man in Dietmar Mieths Antwortartikel genau diese Passagen als Beleg für die traditionalistische Gesinnung Stoeckles wiederfindet! (Während Stoeckle gesellschaftliche Entwicklungen beschreiben wollte, die natürlich noch in den Anfängen steckten, meint Mieth, Stoeckle spreche hier von zurückgezogenen, kleinen Konventikeln.)

Mit anderen Worten: Die Theologie war in den Siebzigern dermaßen damit beschäftigt, „modern“ zu werden, daß sie nicht bemerkte, daß „modern“ schon wieder veraltet war, sie also zu spät kam. Im Gegenteil, den wenigen wirklich fortschrittlichen Theologen wurde sogar noch Traditionalismus vorgeworfen – weil man schockiert auf Kritik an der Moderne und Wiederentdeckung der Tradition reagierte. Auf diese Weise hat sich die Kirche auf Jahrzehnte selbst paralysiert, und es ist alles andere als zufällig, daß sich die (im gläubigen Sinn) kirchliche Jugend als „Generation Benedikt“ formiert. Geistig ist unser Papst immer noch der gesellschaftlichen Entwicklung voraus.

Seit rund dreißig Jahren geistert der Begriff der Postmoderne auch durch die Philosophie. Die hat ihn keineswegs erfunden (er stammt ursprünglich aus der Architektur) und auch nicht unbedingt begeistert übernommen. Lyotard hat ihn eher beiläufig verwendet, Habermas daraufhin die große Krise gekriegt: Es könne keine Postmoderne geben, denn die Moderne sei per se nicht abschließbar. Allenfalls könne Postmoderne als eine Phase der Moderne verstanden werden.

In letzterem Sinne wird mitunter von der Spätmoderne gesprochen. Das hat durchaus seine Berechtigung, insofern heute kaum noch „alte Zöpfe“ (die Absolutismen der Tradition) angegriffen werden, sondern die Absolutismen der Moderne selbst. Die Moderne ist sich also ihrer eigenen Grenzen bewußt geworden und radikalisiert sich selbst, indem sie ihre Prinzipien nun auch auf sich selbst anwendet. Ein Ergebnis davon ist der Relativismus. Alles muß kritisiert und hinterfragt werden, überall werden potentielle Totalitarismen gesehen.

Genau diese Entwicklung erweckt aber auch ein neues Interesse an der Tradition, ja selbst der Relativismus führt zu neuen, wenn auch partikulären Radikalismen (besser vielleicht: Überzeugtheiten – ganz bewußt im Plural!), und hierin liegt die Grenze der Rede von der „Spätmoderne“ als einer Phase der Moderne. Die Moderne war einfach nur „dagegen“, alles was alt war, mußte sich rechtfertigen, das Neue war per se das Bessere. In der Postmoderne ist nun zwar nicht per se alles Vormoderne das Bessere, aber ein nüchternerer Blick auf Tradition und Moderne ermöglicht beiden zu ihrem jeweiligen Recht zu kommen. Nicht alles, was überkommen ist (bzw. war: es gibt fast keine ungebrochene Kontinuität mehr), ist einfach schlecht, nicht alles Neue ist einfach gut, aber auch ist nicht alles Neue schlecht und alles überkommene einfach gut. Der Pendelausschlag tendiert gewissermaßen wieder zur Mitte. Dialektisch könnte man sagen: die Tradition war die These, die Moderne die Antithese und die Postmoderne versucht sich nun an der Synthese.

Soweit so gut. Ich frage mich jedoch mit jedem Tag mehr, ob die Postmoderne nicht nur die Moderne abgelöst hat, sondern auch die Neuzeit schlechthin. Auf den ersten Blick zeigt sich freilich nicht viel, was dafür spricht; eher ist man geneigt, das Ende der Neuzeit noch früher (oder gar nicht) anzusetzen, etwa mit der industriellen Revolution, die die abendländische Zivilisation stärker verändert hat als alles seit der Völkerwanderung. Zugleich zeigen sich aber genug Kontinuitäten, philosophiegeschichtlich etwa wird vom „langen 19. Jahrhundert“ gesprochen, das von 1789 bis 1918 angesetzt wird. Politisch war das ganze 19. Jahrhundert vom Freiheitspathos der französischen Revolution bzw. der entgegengesetzten Restauration geprägt. Andererseits ist auch ein philosophiegeschichtlicher Bruch um 1830 zu erkennen – nämlich nach Hegel.

Aber ich will nicht zu sehr ins Detail gehen. Epocheneinteilungen sind immer ein Stück weit willkürlich, wie ja auch das Mittelalter als Zeit zwischen Antike und Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance und damit als „dunkel“ (was es aus anderer Perspektive keineswegs war) definiert ist. Mit Beginn der Postmoderne, der für gewöhnlich um 1970 angesetzt wird, zeigt sich jedoch ein ganz bemerkenswerter Bruch im menschlichen Selbstbewußtsein, der mit den Jahren immer deutlicher zu Tage tritt: Der Mensch hat den Zukunftsoptimismus verloren, er hält die technische und gesellschaftliche Entwicklung immer weniger für kontrollierbar, die Grenzen und Gefahren der bisherigen Entwicklung werden ihm immer klarer.

Deutlich zeigt sich das im Umgang mit der Umweltverschmutzung. Während die verdreckte Luft im Ruhrpott der Sechziger noch technisch angegangen (und „in the long run“ auch gelöst wurde), bricht sich ab 1970 eine Naturschutzbewegung Bahn, die gewissermaßen zurück auf die Bäume will. Die negativen Nebeneffekte seien nicht in den Griff zu bekommen und schlimmer als der Nutzen. So ist dann auch der Anti-Atom-Lobby (oder etwas heutiger: den Klimaaposteln) nicht mit technischen und statistischen Argumenten zu kommen: Die Technik selbst bzw. der Glaube an die Kontrollierbarkeit der Technik werden als das Problem angesehen. Interessanterweise liegen genau hier auch die Übergänge zu einem „neo-mythischen“ Denken, das das stark rationalistische und empiristische Denken der Moderne ablöst.

Nun könnte man einwenden, daß es auch schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Umweltschutz- und Lebensreformbewegung gegeben hat, die bei den germanischen Neuheiden durchaus auch Übergänge zu neo-mythischem Denken aufwies. Bei genauerer Betrachtung scheint mir das aber meine Überlegungen zum Ende der Neuzeit eher noch zu bestätigen. Denn die genannten Strömungen vor 1914 waren nicht nur bei weitem nicht so gesellschaftsprägend wie ihre Gegenstücke nach 1970, sondern verdoppelten in sich gerade die „Mythen der Neuzeit“ (und der Moderne) von der Machbarkeit und dem immerwährenden Fortschritt. Das Denken dieser Bewegungen damals war technisch und (pseudo-)wissenschaftlich geprägt und diente dem individuellen weltlichen Vorankommen allein. Eine nicht anthropozentrische Sicht der Natur war überhaupt nicht denkbar. Daß es etwas über den Menschen – in entsprechenden Kreisen: den Arier – hinaus geben könnte, also etwas, das ihm einfach vorgegeben ist (sei es ein Schöpfer, sei es auch nur die Natur als Lebensgrundlage), das er nicht kontrollieren kann, unvorstellbar.

Das alles hat sich ab etwa 1970 radikal gewandelt. Doch scheint die Kirche diese Entwicklung nicht mitgemacht zu haben. Vielleicht liegt das daran, daß das Konzil noch durch und durch modern war, und alle, die um 1970 in der Theologie (meist eher unbewußt) postmoderne Strömungen aufgriffen, mußten so als „Ewiggestrige“ erscheinen, denn Postmoderne bedeutet ja auch, der Tradition wieder ihren Eigenwert einzuräumen. Freilich ohne sie beziehungslos zur Gegenwart erstarren zu lassen. Meines Erachtens ist der herausragendste Vertreter dieser frühen Rezeption der Postmoderne heute Papst. (Fortsetzung folgt.)

Hünermann fiel mir in diesem Jahr außerdem bei (wenn ich mich recht entsinne) gleich zwei Tagungen (vielleicht war die eine davon schon 2008) mit einer These zum Stellenwert der Beschlüsse des zweiten Vatikanums auf. Er räumt nämlich zwar unumwunden ein, daß das Konzil natürlich keine Dogmen verkündet hat. Den Umkehrschluß aber, daß es dann also auch keine Canones und folglich keine Anathematismen verkündet hat und damit das Bestreiten einzelner Aussagen und Lehren des Konzils keine unmittelbare Kirchenstrafe nach sich ziehen kann, läßt er nicht gelten. Denn zum einen handle es sich ja um einen gültigen, nur halt nicht unfehlbaren Akt des außerordentlichen Lehramts (soweit ja richtig), zum anderen müsse man doch aber auch die Textgattung beachten. Tatsächlich habe das Konzil deswegen keine Dogmen verkündet, weil es das, was es vorhatte, gar nicht in Einzeldogmen mit Canones und Anathematismen fassen konnte. Wer jetzt aber an die pastorale Ausrichtung des Konzils denkt und, unwissend, worauf das hinauslaufen soll, zustimmen will, wird äußerst überrascht sein, wenn er hört, welche Textgattung Hünermann auf das Konzilskompendium angewendet haben möchte: Das des Verfassungstextes. Ich wiederhole: Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach Peter Hünermann nicht mehr und nicht weniger als einen Verfassungstext der Kirche beschlossen!

Da ist ganz klar: Wer auch nur ein einziges Jota hinwegnehmen will, muß mit dem Kirchenbann bestraft werden – wie eben die Piusbruderschaft. Hünermanns These ist dermaßen absurd, daß ich sie überhaupt nicht mit ihrem Verfasser zusammenbringen kann. Sollte der Kirche etwa 1935 Jahre lang gefehlt haben, was zum Heile nötig ist, nämlich ihre „Verfassung“, die 16 „Heiligen“ Schriften das II. Vatikanischen Konzils: Sacrosanctum Concilium, Inter Mirifica, Lumen Gentium, Orientalium Ecclesiarum, Unitatis Redintegratio, Christus Dominus, Optatam Totius, Perfectae Caritatis, Gravissimum Educationis, Nostra Aetate, Dei Verbum, Apostolicam Actuositatem, Dignitatis Humanae, Ad Gentes, Presbyterorum Ordinis und Gaudium et Spes?

Warum fehlen dann aber Inter Mirifica, Christus Dominus, Optatam Totius, Perfectae Caritatis, Gravissimum Educationis, Apostolicam Actuositatem, Ad Gentes und Presbyterorum Ordinis im Denzinger-Hünermann? Am formalen Stellenwert der Texte kann es jedenfalls nicht liegen, da Nostra Aetate und Dignitatis Humanae es mit der formal niedrigsten Stufe der „Erklärung“ in die Auswahl geschafft haben, die aussortierten Texte aber bis auf Gravissimum Educationis allesamt Dekrete sind. Folglich muß es an ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung liegen, und – schwupps! – schon können es keine Verfassungstexte mehr sein, weil sie andere Texte voraussetzen, um überhaupt ihre eigene Bedeutung zu erlangen, Verfassungstexte aber die grundlegende Eigenschaft haben, aus sich selbst heraus Geltung zu beanspruchen.

Und überhaupt: Wieso sollten die Beschlüsse des 21. ökumenischen Konzils wichtiger sein als das Glaubensbekenntnis des 1.? Oder grundsätzlicher: Wenn es überhaupt einen Verfassungstext der Kirche geben sollte (und ich betone hier den Konjunktiv, denn der christliche Glaube ist eben keine Buchreligion!), dann müßten das doch die 72 Bücher der Heiligen Schrift sein!

Vielleicht verstehe ich auch die mündlichen Ausführungen Hünermanns, die ja auf Tagungen fragmentarisch bleiben müssen, einfach bloß falsch. Möglicherweise meint er ja was ganz anderes. Auf eine schriftliche Quelle dazu bin ich bisher nicht gestoßen (ehrlichgesagt verspürte ich bisher auch noch nicht die nötige Demut, aktiv nach einer zu suchen). Salvo meliori iudicio muß ich aber in beiden Fällen sagen: Was hat ihn da bloß geritten?!

Die Zeit „zwischen den Jahren“ ist ja immer auch die Zeit der Jahresrückblicke. Wenn ich auf das vergangene Jahr zurückblicke, dann sehe ich zwar viel, was passiert ist, aber eigentlich nur ein wirklich weltbewegendes Ereignis: Die Aufhebung der Exkommunikation der Pius-Bischöfe. Und „weltbewegend“ meine ich nicht im journalistischen Sinne, sondern daß (sofern im weiteren Verlauf hauptsächlich homines bonae voluntatis beteiligt sind) daraus viel Gutes hervorgehen kann.

Natürlich darf man nicht blauäugig erwarten, daß jetzt alles wie von selbst ins Lot kommt, aber zumindest ist nun wenigstens vorrübergehend die Gewöhnung an eine neue schismatische Gegenkirche mit apostolischer Sukzession aufgehalten. Offenbar fühlten sich aber viele in ihrer Gewöhnung gestört, in der sie sich so behaglich eingerichtet hatten – und das auf beiden Seiten! Denn während sich der publizistische Blätterwald auf Williamson stürzte (dem die Ausstrahlung seiner Holocaustleugnung auch nicht ganz unangenehm gewesen zu sein scheint), hörten „tines“ nicht auf, den Papst als Modernisten zu verunglimpfen, der schon als junger Professor und auch heute noch Häresien lehre. Da wird noch viel Gnade vom Himmel fließen müssen, bevor über allen Schützengräben Lilien blühen können!

Damit bin ich auch schon bei einer Einzelpersönlichkeit, die mir dieses Jahr mehrfach aufgestoßen ist: Peter Hünermann. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hünermann ist ein netter Mensch und ganz sicher ernsthaft und aus aufrichtigem Glauben um die Kirche besorgt; auch will ich seine wissenschaftlichen Verdienste keineswegs in Abrede stellen. Aber mit seinem Artikel in der Herderkorrespondenz, in dem er die Aufhebung der Exkommunikation als „schweren Amtsfehler“ des Papstes bezeichnet, hat er nun wirklich einen Bock geschossen. Mich wundert eigentlich nur, daß das kaum einer bemerkt zu haben scheint!

Denn seine ganze Argumentation setzt voraus, daß die Exkommunikation 1988 nicht nur wegen der unerlaubten Bischofsweihe ausgesprochen wurde, sondern auch wegen Häresie. Nur deswegen kann er fordern, daß die Piusbrüder erst ihren Irrlehren abschwören müßten (um den „Mangel an Reue“, den Hünermann beklagt, mal frei in Klartext zu übersetzen), und behaupten, die dem zuvorkommende Entscheidung des Papstes verstoße gegen das Kirchenrecht und sei mithin ein schwerer Amtsfehler, weil kirchenrechtlich eben die Reue über die Ursache der Exkommunikation vorausgesetzt ist.

Diese Voraussetzung hat er aber zu Beginn seines Artikels erst selbst geschaffen! Dort argumentiert er nämlich mit dem Motu proprio „Ecclesia Dei“ Johannes Pauls II., dem Begleitschreiben zum Dekret der Bischofskongregation, das die Exkommunikation feststellte. In diesem Schreiben äußerte der damalige Papst die Vermutung(!), man könne(!) die Wurzel dieses schismatischen Aktes in einem theologischen Irrtum, näherhin einem unvollkommenen und widersprüchlichen Begriff von Tradition selbst erkennen. Diese Vermutung einer Möglichkeit wird im weiteren Artikel Hünermanns zu einer Begründung der Exkommunikation mit Häresie.

Hünermanns kirchenrechtliche Argumentation muß dem Dogmatiker so letztlich auf die Füße fallen. Nicht im Begleitschreiben, sondern im Exkommunikationsdekret selbst steht die kirchenrechtlich relevante Begründung der Exkommunikation und damit implizit auch die kirchenrechtlich nötige Reue für eine Aufhebung der Exkommunikation. Das hätte ihm spätestens daran auffallen müssen, daß eben nur die vier Bischöfe exkommuniziert waren, aber nicht die Priester der Bruderschaft. Das, sowie das Fortdauern der Suspension, diskutiert er aber allenfalls andeutungsweise am Rande.

Der Fehler, die zwingende Richtigkeit des späteren Schlusses bereits in die Prämissen einzubauen, ist eigentlich ein so simpler und altbekannter Logikverstoß, daß man sich wundern muß, wie er einem solch verdienten Mann unterlaufen kann – zumal er mit dem Artikel Hünermanns allein belegt werden kann, da Hünermann alle notwendigen Informationen mitliefertn (Anmerkung: In Herders „Theologie Kontrovers“-Band zu „Vatikan und Pius-Brüder“ wird auch im „Dokumentation“-Teil nur das Motu proprio „Ecclesia Dei“ aufgeführt, nicht aber das eigentlich Exkommunikationsdekret der Bischofskongregation. Honi soit qui mal y pense…)

Aber vielleicht hängt dieser schwere Denkfehler mit einem anderen Punkt zusammen, auf den ich morgen zu sprechen kommen will.

Vielleicht liegt den Schwächen der EÜ auch wieder ein spezifisches Problem der Moderne zugrunde, nämlich „es“ „wissenschaftlich“ exakt auf den Punkt bringen zu müssen. Zumindest fand ich es ausgesprochen irritierend, daß im Preuschen bei gefühlt jeder dritten Vokabel eine Sonderbedeutung nur für den Jakobusbrief angegeben war (wenn es nicht sowieso schon ein Hapaxlegomenon war…), zum Teil standen sogar ganze Halbsätze im Vokabelverzeichnis! Dabei ging es natürlich auch mit den eigentlichen Grundbedeutungen, man mußte halt nur etwas bildlicher denken. Dafür verstand man besser, was eigentlich dastand.

Am krassesten war ja Jak 4,5 („pros phthonon epipothei to pneuma ho katwkisen en hemin“), wozu es im Preuschen (Eintrag phthonos) heißt: „pros phthonon epipothein Ja 4,5 ist ganz dunkel“ und, wie immer, wenn ein Exeget mit einer Stelle nicht klarkommt: „wahrscheinlich verderbt“ (bloß daß der kritische Apparat bei Nestle-Aland nur eine einzige Quelle angeben kann, die „theon“ statt „phthonon“ liest…) Aber weil alle to pneuma hier als Akkusativ auffassen (Schlachter ausgenommen) brauchen sie halt noch ein Subjekt, und noch die revidierte Lutherbibel (1984) macht aus dem „er“ noch „Gott“ (übrigens auch das ach so wortgetreue Münchener NT), so daß es dort heißt: „Mit Eifer wacht Gott über den Geist, den er in uns hat wohnen lassen“; EÜ: „Eifersüchtig sehnt er sich nach dem Geist, den er in uns wohnen ließ“, wobei der Sache nach hier als „er“ nur „Er“ in Frage kommt… – Schlachter dagegen: „Ein eifersüchtiges Verlangen hat der Geist, der in uns wohnt“. Mein Übersetzungsvorschlag ginge jedoch noch einen Schritt weiter, nämlich auch das pros phthonon nicht einfach zu „eifersüchtig“ aufzulösen: „Der Geist, der in uns wohnt, sehnt sich nach Neid“ – und siehe da, Hieronymus teilt meine Meinung , wenn er ins Lateinische übersetzte: „ad invidiam concupiscit Spiritus qui inhabitat in nobis“ und ebenso wie ich den Anfang von 4,6 zum „Schriftzitat“ hinzurechnet: „maiorem autem dat gratiam“ (größere Gnade aber gibt Er).

Und genau das ist das Problem: Man will dem „gemeinen Leser“ (oder gar den „Hörer des Wortes“ im Gottesdienst) wohl nicht gleich schwierigen Interpretationsfragen zumuten. Mit dem möglicherweise beabsichtigten Nebeneffekt, daß er sich auch gar keine großen Gedanken über den Text macht. Nicht, daß nachher jemand bei „das Rat der Geburt in Brand setzen“ (Jak 3,6) auf die Idee kommt, hier an Erbsünde zu denken (selbst wenn der ganze Kontext sachlich [siehe auch oben zu Jak 4,5f] von der Folgen derselben spricht), denn wir wissen ja, daß sowas im NT nur solche Leute finden können, die (wie Augustinus) nicht gut genug Griechisch konnten…

Allerdings muß man zur Ehrenrettung der Exegeten einräumen, daß sie beim Jakobusbrief recht ausführlich auf die stark interpretierenden Übersetzungen hinweisen. Bliebe bloß die Frage, wer dann die Übersetzung verbrochen hat…

Kürzlich war ich auf einer Theologentagung, auf der auch mehrere Referenten auf die anthropozentrische Wende zu sprechen kamen. Überraschenderweise war darunter nur einer, der voll die alten Konsequenzen runterbetete.

Alle anderen waren da deutlich skeptischer, und eben jener verbliebene Einzelkämpfer der Moderne wurde massiv angegriffen, sogar von einem Fachkollegen, der in den Achtzigern denselben theologischen Ansatz vertrat. Nur hatte der nach eigener Auskunft bemerkt, daß der Gegenwind mittlerweile nicht mehr nur aus Rom kommt, sondern aus der Breite der nachchristlichen Gesellschaft, was ihn doch sehr zum Nachdenken gebracht hat, ob er sich nicht vielleicht schon damals geirrt habe.

Als dann am Ende noch eine Professorin aufstand und die Auffassung vertrat, wenn die Theologie wieder relevant werden wolle, müsse sie ihren Gegenstand auch im Gegenüber zur Gesellschaft bestimmen, es sei doch nicht zufällig sondern konstitutiv, daß außer in unseren Breiten fast überall das Bekenntnis zum Christentum lebensgefährlich sei, dachte ich mir: Mensch, es geht aufwärts!

Vielleicht ist die Theologie gerade dabei, sich doch noch erfolgreich für die Postmoderne aufzustellen.

Immer wieder stoße ich an „Knotenpunkten“ der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts auf den Hinweis: anthropozentrische Wende, personales Denken. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr verdichtet sich der Eindruck, daß genau diese beiden Begriffe zugleich die innere Grenze des durch sie bestimmten theologischen Denkens – und das Problem unserer heutigen Kirche beschreiben.

Denn diese Personalität konstituierte sich in der Beziehung – zu anderen Personen, das heißt: vor allem zu anderen Menschen und damit im Dialog auf gleicher Augenhöhe. Die Übertragung dieses Konzepts auf die Gottesbeziehung liegt natürlich nahe, zerstört aber den unendlichen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Auch wenn diese Konsequenz nicht unabwendbar war (also den entsprechenden Theologen keineswegs Böswilligkeit unterstellt werden soll), führte das Zusammenspiel mit anderen theologischen Tendenzen de facto doch zu einer Entgöttlichung Gottes.

Dann ist natürlich das persönliche Lebensziel, ich sag’s mal salopp: in den Himmel zu kommen, als Heilsindividualismus zu verurteilen. Denn Heil, personal gedacht, ereignet sich als vollendetes Mensch-, das heißt: Personsein, und damit nur innerweltlich, zwischenmenschlich und damit gesellschaftlich durch Dialog und Caritas. Folglich ist auch jegliches kontemplatives Leben „heilsindividualistisch“ und abzulehnen.

Schließlich ist Wahrheit dann auch nicht mehr objektiv in der von Gott gegründeten Naturordnung zu finden – die Natur hat ja im Personalismus überhaupt keinen Ort mehr! – sondern eben im zwischenmenschlichen Austausch, dem Dialog, der selbst (und damit auch seine Regeln) plötzlich als das eigentlich Heilige erscheint.

Drastisch ausgedrückt handelt es sich dabei aber um nichts anderes als eine Vergötzung, eine Verabsolutierung von etwas Geschaffenen, einen Tanz um das Goldene Kalb – um Glaubensabfall.