Gericht

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Dieser Post liegt schon seit über drei Jahren im Entwurfsordner. Am Anfang sollte es eine komplette Papst-Predigten-und-Ansprachen-Reihe werden. Irgendwann fehlte mir erst die Zeit, dann geriet das Projekt in Vergessenheit. Als ich wieder drüber stolperte, hatte sich meine Situation so weit verändert, daß ich mir nicht mehr sicher war, den Post noch so verantworten zu können. Tatsächlich würde ich ihn heute nicht mehr so schreiben. In der Sache hat sich meine Auffassung nicht geändert. Nur ist es nicht mehr so existentiell.

Mit der Papstpredigt im Olympiastadion (Video, Predigt ab 48:30) bin ich persönlich sehr verbunden. Es waren genau die richtigen Worte zur richtigen Zeit, die Antwort auf eine zuvor meditierte Frage.

Ich habe die Kirche immer geliebt. Auch jahrelange „Indoktrination“ (durch wen kann ich gar nicht sagen) hat das nicht ändern können, mir aber doch ein schlechtes Gewissen gemacht: Wenn ich die Kirche liebe, bin ich dann ein schlechter Christ, weil ich Christus nicht liebe? Ja, dieser Gedanke ist so bekloppt, wie er aussieht, aber das hat mich lange beschäftigt. Erst als ein Professor (noch dazu ein Freiburger!) die alte Tradition zitierte, daß man die Kirche nicht lieben könne, ohne Christus zu lieben, daß also die Liebe zur Kirche Liebe zu Christus ist, löste sich diese Hemmung auf. Ha, ich darf also nicht nur die Kirche lieben, wenn ich Christus lieben (möchte), ich muß es sogar.

Doch bald darauf hatte ich das nächste Problem: Wenn ich die Kirche lieben muß, wenn und weil ich Christus liebe – woher kommt dann all das abfällige Gerede über die Kirche in der Kirche?! Nie hatte ich ein Problem mit Kirchenkritik von außen, aber die (destruktive[1]) Kritik an der Kirche von innen, die Häme, teilweise der Haß gegenüber ihren Repräsentanten sogar durch einfache Gläubige, die innere Zerstrittenheit der Hierarchie selbst, all das habe ich nie begreifen können.

Ok, ich muß einräumen, daß ich das Glück hatte, nur periphär und erst spät mit solchen Erfahrungen konfrontiert zu werden, obgleich meine Heimatpfarrei auch nicht immer ein Herz und eine Seele war – aber Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. 🙂 So bin ich auch nie mit der inneren Logik dieser Kirchenkritik konfrontiert worden und habe sie auf Unverständnis und mangelndes Glaubenswissen zurückgeführt. Also: Wenn man den ganzen Kritikern mal in Ruhe alles erklären würde, könnten sie gar nicht anders, als die Kirche ebenfalls zu lieben und konstruktiv zu kritisieren. (Daß es unter den destruktiven Kritikern auch Theologieprofessoren gab, habe ich geflissentlich ausgeblendet.) Jedenfalls wollte ich nie einem Katholiken in seiner Kirchenkritik einen bösen Willen unterstellen. Gerade aus Liebe zur Kirche kann ich das doch eigentlich auch gar nicht. Auch der destruktive Kritiker ist doch als getaufter Katholik Teil der Kirche und damit des Leibes Christi. Ich verstehe zwar nicht, wie er tickt, aber daß er aus seiner Lebensgeschichte heraus konsequent und im Glauben so tickt, habe ich immer vorausgesetzt.

Mir ist zwar über die Jahre immer deutlicher geworden, daß gerade das Verständnis der Kirche als Leib Christi praktisch verdunstet ist, daß das Glaubenswissen nicht nur im Argen liegt, sondern vielfach bei Null. Aber eine Möglichkeit habe ich nie in Betracht gezogen: Daß sogar die Mehrheit der aktiven Katholiken in Deutschland leben könnte, als ob sie nicht glaubte, daß tatsächlich ein Großteil der Kirche de facto vom Glauben abgefallen ist. Bis ich einen längeren Blick in den Maschinenraum der deutschen Kirche werfen konnte. Da kamen mir dann langsam Zweifel an meinem Optimismus. Klar, man kann nie wirklich beurteilen, ob und was der andere glaubt (auch sehr überraschende Zeugnisse habe ich schon erlebt, die mir meinen eigenen Hochmut vor Augen geführt haben). Aber von einem Gedanken mußte ich mich langsam aber sicher verabschieden: Daß es reicht, einfach mal alles ordentlich zu erklären. Viel zu viele sind dermaßen in einer gut geölten Maschinerie aktiv, daß sie gar nicht merken, daß die Maschine gleichermaßen heiß wie leer läuft. Sie machen tolle Aktionen, sind in der Gesellschaft präsent – bringen aber Christus nicht nur nicht zu den Menschen, sondern sind auf dieser Ebene sogar gar nicht ansprechbar. Da redet man einfach an ihnen vorbei. Sie verstehen einen überhaupt nicht. So wird das nichts mit der missionarischen Kirche. Es gibt keine Kommunikationsmöglichkeit. Über die praktische Umsetzung unseres Glaubens. Es fehlt die gemeinsame Grundlage. Und was kann die gemeinsame Grundlage sein, wenn nicht Christus?! Also fehlt ihnen Christus?

Μὴ γένοιτο! Das sei ferne! Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Und natürlich, ich habe auch andere Menschen im kirchlichen Dienst erlebt, die sich wirklich gemüht haben, Christus zu verkündigen und dabei sogar ähnliche Aktionen gemacht haben, wie diejenigen, die auf dieser Ebene überhaupt nicht ansprechbar waren. Es kommt nicht darauf an, was jemand macht, sondern auf welcher Grundlage er es tut. Aber es waren nur ein paar wenige. Und so nagte der Verdacht weiter in mir.

Tja, und dann kam der Papst. Ich hatte schon wieder etwas Abstand zu meinen irritierenden Erfahrungen und kam bei der Reflexion über sie immer wieder zu dem Punkt: Kann es denn sein, daß ein Großteil der Kirche in Deutschland vom Glauben abgefallen ist? So auch am Abend des 22. September 2011. Während der Papst in Berlin predigte, stand ich unter der Dusche und meditierte dabei (auch unter dem Eindruck der absolut schäbigen Begrüßung des Papstes durch unseren damaligen Bundes-Wulff) diese Frage, brachte sie im Gebet vor Gott. Aber den Eindruck, der sich in mir immer mehr verstärkte, wollte ich immer noch nicht wahrhaben. Ich habe kein Problem, mit apokalyptischen Höllenpredigten und der massa damnata zu provozieren, aber doch immer nur, um aufzurütteln, um die Gefahr vor Augen zu führen, aber ihr Eintreten letztlich zu verhindern. Daß das tatsächlich das Ende einer großen Zahl von Menschen sei, vielleicht sogar der größten Zahl der Menschen und gerade meiner Zeitgenossen, noch dazu solcher, die neben mir in der Kirchenbank gesessen haben? Ich will das nicht, aber ich kann es nicht verhindern, wenn es so sein sollte, also darf es so nicht sein!

Das waren also die Voraussetzungen, unter denen ich dann unmittelbar nach dem Duschen die Aufzeichnung der Predigt aus dem Olympiastadion gehört habe. Und sie traf mich wie ein gut plazierter rechter Haken. Mit der grandiosen Vorlage des wahren Weinstocks (Joh 15,1-8) predigte der Papst genau die Kirche als Leib Christi:

Und dieses Zueinander- und Zu-Ihm-Gehören ist nicht irgendein ideales, gedachtes, symbolisches Verhältnis, sondern – fast möchte ich sagen – ein biologisches, ein lebensvolles Zu-Jesus-Christus-Gehören. Das ist die Kirche, diese Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und füreinander, die durch die Taufe begründet und in der Eucharistie von Mal zu Mal vertieft und verlebendigt wird. „Ich bin der wahre Weinstock“, das heißt doch eigentlich: „Ich bin ihr und ihr seid ich“ – eine unerhörte Identifikation des Herrn mit uns, mit seiner Kirche.

Das Gleichnis vom Weinstock bleibt aber nicht dabei stehen, diese Identifikation einfach freudig zu verkünden, sondern seine eigentliche Spitze hat es in der Verwandlung der Rebe durch den Winzer, der den Weinstock pflegt und hegt, „die dürren Reben abschneidet und die fruchttragenden reinigt, damit sie mehr Frucht bringen“. Der Papst fährt fort mit einem anderen, der Realität noch näheren Bild des Propheten Ezechiel (für mich eines der schönste Bücher des Alten Testamentes): „Gott will […] das tote, steinerne Herz aus unserer Brust nehmen, und uns ein lebendiges Herz aus Fleisch geben (vgl. Ez 36,26), ein Herz der Liebe, der Güte und des Friedens. Er will uns neues, kraftvolles Leben schenken.“ Und diese Dynamik wird vermittelt durch die Kirche, die der Leib Christi ist und Gottes Heilswerkzeug für die Menschen, die Sünder, „um uns den Weg der Umkehr, der Heilung und des Lebens zu eröffnen“. Was für eine froh machende Botschaft diese Reinigung doch ist!

Doch dann kam der Abschnitt, der mich tatsächlich „ausknockte“. Der Papst selbst spielt auf die Zustände in der deutschen Kirche an, die ziemlich genau meine Erfahrungen im „Maschinenraum“ trafen:

Manche bleiben mit ihrem Blick auf die Kirche an ihrer äußeren Gestalt hängen. Dann erscheint die Kirche nurmehr als eine der vielen Organisationen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, nach deren Maßstäben und Gesetzen dann auch die so sperrige Größe „Kirche“ zu beurteilen und zu behandeln ist. Wenn dann auch noch die leidvollle Erfahrung dazukommt, daß es in der Kirche gute und schlechte Früchte, Weizen und Unkraut gibt, und der Blick auf das Negative fixiert bleibt, dann erschließt sich das große und schöne Mysterium der Kirche nicht mehr.

Dann kommt auch keine Freude mehr auf über die Zugehörigkeit zu diesem Weinstock „Kirche“. Es verbreiten sich Unzufriedenheit und Mißvergnügen, wenn man die eigenen oberflächlichen und fehlerhaften Vorstellungen von „Kirche“, die eigenen „Kirchenträume“ nicht verwirklicht sieht! Da verstummt dann auch das frohe „Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad‘ in seine Kirch‘ berufen hat“, das Generationen von Katholiken mit Überzeugung gesungen haben.

Dieser kurze Absatz traf und deutete die „Maschinenraum“-Erfahrungen dermaßen deutlich und stimmig, daß mir seit diesem Moment völlig klar ist: Es ist nicht nur möglich, es ist sogar der Fall, daß ein großer Teil der deutschen Kirche vom Glauben abgefallen ist. Und daß ausgerechnet diese für jeden, der Christus anhängen will, wirklich frohe Botschaft, dieser kurze Abschnitt über die Reinigung der Reben als „Drohbotschaft“ die öffentliche Wahrnehmung der Predigt bestimmte, sagt doch eigentlich schon alles. Damit ergab sich eigentlich auch gleich noch, daß es keine Rückkehr in den „Maschinenraum“ geben kann, daß der Eindruck in ebenjenem „neutralisiert“, wirkungslos zu sein, weil bereits die Grundlage dessen, was ich dort erreichen wollte, nicht gegeben ist und die entsprechenden Anstrengungen, sie zu schaffen, mich nur zeitlich davon abhalten, tatsächlich missionarisch tätig zu sein, nicht aus der Luft gegriffen war. Und wer die Hand an den Pflug legt und noch einmal zurückschaut, ist des Himmelreiches nicht würdig…

Wo ich die Predigt gerade noch einmal lese, fällt mir auf, wie deutlich der Papst auch im Folgenden immer und immer wieder nichts anderes tut als seine Zuhörer zur Umkehr aufzurufen. Mit frohen und ermutigenden Worten, aber nichtsdestoweniger deutlich: Immer und immer wieder steht Christus als Wurzelgrund im Mittelpunkt, fordert der Papst uns auf, in Christus zu bleiben, der uns im Umkehrschluß eine Bleibe in schwieriger, geradezu dunkler Zeit schenkt, „einen Ort des Lichtes, der Hoffnung und der Zuversicht, der Ruhe und der Geborgenheit. Wo den Rebzweigen Dürre und Tod drohen, da ist in Christus Zukunft, Leben und Freude.“ In Christus zu bleiben, und das ist der nächste Hieb auf die deutsch-katholische Kirche, bedeutet, in der Kirche zu bleiben: „Wir glauben nicht allein, wir glauben mit der ganzen Kirche aller Orten und Zeiten, mit der Kirche im Himmel und auf der Erde.“ Boah, da kann ich mich als „Vincentius Lerinensis“ nur persönlich angesprochen fühlen. Und als ob das nicht schon reichte, legt er einen halben Absatz später noch einmal nach, so daß ich mich auch als Sebastian Berndt durch diese Predigt nur persönlich und gerade in der ganzen Komplexität der oben dargelegten Fragestellung angesprochen fühlen kann:

Daher konnte Augustinus sagen: „In dem Maß, wie einer die Kirche liebt, hat er den Heiligen Geist“ (In Ioan. Ev. tract. 32,8 [PL 35,1646]).

Und so maße ich mir an, den folgenden Abschnitt:

Wer an Christus glaubt, hat Zukunft. Denn Gott will nicht das Dürre, das Tote, das Gemachte, das am Ende weggeworfen wird, sondern das Fruchtbare und das Lebendige, das Leben in Fülle, und Er gibt uns Leben in Fülle.

umzukehren: Wer nicht von Christus her lebt und durch alles, was er tut, Seine Liebe zu den Menschen zu verkünden versucht, hat keine Zukunft.

Laßt die Toten ihre Toten begraben.


=====
[1] Es gibt natürlich auch eine legitime Kirchenkritik, die sich gerade aus der Liebe zur Kirche speist. Aber die ist nicht destruktiv, nicht Rechte von anderen einfordernd, sondern konstruktiv und fängt beim Kritiker selbst an. Sie ist eine Kritik in Demut, die sich vom Kern des Glaubens, von Christus her versteht, und nicht aus Hochmut. (hoch)

Diesen Post schreibe ich quasi „zwischen den Jahren“. Mit der Non des Samstags der 34. Woche endet liturgisch das alte Kirchenjahr, mit der ersten Vesper des ersten Adventssonntags beginnt das neue.

Jetzt wird alles anders: Liturgische Farbe ist jetzt violett statt grün; ensprechend steht das grüne Stundebuch schon wieder im Regal, und das blaue liegt schon bereit und ist „bebändelt“; an den Sonntagen werden wir jetzt aus dem Lukas- statt dem Markusevangelium hören, und auch an den Werktagen ändert sich das Lesejahr (1 statt 2).

Andererseits bleibt fürs erste alles beim Alten. Wie an Christkönig und den vorangegangenen Wochen dreht sich alles um die Wiederkunft. Hieß es am letzten Sonntag in der zweiten Lesung:

Siehe, Er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird Ihn sehen, auch alle, die Ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Werde werden seinetwegen jammern und klagen. (Offb 1,7)

lautet die (zumindest in den hiesigen Landen auf Latein wohl bekanntere) Antiphon aus der heutigen Vesper:

Seht, der Herr wird kommen und alle seine Heiligen mit ihm. An jenem Tag leuchtet ein helles Licht. Halleluja. (Ecce Dominus veniet et omnes sancti eius cum eo: et erit in die illa lux magna. Halleluja. [vgl. GL-BBK 800, GL-BA 804])

Irgendwie gehen also die Kirchenjahre ineinander über. In der ersten Lesung vom ersten Adventssonntag ist schon vom Sproß Isais die Rede, die zweite und das Evangelium hingegen fokussieren den zweiten Advent, die Wiederkunft Christi. Die Adventszeit allein auf den ersten Advent, auf die Menschwerdung, zu beziehen, ist also zumindest einseitig. Erst ab dem zweiten (im gerade vergangenen Lesejahr sogar erst ab dem dritten) Adventssonntag konzentriert sich die Liturgie voll und ganz auf die Menschwerdung, und dann zunächst ausgerechnet mit Johannes dem Täufer und seiner Gerichtspredigt.

So ist von der heutigen Non zur heutigen Vesper quasi ansatzlos alles anders und bleibt doch beim Alten. Das alte Jahr hat keinen klaren Endpunkt, aber es wird auch nicht wie in einem Fade Out immer leiser, sondern es nimmt sich nicht zurück, bis der Advent ein neues Motiv einbringt, das in der äußeren Wahrnehmung alles „niederwalzt“, obwohl das Thema dasselbe bleibt.

Dieses Ineinanderverwobensein der Kirchenjahre sowie dem ersten und dem zweiten Advent dient nicht nur einem „weicheren“ Übergang (den ja eh kaum einer wahrnimmt) oder einer pädagogischen Absicht („vergeßt nicht vor lauter süßlicher Weihnachtszeit, daß das kleine Kind in der Krippe der Weltenschöpfer und -richter ist, der widerkommt“), sondern es hat einen tiefen geistlichen Sinn.

Wie für das Ineinander von präsentischer und futurischer Eschatologie im Johannesevangelium liegt des Rätsels Lösung in der Erkenntnis, daß das Gericht am Ende der Zeiten kein anderes ist als das Kreuz Christi, das für die einen zum verdammenden Urteil, für die anderen zum Heil wird.

Wer sich im Glauben unter das Kreuz stellt, wird daher tatsächlich nicht gerichtet werden, denn für ihn wird das Kreuz, das seine bösen Anteile und Werke richtet, zum Heil, indem es ihn von ihnen befreit. Er darf durch das Kreuz ganz der werden, der er von Gott her sein sollte. So kann er die Wiederkunft in der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes und Seines Neuen Jerusalems freudig erwarten. Wer aber das Kreuz trotz Wissen um seine Bedeutung ablehnt, verurteilt sich selbst, er ist damit bereits gerichtet. Das Urteil wurde bereits während des ersten Advent, in der ersten Ankunft gesprochen.

So mag es zwar kontraintuitiv sein, daß im Advent mehr von Gericht und Unheil die Rede ist als zum Ende des Kirchenjahres, in dem die Herrlichkeit des neuen Jerusalems im Vordergrund steht, aber genau dieses Ineinanderübergehen der Kirchenjahre bringt eine tiefe geistliche Wahrheit zum Ausdruck.

Das Stundengebet ist ein Gebet der Kirche mit und/oder zu Christus. Am heutigen Freitag findet sich ein Psalm in der Lesehore, der das besonders deutlich macht, was mit dem „mit“ gemeint ist, Psalm 35.

1 Streite, Herr, gegen alle, die gegen mich streiten, bekämpfe alle, die mich bekämpfen!
2 Ergreife Schild und Waffen; steh auf, um mir zu helfen!
3 Schwing den Speer und die Lanze gegen meine Verfolger! Sag zu mir: «Ich bin deine Hilfe.»
4 In Schmach und Schande sollen alle fallen, die mir nach dem Leben trachten. Zurückweichen sollen sie und vor Scham erröten, die auf mein Unglück sinnen.
5 Sie sollen werden wie Spreu vor dem Wind; der Engel des Herrn stoße sie fort.
6 Ihr Weg soll finster und schlüpfrig sein; der Engel des Herrn verfolge sie.
7 Denn sie haben mir ohne Grund ein Netz gelegt, mir ohne Grund eine Grube gegraben.
8 Unvermutet ereile ihn das Verderben; er fange sich selbst in seinem Netz, er falle in die eigene Grube.
9 Meine Seele aber wird jubeln über den Herrn und sich über seine Hilfe freuen.
10 Mit Leib und Seele will ich sagen: Herr, wer ist wie du? Du entreißt den Schwachen dem, der stärker ist, den Schwachen und Armen dem, der ihn ausraubt.
11 Da treten ruchlose Zeugen auf. Man wirft mir Dinge vor, von denen ich nichts weiß.
12 Sie vergelten mir Gutes mit Bösem; ich bin verlassen und einsam.
13 Ich aber zog ein Bußkleid an, als sie erkrankten, und quälte mich ab mit Fasten. Nun kehre mein Gebet zurück in meine Brust.
14 Als wäre es ein Freund oder ein Bruder, so ging ich betrübt umher, wie man Leid trägt um die Mutter, trauernd und tief gebeugt.
15 Doch als ich stürzte, lachten sie und taten sich zusammen. Sie taten sich gegen mich zusammen wie Fremde, die ich nicht kenne. Sie hören nicht auf, mich zu schmähen;
16 sie verhöhnen und verspotten mich, knirschen gegen mich mit den Zähnen.
17 Herr, wie lange noch wirst du das ansehn? Rette mein Leben vor den wilden Tieren, mein einziges Gut vor den Löwen!
18 Ich will dir danken in großer Gemeinde, vor zahlreichem Volk dich preisen.
19 Über mich sollen die sich nicht freuen, die mich ohne Grund befeinden. Sie sollen nicht mit den Augen zwinkern, die mich grundlos hassen.
20 Denn was sie reden, dient nicht dem Frieden; gegen die Stillen im Land ersinnen sie listige Pläne.
21 Sie reißen den Mund gegen mich auf und sagen: «Dir geschieht recht. Jetzt sehen wir’s mit eigenen Augen.»
22 Du hast es gesehen, Herr. So schweig doch nicht! Herr, bleib mir nicht fern!
23 Wach auf, tritt ein für mein Recht, verteidige mich, mein Gott und mein Herr!
24 Verschaff mir Recht nach deiner Gerechtigkeit, Herr, mein Gott! Sie sollen sich über mich nicht freuen.
25 Lass sie nicht denken: «Recht so! Das freut uns.» Sie sollen nicht sagen: «Wir haben ihn verschlungen.»
26 In Schmach und Schande sollen alle fallen, die sich über mein Unglück freuen, in Schimpf und Schande sich kleiden, die gegen mich prahlen.
27 Alle sollen sich freuen und jubeln, die wünschen, dass ich im Recht bin. Sie sollen jederzeit sagen: «Groß ist der Herr, er will das Heil seines Knechtes.»
28 Meine Zunge soll deine Gerechtigkeit verkünden, dein Lob alle Tage.

Als Meditationshilfe steht darüber noch: „Sie versammelten sich … und beschlossen, Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen und ihn zu töten. (Mt 26,3-4)“ Ein sehr passender Psalm für einen Freitag, noch dazu, wo das heutige Tagesevangelium das von der Tempelreinigung (Lk 19, 45-48) ist, in dem es heißt: „Die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die übrigen Führer des Volkes aber suchten ihn umzubringen.“ (Ich liebe die Liturgie für solche Bezüge, noch dazu, wenn sie wie heute eher zufällig sind.) Von dort und mithin vom Karfreitag aus betrachtet, eröffnet sich auf diesen Psalm tatsächlich eine neue, tiefere Perspektive, die ihn als Prophetie erschließt.

So handelt der Psalm nicht allgemein von einem unschuldig Verfolgten, der bei Gott um Hilfe ruft, sondern von dem einen, dem eigentlichen unschuldig Verfolgten, der bei Gott Hilfe findet, weil Er Sein Sohn ist. Daher auch die feste Zuversicht, daß Seine Seele über den Herrn jubeln und sich über Seine Hilfe freuen wird.

Diese Zuversicht steht über dem ganzen Psalm (wenn auch nach der ersten Gerichtsandrohung), noch bevor mehr von den Gegnern die Rede ist, die falsche Zeugen aufbieten und das Gute, das Jesus getan hat, damit vergelten wollen, daß sie Ihn ans Kreuz bringen wollen. Und auch bevor zur Sprache kommt, daß alle Jünger Ihn verlassen haben.

Er wird vor Gericht gebracht, obwohl Er gekommen ist, um zu retten, was verloren ist. Christus erniedrigte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich („Bußgewand“), um uns Kranke zu heilen. Er wurde wirklich Mensch und damit unser Bruder. Er, der doch zugleich unser Herr ist, nennt uns nicht mehr Knechte, sondern Freunde!

Doch noch auf dem Weg nach Golgota, noch am Kreuz wird er verhöhnt. Doch das Böse wird nicht triumphieren. Das Kreuz ist das Gericht über das und den Böse(n). Die Seite, von der ich das Kreuz betrachte, entscheidet darüber, ob es für mich zum Gericht oder zur Rettung wird. Denn groß ist der Herr: Er will das Heil Seines Knechtes und aller Seiner Knechte durch Ihn. Deshalb ist dieser Psalm wahrlich ein Lobpsalm, obwohl er von der dunkelsten Stunde der Heilsgeschichte handelt.

(Die schwarz geschriebenen Verse und Versteile sind in der Liturgie übrigens weggelassen, obwohl nicht einmal alle Stellen als „Fluchpsalmen“ durchgehen. Wahrscheinlich hat man die fraglichen Verse aber auch nicht weggelassen, um den Gerichtscharakter des Kreuzes zu verschleiern, sondern damit diese Verse nicht falsch verstanden auf das jüdische Volk angewandt werden. Gegen das Anliegen an sich kann man nichts sagen, dafür aber einfach mal die Schrift umzuschreiben… Schade.)

Gian Lorenzo Bernini: Christi Blut, im Palazzo Chigi in Ariccia  (nach Angaben von heiligenlexikon.de gemeinfrei)

Gian Lorenzo Bernini: Christi Blut, im Palazzo Chigi in Ariccia (gemeinfrei)

Dieses Bild, auf das ich Dank Johannes gestoßen bin, erinnerte mich daran, daß ich da noch was in der geistigen Pipeline hatte. Um meinen Status als Bekloppter in Christentum und Metal zu verteidigen.

Das Lied ist zunächst einmal musikalisch grandios. Die Riffs nachzuspielen (soweit sie nicht völlig ins Chaotische abgleiten) ist eine wahre Freude, weil sie als (mehr oder weniger) chromatische ebenso leicht zu spielen wie von der Wirkung her überwältigend sind (meine Frau kann bestimmt ein Lied davon singen – haha, Wortspiel!). Alleine die halbe Minute nach dem Breakdown ab ca. 2:10 ist der Hammer (ultimativer Moshpart, in der Studioversion noch krasser – Gänsehaut [auf Youtube aber in grottiger Tonqualität, also kauft Euch das Album :-)])!

Aber auch textlich hat das Lied es durchaus in sich. Ok, meine Interpretation entspricht vielleicht nicht ganz der Intention des Autors. Aber das ist bei (guten) Metal-Texten eigentlich immer so, daß die Interpretation mehr über den Ausleger als das Ausgelegte aussagt. Die abschließende Interpretation gibt es nicht.

Trapped in purgatory
A lifeless object alive
Awaiting reprisal
Death will be their acquisition
Gefangen im Fegefeuer
Ein lebloses Objekt lebt
Erwartet Vergeltung
Tod wird ihr Gewinn sein
The sky is turning red
Return to power draws near
Fall into me, the sky’s crimson tears
Abolish the rules made of stone
Der Himmel wird rot
Die Rückkehr zur Macht ist nahe
Fallt in mich, des Himmels purpurne Tränen
Verwerft die steinernen Regeln
Pierced from below, souls of my treacherous past
Betrayed by many, now ornaments dripping above
Durchbohrt von unten, Seelen meiner verräterischen Vergangenheit
Betrogen von vielen, nun trieft oben Schmuck
 
Awaiting the hour of reprisal
Your time slips away
Erwartend die Stunde der Vergeltung
Deine Zeit entschlüpft Dir
Raining blood
From a lacerated sky
Bleeding its horror
Creating my structure
Now I shall reign in blood
Es regnet Blut
Von einem zerrissenen Himmel
Blutet seine Greuel aus
Erschafft meinen Körperbau
Nun werde ich herrschen in Blut

Der Text fängt ja, wenn man die Intention des Texters voraussetzt, schon mit einem schweren Fehler an. Wenn es um jemanden ginge, der aus dem Himmel verstoßen wurde, ist er nicht im Fegefeuer, sondern in der Hölle zu suchen. Und im Fegefeuer ist man nicht gefangen, es hat einen Ausgang, und nur einen Ausgang, nämlich in Richtung Himmel. Nur in einer Konstellation kann man überhaupt (wenngleich anachronistisch) von „gefangen im Fegefeuer“ reden: die Gerechten des Alten Bundes bevor sie von Christus auf Seiner Höllenfahrt befreit wurden.

Damit ist schonmal die zeitliche Einordnung klar: Vor Jesu Auferstehung. Und von dort ausgehend beginnt der Rest einen gänzlich anderen Sinn zu bekommen. Ich würde, bekloppt wie ich bin, in diesem Song eine Beschreibung der Höllenfahrt Jesu sehen wollen. Entsprechend weist der Eingangsriff nach unten. Zwar beginnt es mit einem hinaufweisenden Dreiklang, aber die eigentliche Dynamik des Riffs ergibt sich aus dem Folgenden, wodurch der Anfangsdreiklang als Auftakt erkennbar wird. Das eigentliche Riff geht in Quartparallelen chromatisch abwärts: b-f-a-e-as-es-g (oder so ähnlich, die scheinen das öfter mal in Verschiedenen Tonarten resp. Gitarrenstimmungen zu spielen). Das folgende Thrash-Geballere bleibt zunächst statisch, nur in jedem vierten Takt mit einem kleinen Hinweis auf den folgenden Aufstieg, geht dann aber in Chaos über. Aufbegehren der niederhöllischen Herrscher, die bemerken, daß sie sich haben in die Falle locken lassen? Zum Gesang aber wieder ein Riff, der eher nach oben weist.

Jesus ist tot, aber dennoch lebendig. Er vergilt den Mächten des Bösen, was sie Ihm angetan haben, indem Er ihnen die Toten entreißt. In Christi Tod erfolgt ihre Erwerbung, werden sie für den Himmel gewonnen. Durch das Kreuz können die Menschen in Christus das Leben erwerben, gewinnen „acquirieren“. Und zwar gerade durch Christi Tod, der das steinerne Gesetz überwindet, das nach Paulus nur die Macht der Sünde offenbaren, aber nicht von ihr befreien kann und infolgedessen zum Tod führt. Der Himmel wird rot von Seinem Blut, durch das Er die Herrschaft über die Welt zurückgewinnt. Und insofern heißt „fallt in mich, des Himmels purpurne Tränen“ nichts anderes als „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“.

Bei ca. 1:30 folgt der nächste Riffwechsel. In das straighte Thrash-Geballere schleichen sich jetzt Melodie und gewisse Filigranität (also so vergleichsweise) ein. So weist der Riff auch mehr Klarheit und Struktur auf. Interessanterweise ist der Riff zweigeteilt. Zu Beginn weist er nach oben, indem der zweite Takt den ersten zwar imitiert, dann aber auf höherem Tonniveau endet. Der sich gleich anschließende zweite Teil bleibt zunächst etwas tiefer, aber statisch, rutscht dann aber bis nach unten zum Ausgangspunkt ab. Für mich ein Hinweis auf eine Erhöhung, die nach unten weist, und damit Szenenwechsel nach Golgotha: Er wird durchbohrt von unten. Wegen unserer Verbrechen. Wir, die Seelen Seiner verräterischen Vergangenheit. Von vielen verraten – wen kümmerte Sein Geschick? -trug Er die Sünden von vielen. Er wird geschmückt mit Seinem Anteil an der Beute, die von Seinem Blute trieft. Es sind die Befreiten, die Christen, die Kirche.

Erneuter Wechsel bei ca. 1:50. Der Anfangsriff wird wieder aufgegriffen, zurück in die Jetztzeit, Höllenfahrt: Die erwartete Vergeltung ist jetzt. Das Kreuz ist Gericht über die Welt, deren Zeit abläuft. Die Zeit tickt im gut halbminütigen Breakdown, verbunden mit dem himmlischsten Riff der Metalgeschichte, der übrigens eine ganz spannende Variation des Eingangsriffs ist. Es geht nicht einfach chromatisch abwärts, sondern immer wieder vom Grundton aufwärts, wenn auch immer eine kleine Sekunde weniger weit hoch; der Riff entwickelt sich also so deutlich wie im ganzen Lied noch nicht nach oben, obwohl er vom Grundprinzip immer noch nach unten zeigt. Warten auf die Auferstehung.

Jetzt ist die Zeit abgelaufen. Der Heiland reißt den Himmel auf, damit Sein Blut auf die Welt regnet und Seinen Leib erschafft, der die Kirche ist. Es ist Gericht, der Himmel blutet seine Greuel aus, verliert seinen Schrecken, der in seiner Unerreichbarkeit bestand, die durch das genugtuende Opfer überwunden wird. Normals Thrash-Geballere während des Gesangs. Das dann aber in erhebendes (und wohlgemerkt sturkturiertes!) Chaos übergeht, das sich immer weiter nach oben entwickelt und in einer metaluntypischen Rückkopplungsorgie noch metaluntypischer ohne klaren Schlußpunkt ausklingt. Musikalischer Ausdruck von Ewigkeit. Die Welt ist gerichtet. Er herrscht jetzt in Ewigkeit über die Welt in Seinem Blut.

Ich bin ein komischer Typ, ich weiß.

Das Schlimmste am Bösen ist seine völlige Sinnlosigkeit.

Der Geiselnehmer, Mörder und Selbstmörder von Karlsruhe wollte die Zwangsräumung der Wohnung seiner Lebensgefährtin verhindern. Ein grundsätzlich erst mal nachvollziehbares Motiv, das seinen Sinn aber gerade daraus bezieht, daß die Lebensgefährtin weiter in der Wohnung leben kann. Jetzt ist sie tot. Weil ihr Lebensgefährte ihr die Wohnung erhalten wollte. Weil er sie getötet hat. Und den neuen Wohnungseigentümer. Und den Gerichtsvollzieher und einen Schlüsseldienstmitarbeiter. Und sich selbst. Vom Leid der Hinterbliebenen, den Frauen, den Kindern, eines noch ungeboren, ganz zu schweigen.

Die Geiselnahme war von Anfang an ein untaugliches Mittel, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Das hätte der Geiselnehmer nicht nur wissen können, er hätte es wissen müssen. Doch wenn es ihm bewußt war, was bleibt dann als Motiv? Rache? An wem? Wofür? Jedenfalls muß ihm klar gewesen sein, daß er damit nicht durchkommt, nie durchkommen konnte. Daß es keinen Ausweg aus der Situation gibt. Außer die Schuld einzugestehen und sich dem Gericht auszuliefern. Oder sich dem irdischen Gericht zu entziehen. Und so alles noch schlimmer zu machen.

Fünf Tote. Wegen einer Wohnung. Und (vermutlich) einer insgesamt wenig befriedigenden Lebenssituation. Ein verzweifeltes Leben reißt vier andere mit in den Tod. Völlig sinnlos. Nichts erreicht. Außer Fassungslosigkeit. Und „15 minutes of fame“. Der Täter hat keinerlei Vorteil durch seine Tat. Im Gegenteil. Und er hätte es wissen müssen. Trotzdem hat er es getan.

Das Böse hat eine irritierende, rational nicht erklärbare Macht in der Welt. Eine Macht, die verführt, die täuscht, auch über sich selbst, der leicht zu widerstehen wäre, wenn man sie als das erkennte, was sie ist. Aber die Verführung, die Täuschung besteht darin, das böse Tun als etwas Gutes oder als zu etwas Gutem (und sei es nur der eigene Vorteil) Führenden erscheinen zu lassen. Obwohl das rational betrachtet überhaupt nicht nachvollziehbar ist.

Eine Macht, die als eigenständig handelnd, als planvoll vorgehend erscheint. Die mehr ist als die Macht der Sünde, als ein sich selbst verstärkender Mechanismus, der das (eigentliche) Gut nicht mehr erkennen läßt und alles dem Eigennutz unterordnet. Die in (scheinbarer) Freiheit den zerstört, der ihr in (scheinbarer?) Freiheit erliegt.

Der christliche Glaube versteht diese Machtt als personal und nennt sie den Verführer, den Verwirrer, den Durcheinanderwerfer, den Mörder von Anfang an, der eben gerade in seiner Freiheit seine Freiheit zugrundegerichtet hat. Der Glaube reißt dem Bösen die Masken herunter und nennt ihn das, was er ist.

Und zeigt den Ausweg auf, selbst in der extremsten Situation: Annahme der Schuld, Buße, Umkehr. Und Vertrauen auf die Liebe, Allmacht und Barmherzigkeit Gottes, die aus dem Zerstörten etwas Neues, sogar Besseres entstehen lassen kann. Vor allem aber das Schlimmste verhindert. Wenn man Ihn läßt.

Das ist im Kern nicht einmal eine andere Antwort als die reine Vernunft zu erkennen in der Lage ist. Aber die Menschheitsgeschichte zeigt immer wieder, daß der Mensch nicht rein vernünftig ist, geschweigedenn handelt.

Betet für die Opfer, auch die Hinterbliebenen! Und wer es kann, auch für den Täter.

Jetzt komme ich nach längerer Pause mal wieder dazu, einen Blick in Metalzeitschriften zu werfen. Da schlage ich also die Legacy #78 auf (ab morgen ist schon die nächste Ausgabe am Kiosk…). Wenig überraschend geht es in der Kreator-Titelstory mit Religionskritik los. Mille:

Grauenhaft, daß es im Jahr 2012 noch Religion gibt. …wenn gesagt wird: Du hast eine andere Religion, wir müssen jetzt gegeneinander Krieg führen. Ohne Religion wäre nicht alles besser, aber auch politisch auf einer anderen Funktionsebene, man könnte woanders ansetzen. Stattdessen rennt man weiter Hirngespinnsten hinterher, die gute Geschichten für Hollywood abgeben.

So weit, so gut, so mainstreamig. Aber es geht weiter, und für den Außenstehenden wohl durchaus überraschend:

Die Jesus-Geschichte ist großartig und eine wichtige Inspirationsquelle. Ich habe in der Bibel schon viele Textideen gefunden und mag auch die Metaphorik. Aber das Buch für bare Münze zu nehmen, danach zu leben und es als Anstoßr für Krieg, Mord und Totschlag zu nehmen, ist überholt. Der Untergang der Welt bedeutet für mich ein Umdenken: Das Denken, welches die jetzigen Probleme erzeugt, muß weg.

Für den Außenstehenden mag das vielleicht sogar wirr klingen. Einerseits findet er die Bibel total toll, andererseits lehnt er sie als Lebenshilfe völlig ab. Nicht sonderlich nachvollziehbar. Und dann interpretiert er die Apokalyptik auch noch genau so, wie sie die Apokalyptik selbst versteht, sieht darin aber einen Widerspruch zum christlichen Verständnis der biblischen Apokalyptik. Ein Wirrkopf? Ne, ganz im Gegenteil, wirr ist das, was er kritisiert. Und da bin ich ganz auf seiner Seite: Politischer Mißbrauch der Religion, der sie pervertiert. Schönen Gruß von Slayer. Dann hat er offenbar ein Problem mit einem einseitigen Biblizismus, der selbst die metaphernreiche Bildsprache der Apokalyptik als Drehbuch für den Weltuntergang mißversteht. Bin ich ebenfalls voll auf seiner Wellenlänge. Und daß das Denken, das die jetzigen Probleme erzeugt, weg muß, schreibe ich ja schon lange. Nur daß ich die Ursache nicht in der Religion an sich sehe, sondern in ihrer Perversion, während er die Perversion gerade nicht als Perversion, sondern als Normalzustand der Religion ansieht. Und wie sehr sich seine Interpretation von Religion (und Politik) von meiner unterscheidet, wird in der folgenden Passage deutlich, die wieder völlig wirr wirkt, wenn man die unterschiedliche Begriffsverwendung nicht berücksichtigt:

Es geht immer um Angst, auch bei den ganzen Antichristen, die in letzter Zeit von den Regierungen und Medien propagiert wurden. Wie Osama bin Laden. Wenn man ihn gefangen genommen und dazu befragt hätte, wie er den 11. September 2001 geplant hat, hätte man mehr Einblick in die Struktur des Terrorismus als solchen gehabt, als wenn man ihm einen Kopfschuß verpaßt und ihn aus angeblich religiösen Gründen im Meer versenkt. Obwohl es in der muslimischen Kultur meines Wissens nach keine Seebestattung gibt. Man fragt sich: Kannte man den Typen wirklich? Dadurch bin ich auf den Titel [Phantom Antichrist] gekommen, Religion benutzt Angst und Schrecken, um Menschen zu manipulieren, egal, in welche Richtung.

Wie gesagt, wenn man hier streng zwischen Religion an sich und Politik scheiden würde, dann ergäbe die ganze Passage keinen Sinn. Setzt man hingegen voraus, daß Religion nur der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen dient, mithin selbst Politik ist, ergibt die Passage plötzlich Sinn (auch wenn immer noch das „aus angeblich religiösen Gründen“ bleibt und die ganze Interpretation von Religion in Frage stellt, aber für Mille ergibt das so Sinn, und man kann ihn nachvollziehen, auch wenn man ihn nicht teilt.) Auch in weiteren Passagen wird der vorausgesetzte Biblizismus deutlich, etwa wenn da was von „man darf sich als Christ kein Bild von Gott machen“ (Hä? Schonmal ’n Kruzifix gesehen?) „aber die Ängste auf den Antichristen projizieren“ (Angst ist nicht sonderlich christlich) steht. Trotzdem hat Mille „Respekt vor Leuten, die glauben, und es soll jeder für sich damit glücklich werden, was er für richtig empfindet“ – naja, so kann man dann aber auch nicht mehr über richtig und falsch diskutieren. Und dann fängt er wieder übergangslos mit Politik und Machttechniken an:

Wer meint, an Gott oder Allah glauben zu müssen, soll das tun. Für micht ist das überholt, ebenso dieses Formen von Feindbildern. Wie heißt dieser Typ, der jetzt per Internet gejagt wird – Kony? Das war auch so aufgemacht, mit einem Vater, der seinem Sohn ständig Bilder von Kony zeigt. Das ist ein Werkzeug, welches von Christen oft genutzt wird, dieses Einteilen in Gut und Böse. Es gibt nichts dazwischen, alles ist nur schwarz oder weiß.

Also, wenn er das für Christentum hält, dann kann ich die Ablehnung durchaus verstehen. Was er beschreibt, lehne ich auch ab, und ich müßte schon einen sehr abstrusen Ausschnitt der Blogoezese konsumieren, wenn ich damit alleine dastehen sollte. Allerdings ist das Schwarz-Weiß-Denken keineswegs ein besonders auf Christen beschränktes Phänomen. Das können die Atheisten mindestens genauso gut.

Doch dann wird die Differenzierung plötzlich deutlicher, offenbar unterscheidet er zwischen Religion (und ihren Organisationsformen) und dem Glauben des einzelnen:

Da muß man ganz vorsichtig sein, denn der Glaube ist grundsätzlich nicht schlecht. Das Götzentum zerstört ihn. [Boah ey! Was würde ich dafür geben, diesen Satz aus einem Theologenmunde zu hören!] Ich glaube auch an die Kraft der Musik. Wenn man eine positive Grundeinstellung hat, kommt man viel weiter als mit einer negativen. Das würde den christlichen Glauben ausmachen, wenn er denn mal richtig gelbt würde. [Aber hallo! Wie wäre es denn mal mit einer Podiumsdiskussion: Papst und Mille gegen ZdK und Memorandisten?] Gerade der [vom Interviewer] angesprochene Text [„Your Heaven My Hell“] ist eine Fiktion, der eine Mißbrauchsthematuik zugrundeliegt.

Das einzige, was mir wirklich nicht in den Kopf will, steht ein paar Zeilen danach:

Am unglaubwürdigsten ist für mich die Androhung des jüngsten Gerichts. Wenn man dessen Grundlage als Hirngespinnst abtut, kann man diskutieren. Sonst dreht man sich im Kreis, wie seit Jahrhunderten.

Ok, ich verstehe, daß er Religion und Politik zumindest strukturell gleichsetzt und damit die Botschaft vom Jüngsten Gericht eine „Drohbotschaft“ ist, die Furcht und infolgedessen Gehorsam verbreiten soll. Daß er daher damit nicht viel anfangen kann, ok. Warum man aber dessen Grundlage, also den Gottesglauben, den Glauben an die Wiederkunft Christi und damit auch die Hoffnung auf das Jüngste Gericht gerade für die Opfer, gerade für die Mißbrauchten wie eben den Protagonisten von „Your Heaven My Hell“ aufgeben sollen muß, nur um überhaupt mit ihm diskutieren zu können, bleibt mir ein Rätsel. (Update: Ich beginne zu verstehen. Möglicherweise meint er: Solange der Gegenüber noch mit dem Jüngsten Gericht droht, kann er mich jederzeit aus der Diskussion kicken. Ok, könnte ich nachvollziehen. Den Eindruck bekommt man nämlich auch, wenn man sich in nicht nur rein apologetischer Absicht mit Satanismus beschäftigt, denn dann heißt es, man sei wohl schon selbst „okkult belastet“ und ist raus aus der Diskussion…)

Danach geht es zur Abwechslung mal um die Musik, erst am Ende kommt der Artikel auf Politik zurück. Nachdem Mille zu demokratischem Engagement, zu konstruktiver Mitarbeit, um etwas zu ändern, zur Teilnahme an Demonstrationen (Yo, mach ich: 22. September! Berlin!) aufgerufen hat, fragt der Interviewer danach, was er denn von Gaucks „Freiheitsjargon“ halten würde. Und nach nur wenigen Zeilen sind sie wieder bei Religion:

So gesehen müßte Mille der neue Bundespräsident Gauck mit seinem Freiheitsjargon gefallen. „Ich vertraue Politikern nicht unbedingt. Politiker muß es geben, aber ich habe noch keinen Supersympathen gefunden. Ich weiß, daß es Menschen sind und sie Fehler machen, das sind keine Supermenschen. Ihnen den Schlüssel zur Rettung zu übergeben, ist naiv.“ Jülle hat sein erstes Drumkit größtenteils durch sein Konfirmationsgeld finanziert. Milles Kooperation mit dem heutigen „Feind“ war sogar noch intensiver. „Ich war jahrelang Meßdiener, ich kenne den Quatsch. Religionskritik ist immer super einfach und sehr Metal, fast jeder Metaller kann sich damit identifizieren. Ich kenne diese Strukturen und weiß, was in der Kirche passiert. Für mich war es auch ein Lernprozeß, Meßdiener zu sein und zu erfahren, was organisierte Religion eigentlich ist. Das ist Götzentum, wie ein Schauspiel. Der Pfarrer ist der Leadsänger, und die Meßdiener stehen daneben. Der Name sagt alles, man ist Diener. Das zeigt die hierarchische Sturktur der katholischen Kirche. Es gibt einen da oben, den beten alle an. Dann gibt es den Priester als Vermittler, und der Rest sind Diener. Das ist für mich falsch.

So ganz verstanden haben kann er das ja nicht, denn dann wüßte er, daß der Priester auch nur Diener ist, und eigentlich sogar mehr Diener als „das Volk“, nämlich der Diener der Diener Gottes. Aber interessant finde ich ja die Bezeichnung des Priesters als Leadsänger. Setze stattdessen Animateur oder Alleinunterhalter, und willkommen, Mille, bei kath.net.

Das Landgericht Köln hält also die Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen Gründen für Körperverletzung. Das finde ich schonmal einen ziemlichen Hammer, aber mit dem Recht ist das so eine Sache, und gerade bei der Religionsfreiheit muß die Religion ein bestimmtes Handeln schon zwingend vorschreiben, damit sich der Gläubige bei ihrer Ausführung auf sein Grundrecht berufen kann. Und selbst wenn ein Satanist daherkäme und Menschenopfer als von seiner Religion zwingend vorgeschrieben beweisen würde (was selbst bei den abstrusesten Satanismusformen eigentlich nicht der Fall ist, aber das nur am Rande), hätte wohl keiner ein Problem mit dem Verbot solcher Handlungen durch deutsche Gerichte.

Der eigentliche Hammer ist daher auch nicht das Urteil selbst. Denn soviel ich weiß, ist die Beschneidung im Islam im Gegensatz zum Judentum nicht ausdrücklich und zwingend vorgeschrieben, sondern stellt nur eine alte und wichtige Tradition dar. Ob mein Wissen da zutreffend ist oder nicht, soll bitte jemand entscheiden, der mehr Ahnung vom Islam hat als ich. Der genannte Hammer ist aber: Diese Frage scheint das Landgericht nach den mir vorliegenden Informationen überhaupt nicht umgetrieben zu haben!

Vielmehr hat es verschiedene Grundrechte, nämlich das auf körperliche Unversehrtheit einerseits und die Religionsfreiheit sowie das Erziehungsrecht der Eltern andererseits einfach gegeneinander abgewogen und kam dabei zu dem Ergebnis, Religionsfreiheit und Erziehungsrecht der Eltern hätten hinter das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes zurückzutreten.

Je mehr ich von der Argumentation des Gerichtes wahrnehme, umso wirrer kommt sie mir vor. Ok, es liegt mir nicht die Originalbegründung vor, so daß ich auf die in Rechtsfragen nicht selten verdrehte Berichterstattung der Medien angewiesen bin, und ich bin auch kein Jurist, so daß ich juristisch dazu sowieso nichts sagen kann.

Aber ein Minimum an nachvollziehbarer Logik sollten Begründungen doch eigentlich enthalten. Es fängt bereits damit an, daß ich nirgendwo eine Auseinandersetzung mit der Frage, was eigentlich körperliche Unversehrtheit bedeutet, finden kann. Nur den lapidaren Hinweis, daß körperliche Eingriffe bis zur Volljährigkeit ausgewachsen sein müßten, damit sie das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht verletzten. Die körperliche Schädigung durch die Zirkumzision hält sich aber in Grenzen. Der Junge hat zwar keine Vorhaut mehr, aber auch keine bleibenden Schäden, vielmehr wächst sich das in der Regel recht schnell, jedenfalls lange vor der Volljährigkeit aus. Hier liegt auch ein gravierender Unterschied zur Beschneidung von Mädchen, der Entfernung der Klitoris. Diese ist zum einen wesentlich komplikationsreicher und weist eine hohe Todesrate auf. Zum anderen kommt es hier tatsächlich zu einer dauerhaften Schädigung. Beide Beschneidungen auf eine Stufe zu stellen, wie selbst in der FAZ (zumindest suggestiv) geschehen, verharmlost das schwere Unrecht der weiblichen Genitalverstümmelung. Eine Genitalverstümmelung ist die Beschneidung von Jungen nämlich nicht, und worin der bleibende Schaden, der sich bis zur Volljährigkeit nicht auswächst (worauf sich offenbar die Unwirksamkeit der elterlichen Zustimmung ableitet), bestehen soll, bleibt das grundlegende Rätsel dieses Urteils.

Ein weitere gravierende logische Fehlleistung stellt die Argumentation mit der negativen Religionsfreiheit des Jungen dar. Kann sich das Gericht tatsächlich, wie in der FAZ dargestellt, entblödet haben, die Zirkumzision im Kindesalter in der syllogistischen Fehlleistung des unzulässigen Umkehrschlusses (aus a folgt b, aber aus b nicht a: selbst wenn jeder Muslim beschnitten ist, ist nicht jeder Beschnittene ist Muslim) als nicht revidierbarers Faktum einer Religionszugehörigkeit anzusehen? Dann wäre auch die Taufe ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, weil diese in derselben Weise unumkehrbar ist (nach Ansicht der jeweiligen Religion nämlich), und dennoch kennt der Staat den Kirchenaustritt. Natürlich könnte man bei der Taufe nicht mit der körperlichen Unversehrtheit argumentieren, aber es gibt ja tatsächlich die Leute, die meinen, jede religiöse Erziehung sei eine Verletzung der körperlichen (hier: geistigen) Unversehrtheit. Naja, könnte man schulterzuckend abtun, denn wie sich ein Mensch als „tabula rasa“ frei entscheiden können soll, bleibt ebenfalls das Geheimnis derer, die so argumentieren. Sollte man aber nicht tun, vielmehr erscheint mir das Urteil als Menetekel: Bald wird die Religionsfreiheit, zumindest die positive – und die ist der ältere Gehalt dieses Rechts! – nicht mehr das Papier wert sein, auf dem das Grundgesetz steht. Denn in jedem Konfliktfall wird sich schon irgendein Grundrecht finden, das mit ihr kollidiert, und – patsch – ist sie wertlos.

Das alles hätte ich noch hinnehmen können, ist es doch im Grunde nichts Neues. Neu ist hingegen der dem Urteil zustimmende Kommentar in der FAZ. Der lautet in der entscheidenden Grundlage:

Das Credo des Rechtsstaates: Der Staat gewährt die Religionsfreiheit, nicht die Religion begründet die Staatlichkeit.

Weiter muß man eigentlich nicht mehr lesen. Der Satz selbst ist schon, sorry, gequirrlte Scheiße, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Historisch: Nicht der Staat ist Ursprung der Trennung von Kirche und Staat, sondern die Kirche, Stichwort: libertas ecclesiae. Religionen dienten immer (auch) der Stabilisierung der Gesellschaft und des Staates. Erst die christliche Kirche, obwohl sie von Konstantin und seinen Nachfolgern genau in dieser Funktion gesehen wurde, hat sich gegen den Primat des Staates über die Religion gewehrt und ihre Unabhängigkeit und Gleichrangigkeit dem Staat gegenüber behauptet und mal mehr, mal weniger erfolgreich durchgesetzt. Der Staat bekam erst gerechtfertigterweise die Krise, als die Kirche sich dann zum Herrn über den Staat aufschwingen wollte (insbesondere unter Bonifaz VIII., wobei auch hier wieder der staatliche Versuch, sich die Kirche unterzuordnen vorausging, naja, komplizierte Geschichte, die aber ohne das Christentum undenkbar gewesen wäre).
  2. Menschenrechtlich: Der Staat gewährt die Menschenrechte nicht, zu denen die Religionsfreiheit gehört, sondern sie sind ihm vorgegeben. Ja, es handelt sich sogar ursprünglich um Abwehrrechte des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat, die nicht an einer Staatsgrenze enden, nicht an einen bestimmten (staatsbürgerlichen) Status des Menschen gebunden sind und auch dann gelten, wenn ein Staat sie mit Füßen tritt (sollte man in Deutschland eigentlich wissen).

Man kann das Urteil drehen und wenden, wie man will. Es ist – und zwar gerade unabhängig vom konkret entschiedenen Fall – ein Menetekel über den Zustand unserer Freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Über kurz oder lang werden wir uns wohl darauf einstellen müssen, daß Religion strafbar wird. Schöne neue Welt.

Blogoezsane Linkrutsche:
b-logos, JoBo I, JoBo II, JoBo III, Kaliopevorleserin

Denn die Einwohner von Jerusalem und ihre Führer haben Jesus nicht erkannt, aber sie haben die Worte der Propheten, die jeden Sabbat vorgelesen werden, erfüllt und haben Ihn verurteilt.
(Apg 13,27, aus der heutigen Lesung)

Ich habe mich immer gewundert, warum Matthäus nach dem Ende des Judas (3 Verse) noch so viel über das Blutgeld (5 Verse) schreibt (Mt. 27,3-10). Die Verwunderung wird nicht unbedingt geringer dadurch, daß es auch eine — abweichende — lukanische Variante aus dem Munde Petri gibt (Apg 1,16-20). Auffällig ist aber an beiden Stellen, daß sie auf ein Schriftzitat zulaufen. Es geht also nicht so sehr um Judas als um eine theologische Aussage, die sich im Schriftzitat zuspitzt. Das ist bei der Apostelgeschichte recht einfach: Über „sein Gehöft soll veröden“ (Ps 69,26) kommt Petrus zu „sein Amt soll ein anderer erhalten“ (Ps 109,8).

Ok, das ist für heutige Zitierstandards etwas schwach begründet, mal eben 40 Psalmen weiterzuspringen. Allerdings war das damals etwas anders. Es handelt sich eben nicht um Steinbruchexegese, sondern es ist immer auch der ganze Psalm gemeint. Und dann paßt es in der Petrusrede doch halbwegs zusammen, wenn auch eher assoziativ: Beide Psalmen lassen sich auf das Verhältnis Judas — Jesus hin lesen, wobei Ps 69 eher die jesuanische Perspektive und Ps 109 die des Judas in den Vordergrund stellt.

Tja, und von dieser Erkenntnis ausgehend, habe ich mich dann mal dem Schriftzitat in Mt 27,9f. gewidmet. In der gedruckten Fassung sind die Schriftzitate ja convenient in kursiv hervorgehoben und die Quellen am Ende des Abschnitts angegeben.

Erste Überraschung: Was da von Matthäus etwas leichtfertig Jeremia zugeschrieben wird, entpuppt sich als „freie Verbindung von Stellen aus Sacharja, Jeremia und Exodus“ (Fn. zu 27,9), genauer: Sach 11,12f., Jer 18,2f., 32,8f. und Ex 9,12 in der griechischen Übersetzung der Septuaginta.

Zweite Überraschung: Das Zitat ist bei genauerer Betrachtung mit Hilfe der EÜ nirgendwo zu finden. Es handelt sich eher um Assoziationen (siehe die Petrusrede in Apg) als um Belegstellen:

Mt 27,9f. Sach 11,12-13 Jer 18,2f. Jer 32,8f. Ex 9,12
9So erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Sie nahmen die dreißig Silberstückedas ist der Preis, den Er den Israeliten wert war10und kauften für das Geld den Töpferacker, wie mir der HErr befohlen hatte. 12Ich sagte zu ihnen: Wenn es euch recht scheint, so bringt mir meinen Lohn; wenn nicht, so laßt es! Doch sie wogen mir meinen Lohn ab, dreißig Silberstücke. 13Da sagte der HErr zu mir: Wirf ihn dem Schmelzer hin! Hoch ist der Preis, den Ich ihnen wert bin. Und ich nahm die dreißig Silberstücke und warf sie im Haus des HErrn dem Schmelzer [andere übersetzungsmöglichkeit: ins Schatzhaus] hin. 2Mach dich auf und geh zum Haus des Töpfers hinab! Dort will Ich dir Meine Worte mitteilen. 3So ging ich zum Haus des Töpfers hinab. Er arbeitete gerade mit der Töpferscheibe. 8Tatsächlich kam Hanamel, der Sohn meines Onkels, dem Wort des HErrn gemäß zu mir in den Wachhof und sagte zu mir: Kauf doch meinen Acker in Anatot [im Land Benjamin]; denn du hast das Erwerbs- und Einlösungsrecht. Kauf ihn dir! Da erkannte ich, daß es das Wort des HErrn war. 9So kaufte ich von Hanamel, dem Sohn meines Onkels, den Acker in Anatot und wog ihm das Geld ab; siebzehn Silberschekel betrug die Summe. 12Aber der HErr verhärtete das Herz des Pharao, so daß er nicht auf sie hörte. So hatte es der HErr dem Mose vorausgesagt.
Ich habe die Parallelen großzügig farblich hinterlegt, also nicht kleinkarriert leichte grammatikalische Abweichungen unberücksichtigt gelassen. Bei der Ex-Stelle ist Übereinstimmung im Griechischen allerdings tatsächlich 100%. Mit farbigem Text habe ich die weiteren Parallelen zu der Judas-Perikope markiert.

Es wird sehr deutlich, daß die Bezüge zu Jeremia eher marginal sind, die zum Sacharja-Text aber sehr groß. Hat Matthäus also Jeremia und Sacharja verwechselt und den Rest dazufabuliert? Eher unwahrscheinlich. Denn der Sacharjatext liegt der ganzen Vorpassionsgeschichte zugrunde. Bis auf den Teil mit dem Kauf des Töpferackers findet man die gesamte Judas-Perikope bei Sacharja, und auf die dreißig Silberstücke legte Matthäus bereits im Kapitel zuvor großen Wert. Er wird also schon gewußt haben, daß er hier Sacharja zitiert und nicht Jeremia.

Wahrscheinlicher scheint mir, daß er wegen der eher marginalen Bezüge ausdrücklich auf Jeremia hingewiesen hat. Denn die Bezüge kann man leicht übersehen, handelt es sich doch im wesentlichen nur um den Namen „Töpferacker“. Die damit angesprochenen Stellen bei Jeremia sind aber wichtige prophetische Reden (Töpfergleichnis) bzw. Taten (prophetischer Ackerkauf)! Im Gegensatz zum Exodus-Bezug, der wirklich eher marginal (obgleich es sich um eine zentrale Stelle handelt) ist, können sie kein Zufall sein, denn der Name „Töpferacker“ spielt sonst nirgendwo eine Rolle.

Hinzu kommt noch, daß es sich hier — abgesehen von Ps 22, der als Subtext die gesamte Passion bestimmt — um das letzte Schriftzitat bei Matthäus handelt. Die Schriftzitate bei Matthäus sind bekanntlich zentral. Sie sollen Jesus als die Erfüllung der alttestamentlichen Prophetien erweisen, insbesondere in der Form des Reflexionszitats, das häufig mit „damit sich erfüllte“ oder wie hier „so erfüllte sich“ eingeleitet wird. Darauf verzichtet Matthäus in der Passion. Obwohl er dort auf Schritt und Tritt die Kreuzigung als Erfüllung des Psalms 22 deutet, überläßt er es Johannes (19,24), auf das Loswerfen um das Gewand als Schrifterfüllung hinzuweisen.

Man merkt wohl, worauf ich hinaus will: Die Perikope um das Ende des Judas und vor allem die Geschichte um das Blutgeld sind nach meinem Eindruck die matthäische (Voraus-)Deutung des Kreuzesopfers. Und die hat es in sich, wenn man die Bezugstellen des Reflexionszitats genauer und vor allem in ihrem Kontext unter die Lupe nimmt:

Sacharja 11
Hier ist die Rede von schlechten Hirten, deren prächtige Weiden zerstört sind, von Mächtigen, die vernichtet wurden. Von Käufern, die die gekauften Schafe ohne Strafe schlachten, und Verkäufern, die sich über ihren Reichtum freuen, aber keinerlei Mitleid mit den Schafen haben. So verkündet dann der HErr:

„Wahrhaftig, Ich habe kein Mitleid mehr mit den Bewohnern des Landes – Spruch des HErrn. Seht, jeden Menschen liefere ich seinem Nächsten aus und seinem König. Sie zerschlagen das Land und Ich rette es nicht aus ihrer Hand.“

Als ob das, angewandt auf Judas oder vielmehr die Hohenpriester, nicht schon kraß genug wäre — die Hohenpriester zerschlagen durch ihr Handeln das Land –, kommt das dicke Ende noch, nämlich in Sacharjas prophetischer Handlung. Er nimmt sich zwei Ruten, nennt sie „Freundlichkeit“ und „Verbindung“ und hütet damit die Herde. Die anderen Hirten werden seiner überdrüssig, was auf Gegenseitigkeit beruht, und er sagt:

Ich hüte euch nicht. Was im Sterben liegt, soll sterben; was sich verloren hat, sei verloren; und von den Übriggebliebenen soll einer des andern Fleisch fressen. Dann nahm ich meine Rute Noam [Freundlichkeit] und hieb sie in Stücke, um Meinen Bund zu zerbrechen, den Ich mit allen Völkern geschlossen hatte. So wurde er an diesem Tag zerbrochen.

Auf die fragliche Matthäusstelle angewendet kann das nichts andere bedeuten als: Im Kreuz beendet GOTT den Alten Bund!

Aber halt! Folgt nicht erst jetzt die Stelle mit dem Geld, die Matthäus tatsächlich zitiert? Oh ja, aber es wird nicht besser, im Gegenteil:

Danach hieb ich meine zweite Rute, Hobelim [Verbindung], in Stücke, um den brüderlichen Bund zwischen Juda und Israel zu zerbrechen. Der HErr sagte zu mir: Nimm nochmals das Gerät des nichtsnutzigen Hirten! Denn Ich lasse einen Hirten im Land auftreten. Um das Vermißte kümmert er sich nicht, das Verlorene sucht er nicht, das Gebrochene heilt er nicht, das Gesunde versorgt er nicht. Stattdessen ißt er das Fleisch der gemästeten Schafe und reißt ihnen die Klauen ab. Weh Meinem nichtsnutzigen Hirten, der die Herde im Stich läßt. Das Schwert über seinen Arm und über sein rechtes Auge! Sein Arm soll völlig verdorren, sein rechtes Auge soll gänzlich erblinden.

Hier ist nur noch von einem Hirten die Rede, und was hier zerbrochen wird, ist der Bund zwischen Israel (dem Gottesstreiter, also auf die Mt-Stelle bezogen wohl Jesus) und Judas.

Kraß, krasser, am krassesten. Aber noch lange nicht genug. Denn es geht weiter:

Töpfergleichnis
Jeremia beobachtet einen Töpfer:

Mißriet das Gefäß, das er in Arbeit hatte, wie es beim Ton in der Hand des Töpfers vorkommen kann, so machte der Töpfer daraus wieder ein anderes Gefäß, ganz wie es ihm gefiel. Da erging an mich das Wort des HErrn: Kann Ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? Spruch des HErrn. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in Meiner Hand, Haus Israel.

Auch hier kündigt Gott dem Volk Israel an, daß Er jedes Volk oder Reich auch ausreißen und vernichten könne, darauf aber verzichtet, wenn es auf Seine Drohung hin umkehrt. Doch auch umgekehrt reue Ihn das Gute, das Er einem Volk getan habe, wenn es tut, was Ihm mißfällt.

Daher schickt Er Jeremia zum Volk Juda und den Einwohnern Jerusalems mit einer Unheilsbotschaft, die Er nicht auszuführen gedenkt, wenn sie umkehrten. Doch Er weiß bereits, daß sie nicht umkehren werden. Und dann wird’s wieder kraß:

Deshalb spricht der HErr: Fragt unter den Völkern, wer je Ähnliches gehört hat. Ganz Abscheuliches hat die Jungfrau Israel getan. […] Mein Volk aber hat Mich vergessen; nichtigen Götzen bringt es Opfer dar. Doch Ich lasse sie straucheln auf ihren Wegen, den altgewohnten Bahnen, so daß sie auf ungebahnten Pfaden gehen müssen. Ich will ihr Land zu einem Ort des Entsetzens machen, zum Gespött für immer. Jeder, der dort vorbeikommt, wird sich entsetzen und den Kopf schütteln. Wie der Ostwind zerstreue Ich sie vor dem Feind. Ich zeige ihnen den Rücken und nicht das Gesicht am Tag ihres Verderbens.

Das Töpfergleichnis bestätigt die Interpretation des Sacharjabezuges: Auch hier kündigt Gott an, Seinen Bund mit dem Volk zu beenden. Und zwar nicht, weil Er untreu geworden wäre, sondern weil die Menschen Ihm untreu geworden sind. Weil das Volk den Bund gebrochen hat, ist auch Er nicht mehr an Seinen Bund gebunden. (Soviel zur Argumentation, der Alte Bund sei für die Juden immer noch Heilsweg, weil Gottes Treue gegen einen Bruch dieses Bundes stehe. Um es mit Luther [der in diesem Punkt, es ging um die Realpräsenz, ja tatsächlich recht hatte] zu sagen: Streicht mir die Stellen, die das Gegenteil belegen, aus der Bibel, und wir können über alles reden…)

Wie zu erwarten macht das für Jeremia bloß alles noch schlimmer, so daß er sich in seiner Verzweiflung mit einer Art Fluchpsalm an Gott wendet:

Gib du, HErr, Acht auf mich und höre das Gerede meiner Widersacher! Darf man denn Gutes mit Bösem vergelten? Denn sie haben (mir) eine Grube gegraben. Denk daran, wie ich vor Dir stand, um zu ihren Gunsten zu sprechen und Deinen Zorn von ihnen abzuwenden. Darum gib ihre Kinder dem Hunger preis und liefere sie der Gewalt des Schwertes aus! Ihre Frauen sollen der Kinder beraubt und zu Witwen werden, ihre Männer töte die Pest, ihre jungen Männer erschlage das Schwert in der Schlacht. Geschrei soll man hören aus ihren Häusern, wenn Du plötzlich plündernde Horden über sie kommen läßt. Denn sie haben (mir) eine Grube gegraben, um mich zu fangen; meinen Füßen haben sie Schlingen gelegt. Du aber, HErr, Du kennst all ihre Mordpläne gegen mich. Nimm für ihre Schuld keine Sühne an, lösch bei Dir ihre Sünde nicht aus! Laß sie zu Fall kommen vor Deinen Augen, handle an ihnen zur Zeit Deines Zorns!

Diese Stelle auch noch auf die Kreuzigung Jesu zu beziehen, machte zwar deren Gerichtscharakter deutlich, ließe aber keinerlei Hoffnung mehr auf ein gutes Ende. Dann bedeutete der Tod Jesu tatsächlich ein Scheitern Gottes im Werben um den Menschen. Dann wäre der Mensch unrettbar verdammt und dem Herrn dieser Welt ausgeliefert.

Vielleicht ist es diese Überlegung, die Matthäus dazu bewogen hat, vom Töpferacker zu reden, also nicht nur auf das unheilvolle Töpfergleichnis zu verweisen, sondern im selben Atemzug auch auf Jeremias prophetischen Ackerkauf. (Zumal ja auch die Apg von einem Ackerkauf weiß, wenn auch durch Judas selbst.)

Ackerkauf
Die Ausgangslage ist düster: Nebukadnezar belagert Jerusalem, das angekündigte Unheil ist also eingetreten, und Jeremia selbst ist Gefangener des Königs Zidkija. Entsprechend der Vorhersage Gottes kommt in genau dieser düsteren Situation, in der sich alles Unheil verwirklicht, das Jeremia angekündigt hat, ein Cousin Jeremias namens Hanamel und will seinen Acker verkaufen. Hintergrund ist, wie durch den Bezug auf das „Einlösungsrecht“ deutlich wird, daß Hanamel in einer Notlage war (was auf dem Hintergrund des Krieges mit den Babyloniern wohl nicht nur bei ihm so war). Gerade in dieser Situation, in der eigentlich weder für das Land im allgemeinen noch für Jeremia im besonderen eine realistische Hoffnung auf Besserung bestand, kaufte Jeremia dennoch den Acker auf das Wort des HErrn hin — und zwar in aller Öffentlichkeit. Er läßt die Kaufurkunden in Tonkrüge stecken, damit sie lange Zeit erhalten blieben, mit der Begründung:

Denn so spricht der HErr der Heere, der Gott Israels: Man wird wieder Häuser, Äcker und Weinberge kaufen in diesem Land.

Dieser Ackerkauf steht zudem an einer Scharnierstelle im Buch Jeremia: Es ist der Übergang von den unzähligen Unheilsprophetien Jeremias zu den (vergleichsweise wenigen, aber kräftigen) Heilsworten Gottes. Der Ackerkauf bringt als prophetische Handlung zum Ausdruck, was in den folgenden Texten ausdrücklich gesagt wird: Es wird eine Zukunft für das Land und seine Bewohner im allgemeinen sowie Jeremia im besonderen geben.

Siehe, Ich bin der HErr, der Gott aller Sterblichen. Ist Mir denn irgendetwas unmöglich? Darum – so spricht der HErr: Ich gebe diese Stadt in die Hand der Chaldäer und in die Hand Nebukadnezzars, des Königs von Babel, und er wird sie einnehmen. Die Chaldäer, die gegen diese Stadt ankämpfen, werden eindringen, die Stadt in Brand stecken und einäschern samt den Häusern, auf deren Dächern man dem Baal Rauchopfer und fremden Göttern Trankopfer dargebracht hat, um Mich zu erzürnen. Denn die Leute von Israel und Juda haben von Jugend an immer nur das getan, was Mir mißfiel, ja, die Leute von Israel haben Mich durch ihr Verhalten stets nur erzürnt – Spruch des HErrn. In der Tat, diese Stadt hat seit ihrer Gründung bis zum heutigen Tag Meinen Zorn und Grimm erregt, so daß Ich sie von Meinem Angesicht verstoßen muß wegen all des Bösen, das die Leute von Israel und Juda verübt haben, um Mich zu erzürnen, sie, ihre Könige, ihre Beamten, ihre Priester und ihre Propheten, die Leute von Juda und die Einwohner Jerusalems. Sie haben Mir den Rücken zugewandt und nicht das Gesicht. […] Jetzt aber – so spricht der HErr, der Gott Israels, über diese Stadt, von der ihr sagt, sie sei durch Schwert, Hunger und Pest dem König von Babel preisgegeben: Seht, ich sammle sie aus allen Ländern, wohin ich sie in Meinem Zorn und Grimm und in großem Groll versprengt habe. Ich bringe sie wieder zurück an diesen Ort und lasse sie in Sicherheit wohnen. Sie werden Mein Volk sein und Ich werde ihr Gott sein. Ich bringe sie dazu, nur eines im Sinn zu haben und nur eines zu erstreben: Mich alle Tage zu fürchten, ihnen und ihren Nachkommen zum Heil. Ich schließe mit ihnen einen ewigen Bund, daß Ich Mich nicht von ihnen abwenden will, sondern ihnen Gutes erweise. Ich lege ihnen die Furcht vor Mir ins Herz, damit sie nicht von Mir weichen. Ich werde Mich über sie freuen, wenn Ich ihnen Gutes erweise. In Meiner Treue pflanze Ich sie ein in diesem Land, aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele. Denn so spricht der HErr: Wie Ich über dieses Volk all das große Unheil gebracht habe, so bringe Ich über sie all das Gute, das Ich ihnen verspreche. Man wird wieder Felder kaufen in diesem Land, von dem ihr sagt: Es ist eine Wüste, ohne Mensch und Vieh, der Hand der Chaldäer preisgegeben. Äcker wird man wieder kaufen für Geld, Kaufurkunden ausstellen und versiegeln und Zeugen hinzunehmen im Land Benjamin, in der Umgebung Jerusalems, in den Städten Judas und des Gebirges, in den Städten der Schefela und des Negeb. Denn Ich wende ihr Geschick – Spruch des HErrn. (Jer 32, 27-33.36-44)

Gott kündigt also an, daß er das Unheil vollstrecken, den Bund als beendet ansehen wird, wie im Töpfergleichnis und anderswo angekündigt (man beachte den Verweis auf Rücken und Gesicht — ius talionis…). Aber Er kündigt zugleich einen neuen, ewigen Bund an, den Er schließen wird und in dem Er die Menschen mit allen Mitteln ausstatten wird, die sie brauchen, um gottesfürchtig zu sein und zu bleiben.

Der knappe Jeremiabezug in der Perikope vom Ende des Judas bei Matthäus deutet also in großer Tiefe die bevorstehende Passion, und es sind gerade diejenigen, die die Schuld an Jesu Kreuzestod haben, die in ihren Handlungen unwissentlich prophetisch deuten, was im folgenden auf einer tieferen, geistigen und metaphysischen Ebene passieren wird.

In dieser Interpretation erscheint dann der Bezug auf die Exodusstelle auch nicht mehr allein als zufällig. Es könnte durchaus sein, daß Matthäus auch an die Plagen in Ägypten dachte, an das Unheil, das der verstockte Pharao als Führer über sein Volk brachte (wie die Hohenpriester über ihr Volk), die zugleich die Voraussetzung für die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft waren. Nicht umsonst ist der Durchzug durchs Rote Meer die einzige Lesung der Osternacht, die niemals und unter keinen Umständen entfallen darf. (Was leider nicht heißt, daß man sich auch daran hielte. Mir erklärte ein emeritierter Theologieprofessor mal, angesichts des Nahostkonflikts könne er diese Lesung gerade in der Osternacht nicht ertragen und habe daher in seiner Gemeinde durchgesetzt, daß sie nicht gelesen werde. *facepalm*)

Diese unscheinbare und in ihrer Ausführlichkeit geradezu irritierende, störende Stelle hat es theologisch also in sich.

Und, wie Dorothea es so treffend auf den Punkt brachte, „da man schließlich so etwas heute einzeln erklären muß„: Matthäus ist selbst Jude und er schreibt, so der weitgehende Konsens der Exegeten, für eine judenchristliche Gemeinde. Es geht hier also nicht darum, antijüdische Gefühle zu wecken und sie pauschal zu Gottesmördern zu erklären. Nein, es geht um viel mehr, wie schon die Rede von Völkern und Reichen bei Jeremia und vom „Bund, den ich mit allen Völkern geschlossen hatte“ bei Sacharja zum Ausdruck bringen. Es geht darum, daß der Mensch von sich aus selbst im Alten Bund nicht in der Lage war, Gott (dauerhaft) zu fürchten und seinen Gesetzen entsprechend zu leben. Der Alte Bund, das Gesetz konnte nur die Sünde als Sünde offenbar machen, wie Paulus schreibt (Röm 2-8, v.a. Röm 7). Das jüdische Volk steht also erkennbar pars pro toto für die Menschheit.

Es gibt Juristen, die der Meinung sind, das Einbetten von Videos aus einer Video-Plattform könne selbst ein urheberrechtlicher Mißbrauch sein. Ich bin kein Jurist. Aus diesem Grund kann ich weder die zugrundeliegende Argumentation nachvollziehen noch die Lage in Bezug auf die von mir eingebetteten Videos beurteilen.[1]

Das hat allerdings einen ganz einfachen Grund: YouTube teilt mir als Nutzer zwar mit, wenn es Videos aufgrund von Urheberrechtsverletzungen sperrt, aber nicht, wenn die urheberrechtlich geschützten Inhalte vom Rechteinhaber genehmigt wurden. Vielmehr erklärt derjenige, der ein Video hochlädt, daß er die Rechte an dem Video selbst besitzt oder sie eingeholt hat. Woran der Endnutzer jetzt erkennen soll, ob er ein Video legal einbinden kann oder nicht, bleibt mir ein Rätsel. Eine „offenkundig rechtswidrige Quelle“ ist YouTube ja nun nicht, oder?!

Hinzu kommt noch die aus Nutzersicht geradezu absurde Situation, die aus dem Streit zwischen der GEMA und YouTube entsteht. Eine ganze Reihe von Liedern, insbesondere im Metalbereich, gibt es bei YouTube im Kanal der Plattenfirma. Als Rechtslaie sollte man schon davon ausgehen können, daß ein von der Plattenfirma eingestelltes und zum Einbetten freigegebenes Video urheberrechtlich bedenkenlos eingebettet werden könnte. Leider ist das nicht der Fall: In fast allen Fällen war das Streaming über deutsche Hosts mit Verweis auf die Streitigkeiten mit der GEMA durch YouTube gesperrt.

Honi soit qui mal y pense: Die GEMA vertritt Künstler und die Plattenfirmen hinsichtlich der Zweitverwertungsrechte. YouTube sperrt aber vorrangig die Videos der Plattenfirmen, und nicht auch alle andere Videos mit derselben Musik, obwohl das nur konsequent (und unabhängig von der Frage, ob die Plattenfirmen der Nutzung zugestimmt haben) wäre. (Wobei das GEMA-Sperren teilweise so willkürlich wirkt, daß man sich schon fragen könnte, ob da nicht ein Zufallsalgorithmus für das Sperren von Videos zuständig ist. Nur mal so als Beispiel: Letztens war ein und dasselbe Metal-Video beim deutschen Kanal einer Plattenfirma gesperrt, konnte aber problemlos über den englischen Kanal derselben Plattenfirma angeschaut werden. *kopfschüttel*) Es liegt irgendwie der Verdacht nahe, daß YouTube die Plattenfirmen dazu drängen will, ihrerseits auf die GEMA Druck auszuüben, ihre Forderungen herunterzuschrauben. Die Dummen sind dabei nicht einmal so sehr die YouTube-Nutzer, die ja auf die Videos von anderen Nutzern (oder auf anderen Portalen, die sich mit der GEMA geeinigt haben) zurückgreifen können, obgleich sie sich damit in eine urheberrechtlich unklare Situation begeben. Die Dummen sind tatsächlich die Künstler, denen die Forderungen der GEMA zugute kämen.

Und in der öffentlichen Diskussion werden alle, die das deutschen Urheberrecht für dringend reformbedürftig halten, abgestempelt, sie würden gegen die Verdienstmöglichkeiten der Künstler kämpfen. Verkehrte Welt!

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[1] Als ich diesen Beitrag schon fertiggeschrieben hatte, bin ich nochmal ein wenig auf die Suche gegangen — und dabei auf dieses Fundstück gestoßen:

„Die Verlinkung urheberrechtlich geschützter Bilder mittels Frames oder als ‚Deep-Link‘ direkt auf die Bild-Datei ist keine Urheberrechtsverletzung.“ (LG Hamburg, Urteil v. 26.09.2008, Az. 308 O 42/06)

Obwohl auf den ersten Eindruck gegensätzlich bestätigt auch das LG München, daß die Einbindung von YouTube-Videos keine Zugänglichmachung nach §19a UrhG sein kann, denn entscheidendes Argument, mit dem zwischen zulässigen Deep-Links und unzulässigem Framing unterschieden wird, ist der Eindruck, der beim Nutzer der Website erweckt wird (genau auf diese Argumentation stützt sich auch das LG Hamburg):

Es „ist danach zu fragen, ob der Ersteller eines Webauftritts sich fremde Inhalte in einer Weise zu eigen macht, dass für den gewöhnlichen Nutzer die Fremdheit nicht mehr in Erscheinung tritt. […] Verlinkt der Domaininhaber seine Webseite dagegen in einer Weise mit den Seiten anderer Anbieter, dass die Fremdheit dieser Angebote für den Nutzer deutlich erkennbar bleibt, so haftet er – egal ob es sich um einen Link auf die Homepage eines Dritten oder auf eine Unterseite von dessen Auftritt (deep-link) handelt, nur nach den Grundsätzen, die der BGH in der Schöner-Wetten-Entscheidung aufgestellt hat“ (LG München I, Urteil vom 10.01.2007 – Az. 21 O 20028/05).

Bei YouTube-Videos steht ja nun deutlich genug YouTube drauf, so daß die Fremdheit eindeutig erkennbar ist. Hinzu kommt noch, daß es hier keine „(vom Nutzer der Seite nicht willkürlich beeinflusste, sondern allein vom Ersteller der Website veranlasste) Zulieferung der Datei von einem beliebigen Ort im Internet“ (aus dem Volltext der Entscheidung, Entscheidungsgründe, II., 1. b), bb) aaa)) gibt, denn der Nutzer muß das Abspielen des Videos (wie bei einem Link durch Anklicken) selbst veranlassen.

Dem steht auch nicht der 7. Leitsatz entgegen, der besagt, daß der framende Zweitnutzer mit dem Erstverletzer zusammen für die Rechtsverletzung haftet. Denn im Volltext heißt es genauer:

„Während derjenige, der fremde Inhalte framed, somit die Verantwortung für das Bestehen ausreichender Nutzungsrechte hieran übernimmt, haftet derjenige, der einen deep-link setzt, regelmäßig erst dann, wenn er hinsichtlich der fehlenden Nutzungsbefugnis an dem fremden Werk in schlechtem Glauben ist.“ (Ebd., Entscheidungsgründe, II., 1. b), gegen Ende)

Im Sinne des Unterscheidungskriteriums zwischen Framing und Deep-Link ist ein eingebettetes YouTube-Video als ein Deep-Link zu beurteilen. Der Nutzer, der ein YouTube-Video einbettet, müßte also schon mindestens ahnen, daß es sich um eine Rechtsverletzung handelt, um selbst haftbar gemacht werden zu können. Das kann man — aber IANAL… — eigentlich nur dann annehmen, wenn das Video mit dem Kommentar versehen ist: „Ich habe keine Rechte an diesem Video.“ (Gibt’s wirklich!) Denn das ist ein offensichtlicher Verstoß gegen das deutsche Urheberrecht (und wenn ich mich nicht irre, auch gegen die YouTube-AGB), der bei YouTube etwa aufgrund der Fair Use-Regelung in den USA durchaus legal sein könnte, solange das Video nicht in Deutschland abgerufen wird.

Summa summarum: Selbst die schlechtesten Neuscholastiker des späten 19. Jahrhunderts waren in der Frage nach der Zahl der Engel, die auf eine Nadelspitze passen (eine Belegstelle für diese Frage habe ich übrigens auch noch nicht gefunden, aber das nur am Rande), nicht so spitzfindig, wie man es beim Urheberrecht im Internet sein müßte, um rauszufinden, ob man das, was alle machen, überhaupt machen darf. Noch ein Grund, warum wir eine Reform des Urheberrechts brauchen. Denn die Eingangs verlinkte Äußerung eines Rechtsanwalts auf der ARD-Seite ist beste Desinformation. Wie mir scheint. So genau kann man das ja irgendwie gar nicht sagen.

Blind can see the sun,
cripples walk alone,
deaf can hear my words,
they believe,

Just believe,
Just believe in me
Look! The signs are near
to perform my task
to perform my way

to perform
the way I walked

The way of the crucifix

Meine Frau hat mich deshalb schon für bekloppt erklärt, also paßt es wohl wunderbar in die Blogözese. Seit dem ersten Advent verstärkt sich in mir das unbändige Gefühl, zu Advendsliedern zu headbangen. Angefangen hat es mit „Macht hoch die Tür“, wo mir nur noch die Double Bass Drum fehlte. Bei genauerer Betrachtung und weil es sich bei immer mehr Liedern einstellte, ist mir aufgegangen, daß es an den Harmonien liegen muß. (Im Gegensatz zu Stanislaus werde ich nicht schon seit drei Wochen mit romantischen Dur-Liedern malträtiert, sondern durfte sogar die Melodie von „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ singen :-).

Und nicht nur an den Harmonien, auch an den Inhalten. Kreuz, Gericht, Wiederkunft, Warten auf das Heil, das sind auch Themen des Metals, wenn auch in meist mehr oder weniger säkularisierter Form. Heute paßte mal wieder alles wie die Faust aufs Auge. Als ob Johannes vom Kreuz allein nicht schon gereicht hätte! (Ich hatte mal überlegt, ob ich die Dunkle Nacht an den Beginn meines im engeren Sinne theologischen Teils meiner Diss stelle.) Ne, es kam auch noch das Evangelium, das Grundlage des Songs meiner „richtigen“[tm] Metal-Initiation war (s.o. und — fast genau vor einem Jahr). Das war doch mal ein schönes Crossover!