Postmoderne

All posts tagged Postmoderne

…ist die richtige Antwort zum gestrigen Ratepost. Das Zitat findet sich auf Seite 513 von „Wahnsinn und Gesellschaft“ (Suhrkamp Taschenbuch). Auf Seite 14f. steht übrigens auch, was für die vormoderne Welt der Wahnsinn bezeugte:

„Im Mittelalter und in der Renaissance war die Auseinandersetzung des Menschen mit der Demenz ein dramatisches Gespräch, das ihn den tauben Kräften der Welt gegenüberstellte, und die Erfahrung mit dem Wahnsinn verschleierte sich damals in Bildern, in denen es um die Frage des Sündenfalls, der Erfüllung, des Tiers, der Verwandlung und der ganzen wunderbaren Geheimnisse der Gelehrsamkeit ging. In unserer Zeit schweigt die Erfahrung mit dem Wahnsinn in der Ruhe einer Gelehrsamkeit, die den Wahnsinn, weil sie ihn zu gut kennt, vergißt.“

Und eine Seite später schildert Foucault, welche Folge das Verdrängen und Unter-Kontrolle-Bringen des Irrationalen hatte:

„Diese große Trennung [in Tag und Dunkelheit, Schatten und Licht, Traum und Wachsein] lernte er [der Mensch] zu beherrschen und auf sein eigenes Niveau zu reduzieren. Er lernte, in ihr Tag und Nacht herzustellen, die Sonne der Wahrheit dem schwachen Licht seiner Wahrheit unterzuordnen.“

Noch Fragen?

Leute, die noch am alten Glauben festhielten, fürchteten die einzigen zu sein, die ihm noch treu blieben, und da sie die Absonderung mehr als den Irrthum fürchteten, so gesellten sie sich zu der Menge, ohne wie diese zu denken. Was nur die Ansicht eines Theiles des Nation noch war, schien auf solche Weise die Meinung Aller zu sein und dünkte eben deßhalb diejenigen unwiderstehlich, die ihr diesen trügerischen Anschein gaben.

Alexis de Tocqueville 1856 über den Niedergang der katholischen Kirche im vorrevolutionären Frankreich.

Allerdings frage ich mich, ob ich da so anders bin. Klar, mein Selbstverständnis ist natürlich, der Wahrheit anzuhängen und gelegen oder ungelegen dieselbe zu verkünden. Aber ist das vielleicht auch bloß Selbstbetrug? Bin ich vielleicht nur der Meinung, der eher konservativen Auslegung des Glaubens gehöre die Zukunft? Dieser Auffassung bin ich ja tatsächlich, auch wenn ich sie eher damit begründe, daß der Wahrheit die Zukunft gehört und die moderne Auslegung des Glaubens in große Irrtümer geführt hat. Diese Irrtümer begründe ich aber als Irrtümer auch „bloß“ damit, daß sie einfach nicht dazu geeignet sind, reale Erfahrungen stimmig zu erklären, während der Katechismus oder noch deutlicher der römische Katechismus aus den 30er und der Grundriß der Theologie von Ott ganz simple, aber plausible Deutungen anbieten, obwohl die genannten Erfahrungen zur Entstehungszeit der Bücher eigentlich noch nicht dieselben gewesen sein dürften.

Oder doch? Bin ich also einfach bloß ein total nonkonformistischer Mitläufer??? Jedenfalls teile ich die Auffassungen, die in meiner privaten Umgebung vertreten werden. Andererseits habe ich mir ja diese Umgebung auch (aus)gesucht, weil dort meine Auffassungen geteilt werden. Was aber wäre, wenn ich nicht auf Leute getroffen wäre, die meine Intuitionen in Worte fassen konnten? Was wäre, wenn ich nicht die Blogoezese entdeckt hätte, die ja doch recht eindeutig in eine Richtung tendiert (zumindest die Bekloppten und Konvertiten)? Was wäre, wenn ich nie aus meiner Heimatpfarrei rausgekommen wäre und mich immer noch gegen eine starke 70er-Jahre-Fraktion behaupten müßte?

Wie dem auch immer sei: Der Wunsch nach Anerkennung durch andere Menschen steckt schon irgendwie tief in mir drin. Und auch, wenn ich in der Lage bin, mich gegen Menschen zu behaupten, die nicht gerade meinen Alltag prägen, so wüßte ich doch nicht, wie ich, vor allem auf Dauer, reagieren würde, wenn meine Frau plötzlich voll von der Alt-68er-Ideologie infiziert wäre…

Ach, ja, was lese ich eigentlich CiG! Bin ich ja selbst schuld, wenn mir dann sowas wie die „A Serious Man“-Rezension über den Weg läuft (Michael Schromm: Geh nicht zum Rabbi? CiG Nr. 7/2010 vom 14.2.2010 – ja, ich gebe zu, das ist schon etwas älter *g*). Vielleicht bin ich ja Masochist oder ich brauche einfach was, um meinen Kreislauf anzuregen…

Während selbst in den Telepolis-Foren anhand der Filmrezension und des Hiob-Verweises ansatzweise gesittet (für TP-Verhältnisse halt) über religiöse Fragen diskutiert wurde (und seeehr interessante Einblicke in das ermöglichte, was viele Außenstehende offenbar für christlichen Glauben halten), weist Schromm den religiösen Gehalt des Filmes gleich ganz zurück, vielmehr sei er „auf eine zynische Weise atheistisch“.

Was ist denn bloß aus CiG geworden? Sonst wurde da doch selbst in den abstrusesten Werken noch irgendein „kritisches Potential“, „humanisierende Kraft“ oder sowas gefunden?! Jetzt wird zynischer Atheismus plötzlich kritisiert?

Das läßt mich doch schonmal reflexartig vermuten, daß der Film eben doch nicht (nur) zynisch atheistisch ist. Zynisch vielleicht, aber nicht mehr als das Buch Hiob. Atheistisch möglicherweise, jedenfalls versucht der Film nicht gerade den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Aber zynisch atheistisch?!

Schromm verweist darauf, daß die Rabbis als Witzfiguren dargestellt werden – aber ist das nicht auch mit den Freunden Hiobs so? Da ist es sogar Gott selbst, der sie (indirekt) als Witzfiguren tadelt. Mit dem Prolog kann er auch nicht mehr anfangen, als ihn als zynischen Witz zu verurteilen.

Ist das so schwer zu erkennen, daß den Film und Hiob miteinander verbinden, daß hier auf eine zwar völlig überzeichnete, aber dafür um so durchschlagendere Weise gerade das einseitige Bild eine nur gütigen und allmächtigen Gottes, der es allen irgendwie rechtmachen soll, aber keinem weh tun darf, in Frage gestellt wird? Ein solches Gottesbild mag der Film tatsächlich zynisch bekämpfen. Aber ist das atheistisch? Oder müßten wir Christen das nicht gerade um unseres Glaubens willen eigentlich genauso machen?

Nicht daß ich falsch verstanden werde: Ich meine nicht, daß „A Serious Man“ oder Hiob tatsächlich Gott in Frage stellten, wie es Schromm interpretiert („Religion unter Sinnlosigkeitsverdacht“). Aber ich meine schon, daß die Welt, das Leben, das Universum und der ganze Rest einfach als von Gott gut geordnet darzustellen, völlig weltfremd und lächerlich ist. Aber klar, das wiederum kann einem CiG-Redakteur vermutlich nicht schmecken. Müßte er ja womöglich anfangen, über Erbsünde nachzudenken. Und daß die post-christlich postmodernen Menschen etwas sagen könnte? Μη γενοιτο!

Am späten Abend stieß ich in der gestrigen FAZ auf einen wunderbaren Artikel auf der allerletzten Seite der Reiseblattbeilage, den ich nur empfehlen kann. (Leider gibt es ihn nicht online, bzw. nur im FAZ-Archiv: Petra Putz: „Ich bin neunzig! Das ist mein Geburtstagsgeschenk“; FAZ, 6. Mai 2010, S. R10.)

Petra Putz berichtet hier mit viel Witz, vor allem aber Einfühlungsvermögung und Liebe, von der Fahrt zu den Passionsspielen im Jahr 2000 als Begleiterin ihrer damals 90jährigen Großmutter. Die äußeren Umstände — lauter Langhaarige, Regen, Matsch, Lehm –, die ihr den Zugang über die eigene Erfahrung (Rockfestivals) ermöglichten, vor allem aber die geradezu jugendliche Begeisterung ihrer Oma („Meine Oma neben mir sah die Helden ihrer Jugend. Mit geradem Rücken verfolgte sie jede Geste, jedes Wort auf der Bühne. […] Hellwach entging ihr kein Detail der ‚Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu‘, die sie offenbar so gut kannte wie bekennende Dylanologen die Setliste aller Konzerte der letzten drei Jahrzehnte.“), hat ihre Einstellung zu Oberammergau und mutatis mutandis auch zur Bibel verändert. Der Bericht schließt:

„Meine Oma ist vor zwei Jahren gestorben. Mit 98 Jahren. Nicht weil sie krank war, sondern weil sie nicht mehr leben wollte und die Sehnsucht nach ihren Helden zu groß geworden war. Wenn ich das nächste Mal zur Passion fahre, werde ich vorher ausgiebig die Bibel studieren. Seit Oberammergau weiß ich, dass jedes Festival Spaß machen kann — man muss nur mit eingefleischten Fans hinfahren und die Texte kennen.“

Wer es irgendwie hinkriegt, diesen Artikel in die Finger zu bekommen: unbedingt lesen! Es lohnt sich.

In den vergangenen Wochen fühlte sich dieses Blog dem Prinzip der „Intertextualität“ a la Helene Hegemann verbunden. Mit anderen Worten: Ich habe mein Blog in der Fastenzeit mit „geklautem“ Material gefüllt. Zu meiner Ehrenrettung möchte ich jedoch anführen, daß ich die Texte immerhin übersetzt und teilweise auch gekürzt, umgestellt, neu kombiniert oder ihnen wenigstens durch den neuen Kontext eine neue Bedeutung gegeben habe. Und als guter Hegemannist habe ich ja meine Quellen mittlerweile offen gelegt (und das, obwohl mir noch kein anderer Blogger was nachgewiesen hat; aber ich habe ja auch nicht aus Blogs abgeschrieben…).

Aber warum habe ich das überhaupt gemacht? — Gute Frage. Nachdem ich ursprünglich solche Texte aufgenommen hatte, weil sie in meinem Kopf umherschwirrten und einfach raus wollten (warum fühle ich mich da bloß ans „Denkarium“ erinnert?), kam mir Anfang Januar die wilde Idee, die ganze Fastenzeit mit diesen Texten zu füllen, und ich fand die Idee spontan toll. Aus der wilden Idee wurde dann eine konkrete, ohne daß ich einen konkreten Hintergedanken gehabt hätte. Erst als mir dann allmählich doch die Texte ausgingen, fragte ich mich langsam, warum ich das eigentlich mache.

Für mich haben die Texte einen Sinnüberschuß, den man ihnen in ihrem Ursprungskontext zumindest nicht auf den ersten Blick zutrauen würde. Und wie kraß die Texte tatsächlich sind, habe ich auch erst gemerkt, als ich mir mal vorgestellt habe, wie sie im Kontext meines Blogs ohne Kenntnis des Ursprungs wirken könnten (und da habe ich mich dann erstmals über sie erschreckt…).

Ein wenig gewundert habe ich mich, daß ich die einzige Reaktion (positiv) auf einen Text bekam, an dem ich mich selbst lange gerieben hatte, da er selbst mir in seinem Ursprungskontext doch reichlich antichristlich vorkam (zumindest war es der antichristlichste Text, den ich während der Fastenzeit verarbeitet habe). Offenbar verliert der Text diese Konnotation im Kontext meines Blogs. Oder hat er sie schon im Original nicht, und ich habe mich nur von Vorurteilen leiten lassen?

Im Laufe meines Studiums bin ich immer wieder auf Michel Foucault und seine Wunschvorstellung vom „Tod des Autors“ gestoßen. Es solle um die Sache gehen, den Text, nicht den Autor, da der für den Inhalt des Textes keine Rolle spiele. Davon fühlte ich mich als jemand, der den Deutschunterricht für die Maxime „Was wollte uns der Autor damit sagen?“ gehaßt hat, weil das verunmöglichte, Texte auf die eigene Situation bezogen lesen zu können, spontan angesprochen.

In meinem Leben habe ich mehrfach die Erfahrung gemacht, daß gute Argumente nicht als Argumente ernst genommen werden, wenn sie von den falschen Personen vertreten werden. Stattdessen wird mit argumenta ad hominem gearbeitet; die Sache bleibt völlig auf der Strecke, und es spielen die Vorurteile gegenüber der Person eine größere Rolle für das Verständnis der Argumente als die Argumente selbst (diese Aussage darf auch gerne auf Institutionen wie die „Titanic“ bezogen werden). Aber je länger ich von der Bedeutung „der Sache“ geträumt habe, desto klarer ist mir geworden, daß das ganze nicht nur von der bei Foucault zugrundeliegenden strukturalistischen Idee der Selbstproduktion der Texte her nicht funktioniert. Der Kontext, in dem eine Aussage getätigt wird, bestimmt notwendigerweise ihre Wahrnehmung, folglich auch die Person und der Hintergrund des Autors.

Es kommt zwar nicht darauf an, was der Autor mit einem Text sagen wollte, aber für dessen Verständnis kommt es sehr wohl darauf an, welche Auffassung der Rezipient vom Autor und dessen Umfeld vertritt. Indirekt verändert also der Kontext die Aussage eines Textes, und das läßt sich überhaupt nicht vermeiden (oder wie es Martin Mosebach sinngemäß formuliert hat: wer 1000 Jahre auf den Knien lag, steht nicht im Bewußtsein auf, das Stehen sei die urchristliche Form der Gottesverehrung).

Warum ich das ganze gemacht habe, weiß ich jetzt immer noch nicht so genau. Vielleicht träume ich ja immer noch vom Tod des Autors und cyberpunkmäßig vom anonymen Internet, in dem man gefahrlos und spielerisch verschiedene Identitäten annehmen kann (und das nicht so bürokratisch wie bei Pen&Paper- oder rein virtuell wie bei Computer-Rollenspielen). Dann sollte ich aber schleunigst damit aufhören, denn persönlicher als in den letzten 6 Wochen geht’s ja kaum noch. Das Web 2.0 ist das absolute Gegenteil des ursprünglichen Traumes von Virtualität geworden. Es zwingt einen geradezu zur eigenen Identität und Authentizität. Aber was, wenn’s der böse Nachbar nicht will?

Im Dezember hatte ich mich schonmal ausführlicher mit dem Jakobusbrief beschäftigt, jetzt habe ich mir auch den Judasbrief mal näher angeguckt. Der Brief ist noch abgefahrener als der Jakobusbrief, und die besten Stellen hat die erste Rezeption im 2. Petrusbrief (das ganze 2. Kapitel) praktisch rausgestrichen. Nirgendwo sonst wird so hemmungslos aus den Apokryphen zitiert wie im Judasbrief.

Nun kann man ja auch das durchaus kritisch sehen (was ja der 2. Petrusbrief offenbar tat). Gerade in Verbindung mit dem Jakobusbrief deutet sich mir aber ein anderer Grund an, warum der Judasbrief (wie eben auch der Jakobusbrief) heute konfessionsübergreifend ein Schattendasein fristet: Beide Briefe sind eine Korrektur jeden allzu enthusiastischen „Jesus liebt dich“-Glaubens! Nicht nur bringen sie sehr deutlich das zukünftige Gericht zum Ausdruck, sie betonen vielmehr die Eschatologie in einem Maße, daß es geradezu weh tut. Denn die letzten Dinge haben längst begonnen, die Frevler stehen bereits unter dem Gericht, und wir sind zwar wie das aus Ägypten befreite Volk ein für alle Mal gerettet, doch stehen wir immer noch in der Gefahr, wie die Murrenden in der Wüste durch Unglauben der Vernichtung anheim zu fallen.

Klar, daß das der Moderne ganz und gar nicht gefiel und sie folglich mit diesen Briefen nicht viel anfangen konnte. Aber genau das ist ihr blinder Fleck, der durch die Herrenbrüder zu Recht in Frage gestellt und hoffentlich baldigst durch die Postmoderne korrigiert wird.

Ich will Schwefelpredigten und Drohungen von Fegefeuer und ewiger Verdammnis. Ich will eine Kirche, die ihre Mitglieder über den schmalen Pfad des Lebens peitscht und unmißverständlich darlegt, dass der Rest der Welt der ewigen Finsternis entgegengeht.

Über diese (und weitere) Sätze über eine „Toleranztheologie, bei der die Grenze zwischen Recht und Unrecht verschwimmt“ aus Anne Holts Krimi „Ein norwegische Gast“ werden an einem Ort zitiert, an dem man sowas ganz sicher nicht erwartet hätte: der „Christ in der Gegenwart“ vom 31.01.2010.

Thomas Meurer kommentiert zunächst in einer Art „captatio benevolentiae“, jeder Leser dieser Zeilen würde wohl zunächst „schlucken müssen, weil er eine solche Theologie und ein solches Kirchenbild einer eher unheilvollen Vergangenheit zuschreibt“. Und natürlich sei zu berücksichtigen, daß es sich ja nur um die Aussagen einer Romanfigur handelt.

Dann aber holt er aus: Könne es nicht sein, daß die Autorin hier die gegenwärtige Theologie daran erinnere, daß es auch Menschen gibt, die einer „alle und alles verstehenden Umarmung eher kritisch gegenüberstehen“? Die eine „leidenschaftliche, entschiedene und auch bewertende kirchliche Verkündigung wünschen“? Es könne schon sein, so schließt er, daß „von der Kirche genau das erwartet wird, was sie sich manchmal am wenigsten traut“.

Daß ich so etwas in CiG lesen darf, verstärkt meinen Eindruck, daß es mit der Theologie langsam wieder bergauf geht. Als ich die Zeitschrift damals im Studium mal im Probeabo hatte, war mir schon nach zwei Ausgaben klar, daß ich das einfach nicht ertrage – auch auf die Gefahr hin, „dumm“ zu sterben (oder eben Außenseiter zu sein). Wenn aber sogar dort schon Zweifel am blind-anbiedernden Kurs geäußert werden kann, bleibt eigentlich nur noch Publik-Forum als zu schleifende Bastion. 😉

Nachtrag auf besonderen Wunsch Elsas: Der Artikel heißt „Ich will nicht umarmt werden“ und steht auf Seite 51.

Nachtrag zur Lebenswende:

Kernargument dafür, daß in der Lebenswendefeier recht wenig von christlichen Kernwahrheiten die Rede ist, war ja, daß der Zielgruppe überhaupt erstmal die Grundlagen für diese Wahrheiten, nämlich die Denkmöglichkeit von Transzendenz, nähergebracht werden muß. Jetzt bin ich über ein Interview mit Weihbischof Dr. Hauke in der Herder-Korrespondenz 12/2009 (610-615) gestolpert, das das indirekt aus seinem Munde bestätigt:

Wie soll man draußen erzählen, was einem selbst wichtig ist? Man weiß das zwar alles schon, rein theoretisch. Dies aber zu formulieren ist äußerst schwierig, erst recht gegenüber Menschen, die keinerlei oder kaum Kenntnis vom christlichen Glauben besitzen. In der öffentlichen Verkündigung müssen wir so immer wieder verinnerlichen, dass wir es mit Menschen zu tun haben können, die keinen religiösen Hintergrund haben. Wir können deshalb nicht ohne weiteres beispielsweise von Gnade, Sühne, Barmherzigkeit reden; das wird im außerkirchlichen Bereich kaum verstanden.

[…]

Vor allem im Umgang mit erwachsenen Taufbewerbern spüre ich immer wieder, wie ich um Worte ringe. In der gemeinsamen Bibellektüre mit den Taufbewerbern versuche ich dann zuerst den Horizont zu weiten auf ein geschichtliches Denken, auf dieses sinn-deutende Denken der Bibel hin.Wir dürfen dabei aber nicht nur die Schwierigkeiten sehen. Durch dieses Herausgefordertsein in einem nichtreligiösen Umfeld klärt sich auch vieles für uns Christen selbst, was den eigenen Glauben angeht.

[…]

Der Religionsunterricht ist eine große Chance, Menschen mit dem Glauben bekannt zu machen, freilich zunächst auf der Informationsebene. Wir müssen erklären, was Christen glauben, was ihr Leben sinnvoll macht. Wir sagen den Schülern zuallererst, dass es sinnvoll ist, sich mit dem Glauben zu beschäftigen, um in einer christlich geprägten Kultur zurechtzukommen. […] Natürlich aber müssen wir auch damit rechnen, dass viele das lediglich zur Kenntnis nehmen, es sie dann aber nicht weiter berührt. Bei manchen aber entsteht daraus die Frage nach dem Sinn des Ganzen.

[…]

Wenn ich diese [missionarischen] Projekte vorstelle, betone ich zunächst immer, dass sich, was in Erfurt beispielsweise möglich ist, nicht überall eins zu eins übersetzen lässt. Entscheidend ist, dass wir lernen, quasi von außen zu schauen, was Kirche tut. Das ist sehr heilsam.Wir müssen uns doch beispielsweise immer wieder fragen, mit welchen Worten wir formulieren, was uns wichtig ist. Oder gucken wir uns doch beispielsweise einmal die Schaukästen unserer Gemeinden an. Was findet dort jemand, der bislang keinen Kontakt zur Kirche hat und wissen möchte, was katholische Kirche eigentlich ist? Wir müssen uns viel öfter noch von außen anschauen und fragen, ob wir wirklich verständlich sind. Schreiben wir doch in Schaukästen und auf die Gemeinde-Homepage, was Fronleichnam oder Pfingsten für uns bedeutet!

Das Interview ist übrigens auch darüber hinaus durchaus lesenswert, da geht’s auch um andere missionarische Projekte (übrigens sogar das Kolumbarium! – deshalb geht es allerdings gerade nicht um die Frage der Feuerbestattung) und deren Hintergründe. Nett war etwa:

In dem „Buch der Anliegen“ im Dom stand jüngst: „Gott ich glaube nicht an Dich, aber pass’ auf meine Oma auf, die jetzt im Himmel bei Dir ist.“ Natürlich lässt sich sagen, dass das widersprüchlich ist: Ich habe die Sehnsucht nach Geborgenheit, aber ich habe auch Angst vor der Konsequenz, dass, wenn ich mich öffne und sage, es gibt einen Gott, ich mich ja auch ein bisschen um diesen Gott kümmern muss. Wir als Kirche sollten uns aber immer fragen, wie hoch unsere Schwellen sind, und ob es uns gelingt, den Menschen zu zeigen, dass sie etwas gewinnen können und nicht nur, dass sie etwas verloren haben.

Und dann gibt’s noch zwei volle Breitseiten:

Ich erlebe derzeit viel zu viel Verlustangst in der Kirche und die Angst, sich auf Neues einzustellen. Es herrscht ein Geist der Besitzstandswahrung. Dabei merkt man, dass es nicht weiter geht wie bisher, Gesellschaft und Kirche verändern sich so schnell. Die Kirche in Deutschland erlebt einen echten Umbruch und vielleicht sind wir in den neuen Ländern in diesem Prozess schon etwas weiter. Wir Christen sind herausgefordert, neu zu denken und das Wertvolle unseres Glaubens neu zu sehen. Es ist keine Katastrophe, man kann auch in der Diaspora als Christ leben. Kirche kann auch in dieser Situation existieren, uns droht nicht der Super-GAU. Das zu akzeptieren und zu verstehen ist entscheidend, damit wir uns nicht lähmen lassen. Die Anfrage eines Menschen von außen, der mich ganz unvorbelastet nach der Kernaussage des Christentums fragt, darf mich nicht in Empörung verstummen lassen. Ich brauche keine Angst zu haben vor den Fragen der Menschen.

[…]

In zehn oder zwölf Jahren werden wir keine Pfarrer mehr an jedem Ort haben, auch dort nicht mehr, wo heute noch welche sind. Wir müssen also die Gemeinden langsam wieder damit konfrontieren, dass der Hirt der Gemeinde Christus selbst ist. Christus leitet die Gemeinde. Ich wage zu sagen: Dass Christus das Zentrum der Gemeinde ist und nicht der Pfarrer, das haben die Gemeinden und auch viele Pfarrer selbst viel zu sehr verdrängt.