Hünermann fiel mir in diesem Jahr außerdem bei (wenn ich mich recht entsinne) gleich zwei Tagungen (vielleicht war die eine davon schon 2008) mit einer These zum Stellenwert der Beschlüsse des zweiten Vatikanums auf. Er räumt nämlich zwar unumwunden ein, daß das Konzil natürlich keine Dogmen verkündet hat. Den Umkehrschluß aber, daß es dann also auch keine Canones und folglich keine Anathematismen verkündet hat und damit das Bestreiten einzelner Aussagen und Lehren des Konzils keine unmittelbare Kirchenstrafe nach sich ziehen kann, läßt er nicht gelten. Denn zum einen handle es sich ja um einen gültigen, nur halt nicht unfehlbaren Akt des außerordentlichen Lehramts (soweit ja richtig), zum anderen müsse man doch aber auch die Textgattung beachten. Tatsächlich habe das Konzil deswegen keine Dogmen verkündet, weil es das, was es vorhatte, gar nicht in Einzeldogmen mit Canones und Anathematismen fassen konnte. Wer jetzt aber an die pastorale Ausrichtung des Konzils denkt und, unwissend, worauf das hinauslaufen soll, zustimmen will, wird äußerst überrascht sein, wenn er hört, welche Textgattung Hünermann auf das Konzilskompendium angewendet haben möchte: Das des Verfassungstextes. Ich wiederhole: Das Zweite Vatikanische Konzil hat nach Peter Hünermann nicht mehr und nicht weniger als einen Verfassungstext der Kirche beschlossen!
Da ist ganz klar: Wer auch nur ein einziges Jota hinwegnehmen will, muß mit dem Kirchenbann bestraft werden – wie eben die Piusbruderschaft. Hünermanns These ist dermaßen absurd, daß ich sie überhaupt nicht mit ihrem Verfasser zusammenbringen kann. Sollte der Kirche etwa 1935 Jahre lang gefehlt haben, was zum Heile nötig ist, nämlich ihre „Verfassung“, die 16 „Heiligen“ Schriften das II. Vatikanischen Konzils: Sacrosanctum Concilium, Inter Mirifica, Lumen Gentium, Orientalium Ecclesiarum, Unitatis Redintegratio, Christus Dominus, Optatam Totius, Perfectae Caritatis, Gravissimum Educationis, Nostra Aetate, Dei Verbum, Apostolicam Actuositatem, Dignitatis Humanae, Ad Gentes, Presbyterorum Ordinis und Gaudium et Spes?
Warum fehlen dann aber Inter Mirifica, Christus Dominus, Optatam Totius, Perfectae Caritatis, Gravissimum Educationis, Apostolicam Actuositatem, Ad Gentes und Presbyterorum Ordinis im Denzinger-Hünermann? Am formalen Stellenwert der Texte kann es jedenfalls nicht liegen, da Nostra Aetate und Dignitatis Humanae es mit der formal niedrigsten Stufe der „Erklärung“ in die Auswahl geschafft haben, die aussortierten Texte aber bis auf Gravissimum Educationis allesamt Dekrete sind. Folglich muß es an ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung liegen, und – schwupps! – schon können es keine Verfassungstexte mehr sein, weil sie andere Texte voraussetzen, um überhaupt ihre eigene Bedeutung zu erlangen, Verfassungstexte aber die grundlegende Eigenschaft haben, aus sich selbst heraus Geltung zu beanspruchen.
Und überhaupt: Wieso sollten die Beschlüsse des 21. ökumenischen Konzils wichtiger sein als das Glaubensbekenntnis des 1.? Oder grundsätzlicher: Wenn es überhaupt einen Verfassungstext der Kirche geben sollte (und ich betone hier den Konjunktiv, denn der christliche Glaube ist eben keine Buchreligion!), dann müßten das doch die 72 Bücher der Heiligen Schrift sein!
Vielleicht verstehe ich auch die mündlichen Ausführungen Hünermanns, die ja auf Tagungen fragmentarisch bleiben müssen, einfach bloß falsch. Möglicherweise meint er ja was ganz anderes. Auf eine schriftliche Quelle dazu bin ich bisher nicht gestoßen (ehrlichgesagt verspürte ich bisher auch noch nicht die nötige Demut, aktiv nach einer zu suchen). Salvo meliori iudicio muß ich aber in beiden Fällen sagen: Was hat ihn da bloß geritten?!
Man könnte darauf hinweisen, dass es ja seit dem Konzil und besonders die ganzen 70er Jahre hindurch offizielle Arbeiten an einer "Lex Ecclesiae Fundamentalis" (man google es) gegeben hat. Spätestens mit dem neuen CIC war dieser absurde Gedanke gottlob vom Tisch. Gutes neues Jahr!