In einer Gesprächsrunde äußerte mein Pfarrer einmal, es verwundere ihn, wie sich Joseph Ratzinger entwickelt habe: Die wissenschaftliche Karriere fast wegen Modernismusverdacht gescheitert, auf dem Konzil noch einer der „jungen Wilden“, in den Siebzigern dann plötzlich der Bremsklotz an der Modernisierung der Kirche und später dann der „Panzerkardinal“. Auch andere wunderten sich darüber, daß „Einführung ins Christentum“ und diverse Publikationen der Glaubenskongregation von derselben Person verfaßt sein sollen. Mein Pfarrer konnte sich das ganze nur mit ’68 erklären: Der Professor Ratzinger sei völlig schockiert vom Verhalten der Studenten gewesen und habe dabei „einen Knacks“ bekommen.
Auf dem Hintergrund meiner Vermutung eines Epochenwechsels um 1970 erschließt sich mir diese Vermutung plötzlich in einem positiven Sinne – mein Pfarrer hatte das rein apologetisch gemeint, so im Sinne von: der kann nichts dafür. Doch, das kann er, und vielleicht haben die ’68er tatsächlich dafür gesorgt, daß dem immer noch jungen Professor Ratzinger aufging, daß die Moderne nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann. Während man ihm dies in der Kirche aber als Rückschritt auslegte, war er damit eigentlich auf der Höhe der Zeit, ja sogar an der Speerspitze der Entwicklung und damit seiner Zeit ein wenig voraus.
Das hatte er gemeinsam mit dem gleichalten (und vor einem Monat verstorbenen) Bernhard Stoeckle OSB, der der „Glaubensethiker“ schlechthin unter den Moraltheologen war (und zu den Glaubensethikern wird auch, na: wer gerechnet? Genau: Joseph Ratzinger). Ohne auf die damalige Konfliktlage zwischen der „autonomen Moral“ und der „Glaubensethik“ eingehen zu wollen: Einer der Gründe Stoeckles, gegen die autonome Moral zu schreiben, war die Beobachtung, daß die Zeit der Rationalität und menschlichen Machbarkeit vorbei war, daß es wieder Menschen, noch dazu weit von der Kirche entfernte, gab, die auf der Suche nach Spiritualität und Transzendenz waren. Wenn man Stoeckles 35 Jahre alte Kampfschrift „Grenzen der autonomen Moral“ liest, ist man überrascht, wie hellsichtig und zukunftsweisend einige Stellen wirken – und schockiert, wenn man in Dietmar Mieths Antwortartikel genau diese Passagen als Beleg für die traditionalistische Gesinnung Stoeckles wiederfindet! (Während Stoeckle gesellschaftliche Entwicklungen beschreiben wollte, die natürlich noch in den Anfängen steckten, meint Mieth, Stoeckle spreche hier von zurückgezogenen, kleinen Konventikeln.)
Mit anderen Worten: Die Theologie war in den Siebzigern dermaßen damit beschäftigt, „modern“ zu werden, daß sie nicht bemerkte, daß „modern“ schon wieder veraltet war, sie also zu spät kam. Im Gegenteil, den wenigen wirklich fortschrittlichen Theologen wurde sogar noch Traditionalismus vorgeworfen – weil man schockiert auf Kritik an der Moderne und Wiederentdeckung der Tradition reagierte. Auf diese Weise hat sich die Kirche auf Jahrzehnte selbst paralysiert, und es ist alles andere als zufällig, daß sich die (im gläubigen Sinn) kirchliche Jugend als „Generation Benedikt“ formiert. Geistig ist unser Papst immer noch der gesellschaftlichen Entwicklung voraus.