Ein wenig spät bin ich dran mit einem Posting zum 50. Jahrestag des Mauerbaus. Da ich am Samstag ja auswärts war, habe ich mich erst gestern durch die Zeitung vom Samstag gewühlt (und war danach nicht mehr fähig, mein ungütes Gefühl zu verbalisieren).
Ein doppelseitiger journalistische Artikel in der FAZ hatte den treffenden Titel „Der Tag, an dem sich Berlin im Stich gelassen fühlte“, zeigt auf, mit welcher Gelassenheit Nicht-Berliner auf den Mauerbau reagierten und wie das in Berlin (West) zu apokalyptischen Gefühlen führte. In meinen Augen eine Ungeheuerlichkeit! Da setzt sich der Osten über das Vier-Mächte-Statut hinweg (das die Sowjets drei Jahre zuvor allerdings einseitig aufgekündigt hatten), und die Westmächte drehen Däumchen, während sie vorgeführt werden. Nur der damalige Regierende Bürgermeister Brandt bezeichnete die Sperranlagen als das, was sie waren: „Kennzeichen eines Konzentrationslagers“.
Aber ob Bonn, ob London, ob Paris oder Washington: Keine allzu deutliche Positionierung, mehrere Tage bis zum Übergeben einer Protestnote, die auch wieder Deutlichkeit vermissen läßt. Alles in allem: Es ist doch gar nicht mal so schlecht, was da passiert ist. Genau das versucht auch Egon Bahr in einem fast ganzseitigen Beitrag über die politischen Hintergründe im Westen zu erklären, wobei man den Eindruck gewinnt, er versuche eher sich selbst als andere zu überzeugen. Aus dem glücklichen Ausgang von 1989, den 1961 niemand zu erträumen gewagt hatte, schließt er, daß die „besonnene“ Reaktion die richtige war.
Daß dem aber eigentlich nicht so war, zeigen die Details des Jahres 1961. Denn am 13. August wurde nicht die eigentliche Mauer gebaut, sondern die Sektorengrenze nur mit (beweglichem) Stacheldraht gesichert. Der eigentliche Mauerbau begann erst am 17. August. Warum? Weil DDR und Sowjets erst die westliche Reaktion abwarten wollten. Nehmen die Westalliierten ihr im Vier-Mächte-Statut verbrieftes Recht auf freie Bewegung in gesamten „Groß-Berlin“, also auch im sowjetischen Sektor, wahr, indem sie einfach den Stacheldraht zur Seite räumen? Nein, das taten sie nicht, und sie brauchten auch fast eine Woche, um sich auf eine gemeinsame Protestnote zu einigen und sie in Moskau zu überreichen. Erst angesichts dieser praktischen Null-Reaktion wurde mit schon seit Monaten logistisch vorbereiteten dem Bau der Mauer begonnen. Bestätigt wurde diese Deutung durch den Tod des Mauerflüchtlings Peter Fechter, der bei Erkletter der Mauer niedergeschossen wurde, nach Osten zurückfiel und dort fünfzig Minuten lang verblutete — unter den Augen eines amerikanischen GIs, der nach dem Vier-Mächte-Statut das Recht gehabt hätte, die Mauer zu übersteigen, aber sich trotz Aufforderung durch umstehende West-Berliner mit Berufung auf anderslautende Befehle weigerte. Die Westalliierten hatten nicht nur den Bau der Mauer, sondern auch die Aufgabe ihrer Rechte im Ostteil der Stadt akzeptiert.
Warum das so war, erklären zwei entlarvende amerikanische Zitate: „Keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg.“ (Präsident Kennedy) Und: „Wir wollen abwarten und sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Schließlich hat die DDR-Regierung uns einen Gefallen getan. Dieser Flüchtlingsstrom wurde peinlich.“ (Foy D. Kohler, stellvertretender Außenminister) Auch Egon Bahr erwähnt den Flüchtlingsstrom und daß der Westen bereit gewesen war, sich an stärkeren, nämlich doppelten Kontrollen beim Sektorenübertritt zu beteiligen, um die kaum noch zu integrierende Masse an Flüchtlingen zu reduzieren. Er zieht sogar den Schluß, daß der Mauerbau dem Westen in die Hände spielte. Denn trotz aller Propaganda glaubte wohl niemand ernsthaft, daß die Mauer nicht gegen die eigene DDR-Bevölkerung gerichtet und damit Eingeständnis des Scheiterns des sozialistischen Systems war. Nur einen Aspekt übergeht er: Daß der Mauerbau für den Westen eine Art Gordischen Knoten zerschlug, denn so mußte er nicht eingestehen, daß er eigentlich auch keine Flüchtlinge mehr haben wollte. Der Osten hat mit dem Mauerbau ein Problem des Westens gelöst, das dieser ideologisch eigentlich gar nicht hätte haben dürfen und deshalb nur um den Preis des Gesichtsverlusts hätte überwinden können. Stattdessen hat der Osten sein Gesicht verloren.
Daß die Deutung, mit der „besonnenen“ Reaktion der dritte Weltkrieg verhindert worden sei, nicht weit trägt, zeigen die deutlich unbekannteren, aber dramatischeren Ereignisse des Oktobers 1961. Eigenmächtig und offensichtlich mit mächtig Oberwasser, daß der Mauerbau so problemlos geklappt hatte, begann die DDR, Angehörige der Westalliierten am Checkpoint Charlie, dem nunmehr einzigen Grenzübergang für Amerikaner, Briten und Franzosen in den Ostteil der Stadt, zu kontrollieren. Das ging jetzt dann doch auch den Westalliierten zu weit, und sie taten, was sie mit kaum mehr Konfliktpotential bereits im August hätten tun können: Sie reagierten scharf und mit militärischen Drohgebärden (man beachte die Vollbremsung bei 1:12 und 2:38 — das hätte auch anders ausgehen können!):
Im großen und ganzen entsprach die Reaktion des Westens (Adenauer eingeschlossen) keineswegs den Lippenbekenntnissen und Sonntagsreden von Freiheit und Demokratie, sondern der Kajaphas-Machtlogik: Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Nur daß es hier um 17 Mio Menschen in der SBZ und nochmal 2 Mio weitere in Westberlin ging… Unbestritten, daß Gott auch aus solchen Situationen noch Gutes wachsen lassen kann, aber nicht weil, sondern obwohl die Entscheidung so „besonnen“ ist. Mir ist nicht wohl, wenn unschuldiges Leben gegen anderes unschuldiges Leben abgewogen wird.
Brandt wäre für diesen Vergleich heute wahrscheinlich gemaßregelt und gerügt worden.