Medien

In der heutigen FAZ gibt es in der Beilage Bilder und Zeiten einen interessanten Artikel von Mercedes Bunz (ja, sie heißt wohl wirklich so, auch wenn mir Google das nicht glauben wollte…) über die Folgen der „digitalen Revolution“ für das menschliche Denken (Artikel online nur für Geld). Diese Frage ist ja schon vor einem Jahr etwas ausführlicher diskutiert worden, wenngleich auf sehr unterschiedlichem Niveau.

Bei Frau Bunz habe ich allerdings einen Gedanken gefunden, den ich bisher so nicht gelesen hatte, nämlich zur Funktion des Experten. Den mache das Internet nämlich keineswegs überflüssig, aber es verändere seine Funktion. Bisher zeichnete sich ein Experte dadurch aus, daß er auf einem bestimmten Gebiet mehr wußte als andere. Mit dem Internet und vor allem seiner leichten Durchsuchbarkeit mittels Google und Konsorten ist das bloße Wissen aber kein Vorteil mehr. Das kann nämlich jeder ohne große Anstrengung erlangen, wenn er nur weiß, was er sucht. Es reicht aber nicht, die bloßen Fakten zu finden, man muß sie auch einordnen und bewerten können. Genau das sei in Zukunft die Legitimation des Experten, schreibt Frau Bunz, nämlich im Informationsüberfluß den strukturellen Überblick zu behalten. Er kann sich also nicht mehr durch bloßes Faktenwissen (bösartiger gesagt: durch Herrschaftswissen) legitimieren, sondern ist der ständigen Überprüfung ausgesetzt, was sowohl die behaupteten Fakten als auch die daraus abgeleitete Plausibilität seiner Strukturierung derselben angeht.

Dieser Gedanke birgt für mich eine unmittelbare Plausibilität (oder anders gesagt: mir fallen sofort genug Fakten ein, die ich bereits weiß, die in diese Strukturierung von Wirklichkeit nahtlos einzupassen sind und zugleich durch die Struktur in einer Weise widerspruchsfrei erklärt werden können, daß aus dieser Struktur ein tatsächlicher Wissenszugewinn hervorgeht, der mehr ist als das Zusammenführen an sich bereits bekannter Daten [was in dem Artikel als der nächste Schritt der Digitalisierung dargestellt wird: Suchmaschinen, die intelligent auf Anfragen reagieren und nicht einfach auf schon vorhandene Seiten verweisen, sondern aus als verläßlich bekannten Daten durch Kombination neues „Wissen“ {ich habe einen anderen Wissensbegriff als Frau Bunz} generieren, manchem vielleicht schon unter der Chiffre „Semantisches Web“ oder im Kontext von Überlegungen zum „Web 3.0“ über den Weg gelaufen] — aber ich schweife ab). Unmittelbarste Bestätigung dieser Veränderung ist das Erlebnis, wie ein Redner noch während seines Vortrags per Twitterwall „auseinandergenommen“ wurde und de facto der Lüge (natürlich hatte er die Wahrheit nur ein wenig „gedehnt“ und andere Fakten verschwiegen) überführt wurde.

Bei genauerer Betrachtung birgt diese soziologische Struktur(ierung) aber auch einen Erklärungsansatz für das, was sich in unserer Kirche in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt hat, im allgemeinen und die Blogoezese im besonderen. Als Experten werden im Artikel Journalisten, Ärzte, Lehrer und Ingenieure aufgezählt, wenn man hier die Ärzte durch Priester und die Ingenieure durch Theolog(ieprofessor)en ersetzt, hat man gleich die Lieblingsthemen der blogoezesanen und postmodernen (mitunter meinetwegen auch „traditionalistisch“ angehauchten) „Kirchenkritiker“ erfaßt: Journalisten, die Fakten in einer Weise darstellen, die es ihnen im Gegensatz zu den Fakten selbst ermöglicht, etwas gegen den Papst und die nicht-angepaßten Bestandteile der Kirche zu schreiben; Priester, die ihren eigenen liturgischen Vogel als den Heiligen Geist der Liturgiereform ausgeben; ein Religionsunterricht, in dem man alles mögliche über die Weltreligionen, aber nicht viel Substantielles über Jesus Christus (ge)lernt (hat); und Theologieprofessoren, die vor lauter Detailwissen dermaßen in ihren persönlichen Elfenbeinturm abgedriftet sind, daß natürlich alle anderen daran Schuld sind, daß ihre Vorstellungen nicht wirklichkeitskompatibel sind.

Oder anders gesagt: Das Internet könnte tatsächlich die Quelle für das Erstarken, ich sage mal vorsichtig, des papsttreuen Katholizismus in unseren Landen sein. Weil es eben prinzipiell jedem ohne großen Aufwand möglich ist, die kirchenpolitisch relevanten Grundlagentexte im Wortlaut einzusehen und somit in der Meinungsbildung nicht mehr abhängig von den Experten zu sein, die mitunter die Darstellung der Fakten an ihre vorgefertigte Struktur anpassen. Die Experten haben auch in der Kirche ihre „Gatekeeperfunktion“ verloren, das bloße Wissen ist jedem zugänglich, und entscheidend ist nicht mehr, möglichst detailliert Fakten zu kennen und den Gesprächspartner durch solches Herrschaftswissen zu unterwerfen (ok, das ist jetzt zu böse formuliert, an sich will ich niemandem bewußte böse Absicht unterstellen, aber die braucht es gar nicht, bloßer Irrtum reicht vollkommen zur Erklärung aus), sondern eine dem Gegenüber plausible Deutung und Strukturierung dieses Einzelwissens anzubieten. Das aggressive Reagieren auf die „Verweigerung der Gefolgschaft“, wie sie sich insbesondere in der Blogoezese manifestiert, in Form des persönliche Angriff, der Schubladisierung und des als ewig gestrig Verächtlichmachens läßt sich folglich mit dem Statusverlust erklären, der einen Experten trifft, der nur Fakten, aber keine Strukturierung anzubieten hat, und dabei gar nicht versteht bzw. verstehen kann, warum er plötzlich mit Widerspruch konfrontiert wird, wo er doch der Experte ist, der die Fakten kennt.

Leider scheint in der Theologie wie auch in den kirchlichen Strukturen noch voll das alte Expertentum zu herrschen. Ich hatte einen Professor, der aus dem Stand bis in die Details hinein das Denken eines bestimmten Theologen in einer bestimmten Monographie reproduzieren konnte, aber nicht in der Lage war, seine Vorlesungen so zu strukturieren, daß sich bei seinen Studenten aus diesen vielen Einzelaspekten eine Gesamtkonzeption hätte entwickeln können. Genauso, wenn auch nicht ganz so extrem, ging’s mir übrigens mit dem „Handbuch der Dogmatik“. Da stand für micht ganz viel Blabla drin, mitunter durchaus interessante Details, aber mir fehlte die Struktur, in die ich diese Details hätte einpassen können. Ganz anders in Otts angeblich nachkonziliar einfach nicht mehr zu gebrauchendem „Grundriß der Dogmatik“. Hier gab es knallharte Fakten, mitunter sehr sehr knapp und gedrängt, dafür war das ganze Buch nichts anderes als Druckerschwärze gewordene Struktur; die wichtigsten Seiten dieses Buches sind die mit dem Inhaltsverzeichnis. Noch extremer übrigens in der Summa Theologiae von Thomas von Aquin, den ich genau dafür liebe, in einem einzigen Artikel soviel geballte Details abzuarbeiten, daß man über jeden Satz eine eigene Doktorarbeit schreiben könnte, aber zugleich immer die Gesamtkonzeption im Blick zu haben.

Daß mir zur Schreibweise des Thomas in seinen Summen gerade der Begriff des „Hypertextes“ — egal, wo man anfängt zu lesen, man kommt immer irgendwie zu allem, muß das Werk also nicht in der Linerarität lesen, in der es geschrieben wurde (obwohl es manchmal hülfe 😉 — einfiel, macht es für mich nur noch plausibler, die Grundlage des Wandels im Internet zu sehen.

Nachtrag: Noch mehr Hyptertext ist der Weltkatechismus — und gerade das ist, warum ich ihn dem deutschen Katechismus vorziehe. Beide habe ich noch nie von Deckel zu Deckel gelesen, im Weltkatechismus kann ich aber auf eine konkrete Frage schnell eine knappe Antwort finden, im deutschen würde ich mich dumm und dämlich suchen. Übrigens ist die Frage-Antwort-Form der früheren Katechismen auch eindeutig das Vorbild für die FAQs. 🙂

Heute früh kam die Mitteilung meines Twitterkollegen: „Hoi Martin! Ich nehme deine Einladung für heute gerne an. Ich hoffe es stört nicht, wenn ich in Töffkluft ‚pilgere‘. …“ Ich konnte ihn beruhigen: „Hoi André. Freue mich. Auch ich trage ein besonderes Outfit. Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich in barocker Aufmachung daherkomme.“

Aus der „Twitter-Predigt“ von Abt Martin (Einsiedeln) zu Pfingsten 2010, gefunden via Pixelfreund.

Daß die Blogoezese eine Art Stammtisch ist, zeigt sich im Übrigen gerade an der Pseudonymität. Dazu habe ich meine 200 Feed-Abonnements ausgewertet, von denen etwa 72% kirchlichem Bezug haben.

Bei den von mir als privat eingestuften Blogs bloggten gerade einemal 9,72% der Blogger unter Realnamen (d.h. hatten ihren Realnamen auf dem Profil stehen). Darüber hinaus waren weitere 43,52% sicher identifizierbar (entweder durch E-Mail-Adressen, Hinweise in den gebloggten Texten oder auf anderen Blogs oder durch sehr spezifische persönliche Marotten, die mit Google eine leichte Identifikation wahrscheinlich erscheinen lassen). Nur 22,22% der Blogger würde ich eine weitgehende Verschleierung ihrer Identität zuschreiben, der Rest (24,54%) liegt dazwischen.

Zwischen den Blogs mit kirchlichem Bezug (Blogoezese) und denen ohne gab es hier kaum Unterschiede. Die kirchlichen Blogs liegen was die Kaum-Identifizierbarkeit (21,54%) und „den Rest“ (24,1%) angeht sogar knapp drunter. Bezieht man aber die Blogs von Priestern und Ordensangehörigen mit ein, bei denen der Status (privat/beruflich) naturgemäß unklar ist, dann sieht das ganze nochmal deutlich weniger „anonym“ aus: Ganze 4,35% aus dieser Gruppe sind nach meiner Einschätzung nicht leicht identifizierbar und nur 21,74% bilden den „unklaren Rest“.

Im Gegensatz dazu liegen offizielle und kommerzielle Blogs sowie Blog von „Selbstverkäufern“ wie freien Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern, die ein offenkundiges Interesse daran haben, sich als Person unter Ihren richtigen Namen bekannt zu machen, bei der „Anonymität“ nahe Null (ein wenig baff war ich ja, daß auf Elsas Blog, deren Realnamen wohl jeder in der Blogoezese kennen dürfte, selbiger nicht zu finden war — hattest Du den nicht mal da stehen, noch dazu mit einem Foto, anhand dessen ich Dich aber nie erkannt hätte? :-). Nur schwer identifizierbar ist hier niemand, eine auf den ersten Blick unklare Identität haben hier 10%, und das ausschließlich bei den offiziellen, nicht-kommerziellen Blogs; kirchliche Blogs dieser Kategorie sogar nur zu 1,9%.

Darin sehe ich a) eine Bestätigung, daß private Blogs eine andere Funktion haben als die offiziellen Blogs und deutlich näher an der Privatsphäre sind, und b) daß sogar weniger Blogoezesane ein aktives Interesse an Verschleierung ihrer Identität haben als die Betreiber von Blogs ohne kirchlichen Bezug.

Natürlich könnte man mir hier den einen oder anderen Zirkelschluß unterstellen (immerhin sind die Einteilungen privat, offiziell, kommerziell und „Selbstdarsteller“ bereits von der zu bestätigenden Theorie her gebildet) und vor allem eine nicht ausreichende Datenbasis (200 Blogs sind zwar ok, aber nicht der extrem hohe Anteil kirchlicher Blogs, da dadurch die Vergleichbarkeit zu den nichtkirchlichen Blogs nicht wirklich gegeben ist). Aber dafür ist das hier ein Blogeintrag und kein wissenschaftlicher Artikel 🙂

(The End)

Die spezifische Funktion eines persönlichen Blogs insbesondere mit der Möglichkeit des Feedbacks bringt uns praktisch zum Kern der ganzen Geschichte: Bloggen hat einen starken privaten Aspekt, erfolgt aber in der Öffentlichkeit. Normalerweise liest man vor allem Gleichgesinnte und wird auch von Gleichgesinnten gelesen. Ein kontroverser öffentlicher Diskurs sieht anders aus — und erfolgt auch woanders. Lange Rede, kurzer Sinn: Meines Erachtens liegt das Mißverständnis von Herrn „Meier“ darin, das Internet im allgemeinen und das Bloggen im besonderen als massenmediale Kommunikation mißzuverstehen, also als weiteres Medium neben Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen (dieses Mißversändnis hat uns ja auch die Sendezeitbeschränkungen im Internet eingebrockt…).

Tatsächlich gibt es diese Funktion des Internets, aber nicht nur haben die klassischen Medien das größte Problem, einen profitablen Internetableger zu schaffen, sondern diese Funktion des Internets ist zudem noch die jüngste in der technischen Entwicklung und eigentlich ein (technisch vorübergehend notwendiger) Irrweg. Daher ist es völliger Unfug, das Internet an massenmedialen Kriterien zu messen. Vielmehr sind die ursprünglichen Vergleichmedien das Telefon und der Brief: Abgesehen vom Datenaustausch (also rein maschineller Kommunikation) beginnt die Geschichte des Internets (nicht zu verwechseln mit dem World Wide Web) mit der E-Mail, die die Vorteile des Telefons (schnelle Erreichbarkeit des Kommunikationspartners) mit denen des Briefes (asynchrone Kommunikation: man ist nicht darauf angewiesen, daß der Kommunikationspartner zur selben Zeit zur Kommunikation bereit ist) kombiniert. Damit ist bereits der vielleicht nicht private, aber doch vertrauliche Ursprung der Kommunikation im Internet angesprochen.

Während jedoch die Telefonkonferenz nie wirklich ihr geschäftliches Habitat verlassen hat, kam es schon recht früh zu halb öffentlichen Kommunikationsarten, von der Mail mit mehrern Empfängern zu technischen „Schwarzen Brettern“ als Empfängern, von denen sich beliebige Interessierte die Nachrichten zu bestimmten Themen abholen konnten — dem Usenet. Hier ist die Geburtsstunde der eigentlichen Besonderheit des Internets und seiner eigentlichen medialen Revolution: Die Ermöglichung einer Kommunikation, die zwischen der 1:1-Kommunikation und der 1:n-Kommunikationsweise der Massenmedien liegt, nämlich der Kommunikation zwischen (theoretisch) beliebig vielen Kommunikationspartnern mit gleich starkem Sende- wie Rückkanal (n:m-Kommunikation; die Bezeichnungen 1:1, 1:n und n:m habe ich der Datenbanktheorie entlehnt, vermutlich gibt es aber ähnliche Überlegungen auch schon in der Kommunikationswissenschaft, würde mich jedenfalls wundern wenn nicht).

Diese Kommunikationsart ist vor dem Internet medial nicht (oder nur eingeschränkt, nämlich durch die genannte Telefonkonferenz) reproduzierbar, aber keineswegs neu, sondern geradezu eine klassische gesellschaftliche Situation: Der Kneipenstammtisch. (Natürlich gibt es auch noch mehr solcher Situationen, vom Spieleabend über den Workshop bis zum Gemeindecafé, oder pastoraler: vom Hauskreis bis zur PGR-Sitzung, aber der Stammtisch kommt irgendwie der Blogoezese näher…) Man trifft sich in geselliger Runde an einem mehr oder weniger öffentlichen Ort (in beiden Fällen, Stammtisch und Blogoezese, gibt es privatwirtschaftliche Anbieter, den Kneipier bzw. Google, WordPress usw., der seinen Raum zur Nutzung anbietet; rechtlich gesehen, handelt es sich nicht um einen öffentlichen Raum, der Anbieter hat hier das Hausrecht, es liegt aber in seinem Interesse, in der Regel niemanden rauszuschmeißen) und unterhält sich über dies und das, was einen gerade interessiert. Man kennt sich untereinander, stellt aber auch nicht zu viele (vor allem keine unangenehmen) Fragen. Manchmal kommen neue Leute dazu, die man erstmal freudig begrüßt, soweit sie sich nicht gleich völlig daneben benehmen, manchmal verabschieden sich welche oder kommen nicht vom Zigarettenholen zurück. Gelegentlich bleibt mal ein Unbeteiligter stehen und hört zu, ohne sich an der Diskussion zu beteiligen. Vielleicht steigt er irgendwann mit ein oder macht in Zukunft einen großen Bogen um diesen angeheiterten Tisch. (Völlig unhöflich hingegen wäre es, wenn jemand käme, die Stammtischler nach ihren Namen und ihren Berufen aushorchte und am nächsten Tag in der Zeitung der Nachbarstadt sich darüber ausließe, was Herr xy aus dem Nachbardorf, angestellt da und dort, angeblich und noch dazu aus dem Zusammenhang gerissen über seinen Chef am Stammtisch gesagt hat. Das würde zurecht als Eindringen in die Privatsphäre verstanden werden, ist aber natürlich rein hypothetisch.)

Mit anderen Worten: Das Bloggen, zumindest das Bloggen im engeren Sinn eines persönlichen, privaten Blogs, ist kein Journalismus, sondern Stammtischgeplänkel. Für die Bildung einer öffentlichen Meinung ist das natürlich nicht zu unterschätzen, gegen die Stammtische zu regieren, dürfte geradezu unmöglich sein. Gerade das Internet bietet darüber hinaus die Möglichkeit, überregionale „Stammtische“ zu schaffen, wofür man früher Vereine gründen mußte, und selbst dann hat man sich nur ein paar mal im Jahr getroffen. Durch das Internet werden solche „Stammtische“ überhaupt erst kampagnenfähig, indem eine leichte Verknüpfung mit anderen Internettools zur Selbstorganisation möglich sind. Der „Normalbetrieb“ der Blogoezese bleibt aber im Kern ein Stammtisch.

Mit anderen Worten: Das große Mißverständnis des Internets ist also, daß es sich dabei um Massenkommunikation nach altem Muster handelte. Vielmehr ist das wirklich Neue und eigentlich spannende am Internet die Schaffung einer medialen Form von n:m-Kommunikation, also einer Kommunikation zwischen vielen Sendern und Empfängern, in der zumindest theoretisch gleich starke Sende- und Rückkanäle existieren. Mit solcher Kommunikation haben sich freilich die klassischen Massenmedien nie wirklich abgegeben und stoßen nun auf eine Realität, die sie bisher arrogant ausgeblendet haben. Der Stammtisch ist geradezu der Inbegriff niveauloser Diskussion, mit der ein gebildeter Mensch nichts zu tun haben will (es wäre allerdings eine ebenso arrogantes Mißverständnis zu glauben, es gäbe keine Stammtischgespräche unter Akademikern…). Allerdings war gerade die Lufthoheit über den Stammtischen die Bastion, mit der sich die CDU in den medial doch sehr links geprägten 70er bis 90er über Wasser gehalten hat, ja sogar gegen einen Großteil der Medien Wahlen gewonnen hat. Insofern ist es richtig, wenn sich Massenmedien durch solche öffentlich wahrnehmbare Stammtische im Internet angegriffen fühlen, denn tatsächlich haben die Stammtische schon immer die Wirkung der Massenmedien begrenzt, und wenn es aus ihrem Kreis genug Leserbriefe gab, die den Journalisten kontra geben, hat sich auch schon das eine oder andere Mal der Wind der veröffentlichten Meinung gedreht. Daher kann die Blogoezese tatsächlich dazu führen, daß bisher im kirchlichen Diskurs weitgehend marginalisierte Meinungen und Perspektiven wieder zu ihrem Recht kommen können.

Doch auch unter den Lesern der Zeitungen dürften die Internetausdrucker (es gibt mittlerweile übrigens noch eine Steigerung: die Internetausdrucker und -wiedereinscanner 🙂 in der Mehrheit sein. Auch ihnen dürfte nicht klar sein, daß das Intenret eigentlich eine große Eckkneipe ist. Dadurch ist es ein Leichtes, mit stammtischfremden Kriterien den „Stammtisch“ Blogoezese in die Schmuddelecke zu drängen. Natürlich könnte man sie auch gerade als Stammtisch angreifen, denn wie gesagt ist „Stammtisch“ ja durchaus ein negativ besetztes Wort. Jedoch wäre die Wirkung auf die Leser, gerade in ländlicheren Gebieten, weniger sicher vorhersehbar, denn Stammtische und Stammtischgespräche kennen die Leute aus eigener Anschauung. Und sie wissen auch, daß dabei Tacheles, im Eifer des Gefechts auch mal unüberlegter und/oder politisch unkorrekter, gesprochen wird.

(to be continued)

Ein weiterer Grund für Nicknames resultiert aus der spezifischen Funktion eines Blogs. Bekanntlich handelt es sich um die Abkürzung von „Weblog“, also frei übersetzt: Internet-Tagebuch. In ein Tagebuch schreibt man jedoch andere Gedanken als etwa in einen Leserbrief, schon alleine deshalb, weil man eine ganz andere Zielgruppe und Zielrichtung hat. Hinzu kommt, daß Leserbriefe oder andere Veröffentlichungen normalerweise noch mindestens durch eine Lektoratsphase gehen. Ein Leserbrief steht fast immer (wenn er nicht als Kuriosum abgedruckt wird) repräsentativ für eine nennenswerte Anzahl von Einsendungen, auf jeden Fall hat er die Hürde des „Gatekeepers“ Redaktion genommen, und ein (seriöser) Verlag wird nur die Bücher veröffentlichen, hinter denen er (oder ein Herausgeber) auch stehen kann.

Im Gegensatz dazu muß ein Blogposting keinen „Gatekeeper“ überwinden, sondern kann alle — ausgereiften und unausgereiften — Gedanken seines Betreibers enthalten. Zumindest für mich kann ich sagen: Die Blogeinträge sind vergleichsweise unausgereift, selbst die längsten haben nicht einmal annähernd die Zeit gekostet, die ich in andere Veröffentlichungen stecken würde, selbst Leserbriefe müssen durchdachter sein. Für mich erfüllt mein Blog eher eine „Pensieve“-Funktion („Denkarium, für die, die Harry Potter nur auf deutsch kennen): Eine Abladestelle für meine Gedanken, die noch reifen müssen, die ich jederzeit wieder ausbuddeln und weiterführen kann (wobei das Reifen meist schon im Schreibprozess stattfindet und das eine oder andere Posting nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, zumindest nicht als Blogeintrag), und damit hat ein Blog für seinen Betreiber (zumindest für mich) auch eine psychohygienische Wirkung.

Im Gegensatz zu einem Tagebuch (das ja eine ähnliche Funktion wie ein Pensieve erfüllt) haben Blogpostings aber den Vorteil, Feedback zu bekommen, angenehmerweise meist auch von solchen Leuten, die eine ähnliche Meinung vertreten, also nicht jede Argumentationsschwäche gnadenlos ausnutzen, sondern konstruktiv kritisieren können. (Na gut, ein bißchen stimmt das mit der Lobhudelei ja auch, manchmal könnten die Kommentare schon kritischer sein…) So oder so macht man sich mit dem Betreiben eines Blogs angreifbar, zumindest wenn man ihn als persönliches Blog betreibt und nicht zu journalistischen Zwecken oder zur Öffentlichkeitsarbeit betreibt — wobei auch der persönlichste Blog immer noch nicht die gesamte Persönlichkeit seines Autors wiederspiegelt. Im Gegenteil: Im besten Fall hat er ein klares Profil, und dazu braucht es auch einen klaren Avatar.

(to be continued)

Auch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Bloggen einerseits und Leserbriefen oder Face-to-Face-Kontakten im RL andererseits, nämlich eine kommunikative Asymmetrie. Begegne ich jemandem im RL, weiß ich in der Regel genausoviel von ihm wie er von mir, und wenn nicht, dann kann ich ihn sofort fragen, woher er mich kennt, so daß wir auf einen ähnlichen Stand kommen. (Um nochmal die Schreckensvisionen zu Wort kommen zu lassen: Längst ist die Gesichtserkennung via Smartphone möglich, nur ist sie weitgehend nicht freigeschaltet; wäre sie es, wäre diese kommunikative Asymmetrie dank AR auch im RL angekommen…)

So oder so wird er nicht meine gesamte Lebensgeschichte kennen, selbst wenn er sich meinen Namen merkt oder meine Karte bekommt. Dann weiß er, wo und für wen ich was arbeite und wie er mich dort erreichen kann. Davon ausgehend kann er zwar auch eine ganze Reihe von privaten Daten finden und zusammenführen, in der Regel wird er aber den Aufwand scheuen — und ich kann umgekehrt dasselbe mit ihm treiben; Waffengleichheit. So besteht immer eine (zumindest mögliche) kommunikative Symmetrie und ist ein „Dialog auf Augenhöhe“ möglich.

Anders im Internet: Bekanntlich sind etwa 90% der Leser nur Leser, weitere neun Prozent kommentieren hier und dort, doch nur das letzte Prozent macht sich durchs Selbst-Produzieren (also etwa Bloggen) „nackt“ (diese 1-9-90-Regel auf die Blogoezese angewendet bedeutet übrigens, daß wir noch ein sehr, sehr großes Wachstumspotential haben, denn im Augenblick scheint sie mir noch zu 70–80% aus dem einen Prozent der Produzenten zu bestehen, aber das nur am Rande). Von all den stillen Lesern weiß ich nicht viel: ihren Browser, ihr Betriebssystem und teilweise die Addons, mit Hilfe von Google Analytics auch ihren Provider — aber selbst der sagt nicht viel über den Leser aus, wenn er T-Online oder Arcor heißt (und selbst „Bistum Essen“ kann ich nicht mit einer Person verknüpfen, etwas besser noch bei „frankfurter allgemeine zeitung“ [ja, da liest tatsächlich ab und zu jemand meinen Blog :-)]).

Würde ich überall im Netz unter Klarnamen unterwegs sein (ein weiterer Grund gegen einen Facebookaccount), könnte jeder sofort meine halbe Lebensgeschichte aus dem Internet fischen, mit Usenetpostings und Zeitungsleserbriefen, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Publikationen, Ämtern, Hobbies und Interessen verknüpfen — und mich damit noch vor unserem ersten Kontakt besser kennen, als ich ihn, ja sogar als ich ihn jemals mit denselben Mitteln kennenlernen könnte, etwa bei Herrn „Meier“, der nur mäßige und relativ unspezifische Datenspuren im Internet hinterlassen zu haben scheint.

(to be continued)

Ein weiterer wichtiger Grund für die Verwendung von Pseudonymen im Internet kann jedoch gerade die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber sein. Ein Wirtschaftsunternehmen darf durchaus ein Interesse daran haben, daß bei einer Googlesuche nach seinem Pressesprecher nicht dessen privater Blog über bemooste Feldsteine an erster Stelle steht — was bei der Verwendung des Realnamen aufgrund der Präferenz des Googlealgorithmus für Social Media (wie Blogs) durchaus wahrscheinlich wäre.

Auch dieses Beispiel ist nicht völlig aus der Luft gegegriffen. Mir ist ein Rechtsanwalt bekannt, der im Usenet — der ersten (und letzten) Bastion der Realnameverwendung — ganz bewußt unter Pseudonym schreibt, weil potentielle Mandanten bei Google eben seine Rechtsanwaltskanzlei finden sollen, ohne sich durch Unmengen von Postings quälen zu müssen, in denen es um die technischen Funktionsweisen seiner (Open Source-) Kanzleisoftware geht. In der Zeitschrift des Vereins, der sich dieser Software widmet, schreibt er hingegen unter seinem richtigen Namen und erklärt auch seine Pseudonymverwendung, da der Adressatenkreis hier derart klar umrissen ist, daß es seinen geschäftlichen Interessen sogar zuträglich sein kann, als ein gerade diese Software verwendender Anwalt in der „Szene“ bekannt zu sein. Umgekehrt kann es für freie Journalisten, Wissenschaftler und Künstler von Vorteil sein, unter ihrem Realnamen zu bloggen — gerade um mit ihrem Blog auf der ersten Googletrefferseite aufzutauchen und damit ihren Namen zu promoten.

(to be continued)

Je länger ich über die Frage nach dem Ursprung der Nicknameverwendung im Internet nachgedacht habe, desto deutlicher wurde mir, wieviele verschiedene Aspekte zu dieser Frage gehören, daß es letztlich tatsächlich um die Frage geht, was das Internet eigentlich ist, und daß diejenigen, die hier klare Identität fordern, Pseudonymität als Anonymität verunglimpfen, Blogger für gefährlich halten und durch Enttarnung ruhig zu stellen versuchen, schlicht und ergreifend das Internet nicht verstanden haben. Das soll kein Vorwurf sein, denn wer damit nicht groß geworden ist, hat es mit Sicherheit schwerer, das Neue am Internet als neu zu begreifen. Vielmehr wird er versuchen, das neue Medium in sein bestehendes Wissen der existierenden Medien einzugliedern, so daß er nur das am Internet erkennen kann, was er von bestehenden Medien bereits kennt.

Aber ich will nicht vorgreifen, der Gedankengang setzt nochmal zwei Ebenen und zwei Jahrzehnte früher an, und zwar bei Theorien und Entwicklungen, die tatsächlich problematisch sind. In der Frühzeit des WWW (die nicht identisch ist mit der des Internets, sondern nur mit dem Beginn dessen massenhafter Verbreitung) gab es Vorstellungen, die aus theologischer Perspektive nur als Erlösungslehren verstanden werden können, nämlich als Erlösung vom eigenen Ich, von der eigenen Identität mit all ihren Diskrepanzen, biographischen Brüchen etc. Der Avatar im Internet hatte keine Geschichte und konnte sich daher seine Identität komplett selbst schaffen, der Nutzer sich virtuell neu schaffen. Anstatt sich der eigenen Schwäche zu stellen, war die Hoffnung, durch noch mehr „Selbermachen“ sich von dieser Schwäche zu befreien. Diese Theorien sind aus theologischer Perspektive mit Sicherheit nicht unproblematisch, um es mal vorsichtig auszudrücken. Eine Wiederentdeckung der Buße und die Anerkenntnis der eigenen Schwäche wäre zwar die unangenehmere, aber erfolgversprechendere Variante gewesen.

Nun habe ich mich damals für Metatheorien des Internets noch nicht interessiert, ich habe es einfach genutzt. Insofern ist mein Urteil aus der Rückschau auf das Scheitern dieser Hoffnungen natürlich wohlfeil, dennoch kann ich mich angesichts des ganzen Cyberpunkgenres und der starken Prägung der Hacker-, Nerds- und Geeksszene durch dieses Genre (massenkompatibel in der Matrixtrilogie verarbeitet) nicht des Eindrucks erwehren, daß schon damals diese Hoffnungen nicht von der Masse der Internetnutzer (damals eben noch die Hacker, Geeks und Nerds, der Rest war dünn gesäht) geteilt wurde. Denn Cyberpunk ist (post-)apokalyptisch und fortschrittsskeptisch. Sicherlich besteht auch ein starkes Interesse an den technischen Möglichkeiten, jedoch immer vor dem Hintergrund, daß mißbraucht werden wird, was mißbraucht werden kann. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß die gescheiterten Figuren, die als Helden die Cyberpunkromane bevölkern, die Hoffnung auf ein besseres Leben durch das Internet und die Trennung des Menschen von seiner körperlichen „Wetware“ stützen können. Im Gegenteil.

Und damit sind wir bei der anderen, mitunter paranoiden, aber nichtsdestoweniger realitätsrelevanten und meines Erachtens gewichtigeren Quelle für die Nutzung von Nickname-Pseudonymen im Internet, nämlich dem Schutz der Privatsphäre vor dem Datenmißbrauch durch weniger freundlich gesinnte Zeitgenossen. Daß diese Befürchtungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, zeigen die unzähligen Phishing-Seiten, Keylogger und Trojaner. Heute kennt man sich damit ja leidlich aus, aber immer noch gibt es immer wieder neue Tricks zum (teilweisen) Identitätsdiebstahls. Daß hier die Gefahr vor allem von wirtschaftlichen und weniger staatlichen Interessen ausgeht, ist auf dem Hintergrund des Cyberpunks im Gegensatz zur klassischen (und durchaus immer noch gegebenen) Gefahr durch den Überwachungsstaat durchaus ein spannendes Detail, denn ein wesentliches Element des Cyberpunks ist die Macht der großen Wirtschaftsunternehmen, die letztlich die Weltgeschichte lenken.

In diesem Kontext sollte vielleicht auch bedacht werden, daß im Augenblick im Internet ein Kampf zwischen Facebook und Google tobt, wer die besser verwertbaren Daten seiner Nutzer generieren kann. Wer diesen Kampf gewinnt, ist noch offen, nichtsdestoweniger geht die größte Gefahr für die eigenen privaten Daten und damit die Privatsphäre nicht vom Staat, sondern von den größten Playern in der Internetwirtschaft aus. Ohne bestreiten zu wollen, daß es wie im Fall der „site which should not be named“ auch das gegenteilige Interesse gibt, steht vermutlich in den meisten Fällen nicht die Absicht, sich vor dem eigenen Arbeitgeber, schon gar nicht der Kirche, zu schützen im Vordergrund, sondern der Schutz vor den Datenkraken des Internets.

Wenn ich als Nutzer von Blogger, Google Reader, Google-Suchmaschine, Google Maps, Google Places und Google Analytics bedenke, was Google bereits an Daten von mir hat, dann müssen die beim besten Willen nicht auch noch meinen Klarnamen wissen, der in Null-Komma-Nichts zu Adreßdaten führt, womit Google im Grunde nicht nur ein komplettes Internetnutzungsprofil von mir erstellt hätte, sondern zugleich noch mit meinen personenbezogenen Daten verknüpft hätte. Wunderbare Vorstellung. Absurd? Keineswegs: Habt ihr euch schonmal gefragt, warum Facebook in seinen AGB auf echten Namen besteht und sich vorbehält, Sockenpuppen ohne Ankündigung zu löschen…???

Wer sein Internetleben tagtäglich mit dem Login bei Facebook beginnt, hat genau dieses personenbezogene Profil an Facebook verkauft, und das ist der große Vorteil von Facebook im Kampf gegen Google (ganz davon abgesehen, daß Facebook mit dem Like-Button den genialen Schachzug getan hat, ganz offen fremde Seitenbetreiber zu ihren Erfüllungsgehilfen zu machen — ohne daß Facebook das ganze einen Cent kosten würde!). Also halten wir fest: Privatsphäre ist zumindest meiner Meinung nach der wichtigste Grund für die Nutzung von Pseudonymen und Nicknames als Vorsichtsmaßname im Internet: Wichtiger als jeder Schut gespeicherter Daten ist die Verhinderung, daß Daten überhaupt erst gespeichert werden.

(to be continued)