Schrift

Als Grundprinzipien der Reformation gelten die vier „solae“: sola scriptura (allein durch die Schrift), sola fide (allen durch den Glauben), sola gratia (allein durch die Gnade) und solus Christus (allein durch Christus). Soweit diese positiv gefüllt sind, sind sie durchaus mit dem katholischen Verständnis vereinbar, die katholische Lehre ist jedoch weiter: Statt dem protestantischen „sola“ (nur, allein) basiert die katholische Lehre auf dem „et … et“ (sowohl … als auch).

Katholisch können die reformatorischen Grundprinzipien zwar als geistliche Schwerpunktsetzungen des Einzelnen anerkannt werden. Radikale Christusnachfolge ist meistens einseitig, ja bewusst einseitig, und dagegen hat die katholische Kirche in der Regel auch nichts einzuwenden. Problematisch wird es jedoch, wenn die persönliche Spiritualität lehrmäßig verallgemeinert wird. Die vier „solae“ der Reformation sind jedoch als Prinzipien der Lehre, nicht der Frömmigkeit gedacht. Sie sind bewusst gegen die katholische Lehre gerichtet und infolgedessen theologisch und disziplinär jeden ausschließend, der andere Schwerpunktsetzungen vorzieht. Das ist, als hätte der heilige Franziskus sein Armutsideal allen Katholiken zur Pflicht machen wollen. Damit hätte er die katholische Weite der Kirche zugrunde gerichtet und mit Sicherheit die Kirche gespalten.

Häufig als das „Fundamentalprinzip“ verstanden wird „sola scriptura“. Positiver Inhalt dieses Prinzips ist:

  • Die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heile nötig ist (Heilssuffizienz).
  • Die verschiedenen Abschnitte der Schrift legen sich gegenseitig aus, jede Stelle muß also über den Einzelautor hinaus im Zusammenhang der ganzen Schrift betrachtet werden(kanonische Auslegung).
  • Die kirchliche Lehre muß mit der Heiligen Schrift im Einklang stehen (Schriftgemäßheit der Lehre).

All das ist so grundlegend Teil der katholischen Lehre, daß auch ihre Kurzzusammenfassung im Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche es deutlich zum Ausdruck bringt: „Die Heilige Schrift […] lehrt ohne Irrtum jene Wahrheiten, die zu unserem Heil notwendig sind“ (18), was im Umkehrschluß bedeutet, daß etwas, das sie nicht zumindest einschlußweise lehrt, nicht zum Heil nötig sein kann. Als das erste Prinzip katholischer Schriftauslegung wird genannt: „auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achten“ (19).

Daß aus dem Prinzip „sola scriptura“ folge, daß der wörtliche Sinn allein den einzelnen Christen unmittelbar binde, ist jedoch ein meit evangelikal begründetes Mißverständnis der Lehre Luthers. So würde das Christentum zu einer Buchreligion, was katholisch wie lutherisch abgelehnt wird: Christus ist das Wort Gottes (vgl. Joh 1,1ff.), und nur insofern die ganze Schrift Christus verkündet, drückt sich in ihr dieses Wort Gottes aus. Dieses muß vom Heiligen Geist im Herzen des Menschen lebendig werden, „damit [die Schrift] nicht toter Buchstabe bleibe“ (Katechismus der Katholischen Kirche [KKK] 108).

Die katholische Lehre ist jedoch umfassender und geht über die genannten Aspekte hinaus („et…et“ = sowohl als auch, statt „sola“ = nur). Das „sola scriptura“ ist direkt und sogar ursprünglicher gegen diese Aspekte gerichtet:

  • Der geistliche Schriftsinn wird abgelehnt.
  • Die Schrift selbst, nicht die kirchliche Tradition, ist das einzige Auslegungskriterium.
  • Jede Auslegung, aber auch jede Schrift selbst muß sich daran messen lassen, ob sie „Christum treibet“.

Auch nach katholischem Verständnis ist der wörtliche (historische) Sinn der wichtigste und damit die Grundlage aller geistlichen Auslegung, die ohne ihn inhaltsleer wäre (vgl. 1 Kor 15!). Doch bereits die Heilige Schrift selbst legt sich nicht nur den reinen Wortlaut aus, sondern versteht „auch die Wirklichkeiten und Ereignisse, von denen er spricht“ (KKK 117), als zeichenhafte Geschehnisse für den Heilsplan Gottes.

Der im engeren Sinn allegorische Sinn („Was dürfen wir glauben?“) legt die Geschehnisse im Lichte von Ostern aus, versteht also alles auf Christus und die Erlösung hingeordnet. Am häufigsten ist dabei die typologische Lektüre des Alten Testamentes, in der z.B. der Auszug aus Ägypten durch das Rote Meer als Voraus-Bild für unseren durch die Erlösung in Christus möglichen Auszug aus dem Reich der Sünde in der Taufe. Eine andere, bereits neutestamentliche Typologie ist das Verständnis Christi als das Paschalamm (so z.B. in der Johannes-Passion und in 1 Kor 5,7).

Der moralische Sinn („Was sollen wir tun?“) versucht aus den Geschehnissen der Schrift abzuleiten, was Gott von uns möchte, daß wir es tun. Wenn Jesus etwa auf die Frage, wer mein Nächster sei, mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet, muß der Hörer – und genau so schildert es uns Lk 10,25–37 – selbst durch geistliche Auslegung des Gleichnisses auf die Antwort kommen.

Wer die Schrift im anagogischen Sinn („Was dürfen wir hoffen?“) auslegt, versteht die berichteten Geschehnisse als Bild für den Himmel. Sie ist in gewisser Weise die Fortsetzung des typologischen Sinnes und legt seinen Verheißungsüberschuß aus: Wenn wir in der Taufe durch das Rote Meer aus dem Reich der Sünde „Ägypten“ ausgezogen sind, dann ist das angestrebte gelobte Land ein Bild für unsere ewige Heimat im Himmel (vgl. Hebr 3,74,13).

Wenn sich also alle drei geistlichen Sinne bereits in der Schrift selbst ausgelegt finden, dann müßte gerade unter der Voraussetzung, daß die Schrift das einzige Kriterium ihrer Auslegung sei, die Schrift nach ihrem geistlichen Sinn befragt werden. Diese Voraussetzung würde dadurch jedoch nicht logisch akzeptabler, denn es handelt sich um einen klassischen Zirkelschluß, in dem etwas mit sich selbst begründet werden soll. Das ist Münchhausen, der sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zieht.

Auch geschichtlich ist das Kriterium nicht haltbar. Mit Tradition ist im katholischen Sinne nicht eine konkrete Gewohnheit, auch nicht eine Summe von Gewohnheiten gemeint, sondern der eine Überlieferungszusammenhang der Offenbarung Gottes von Abraham und Mose bis (gegenwärtig) Papst Franziskus. In allen Fällen geht die Offenbarung selbst ihrer schriftlichen Niederlegung voraus. Beim Neuen Testament ist selbst bei extremster Frühdatierung nach Jesu Tod und Auferstehung noch ein Zeitraum von etwa einem Jahrzehnt zu überbrücken, in dem es keine neutestamentliche Schrift, aber sehr wohl mündliche Überlieferung gibt. Somit begründet nicht die Schrift die Tradition, sondern die Schrift ist das älteste schriftliche Zeugnis der Tradition, das sogar ausdrücklich auf darüber hinausgehende mündliche Tradition verweist (z.B. Joh 20,30; 2 Thess 2,15; 2 Joh 12).

Träger der Tradition ist die Kirche, die sich als göttliche Institution (Leib Christi) wiederum nicht selbst begründet. Auch in ihr ist der eigentlicher Ausleger der Schrift der Heilige Geist. Die Schwierigkeit der Unterscheidung der Geister erfordert jedoch eine konkrete Instanz, die in Zweifesfällen die Kompetenz hat, die Schrift verbindlich auszulegen: das Lehramt der Kirche. Auf die Maßgabe dieses Überlieferungszusammenhangs und den Heiligen Geist als den eigentlichen Ausleger der Schrift verweist ausdrücklich 2 Petr 1,20f.:

Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.

Kein Zweifel, Christus ist die Mitte der Schrift (vgl. KKK 102f., 112, 133 und 134). Darauf die Auswahl des Kanons, dessen Mitte zuvor schon festgestellt wurde, ist jedoch willkürlich und wiederum ein Zirkelschluß: Das Kriterium des Kanons muß den Kanon bereits voraussetzen.

Der Kanon verdankt sich vielmehr der lebendigen Tradition der Kirche. Beim Alten Testament hat die Kirche schlicht den zur Zeit Jesu üblichen Kanon der griechischen Übersetzung (Septuaginta) übernommen; einen verbindlichen hebräischen Kanon gibt es nicht vor 70 n. Chr. Schon die Autoren des Neuen Testaments haben ganz selbstverständlich die Septuaginta verwendet, was sich vor allem darin zeigt, daß das Alte Testament in der Regel nach ihr zitiert wird.

Beim Neuen Testament gibt es zwei Entwicklungsschritte. Zunächst hat sich ein gewisser Kanon von im Gottesdienst verwendeten Schriften herausgebildet. Dann mußte im dritten, vierten Jahrhundert dieser Kanon gegen die Gnosis (eine synkretistische und alles andere als klar abgrenzbaren religiösen Bewegung, die auch christliches Gedankengut rezipierte) abgegrenzt werden. Aus gnostischen Kreisen stammten Schriften, die vorgaben, von Aposteln zu stammen und z.T. auch echt christliches Gedankengut verarbeiteten, also schwer zu unterscheiden waren. Die Kirche wählte hier nach Alter und Augenzeugenschaft aus und war dabei ziemlich erfolgreich: bei den heute üblichen Datierungen (ca. 50–100 n. Chr.) finden sich nur drei christliche Schriften, die möglicherweise in diesen Zeitraum fallen und nicht ins Neue Testament aufgenommen wurden; neben dem Barnabasbrief noch die Zwölfapostellehre (Didaché) und der Erste Clemensbrief.

Schon vor der Veröffentlichung des neuen Einheitsübersetzung Mitte Dezember 2016 ging eine Welle des Mißtrauens durch meine Netzwerke (wenn sie überhaupt wahrgenommen wurde). Viele trauten der Überarbeitung nicht zu, daß ihr Ergebnis tatsächlich eine Verbesserung der Übersetzung darstellte.

Dabei war es gerade Aufgabe der Übersetzer, Ungenauigkeiten und aus heutiger Perspektive unglückliche Übersetzungsentscheidungen aus den 1960er und 70er Jahren zu verbessern. Auch vereinzelte Übersetzungsfehler sind bei einem so umfangreichen Buch wie der Heiligen Schrift nie auszuschließen.

Insbesondere sollte die Revision der biblischen Sprache und ihren Bildern gerechter werden. Bei der Erstübersetzung wurden viele Bildworte heutigem Verständnis angepasst, obgleich sie als Sprichwörter in die deutsche Sprache eingegangen sind. Heute weiß wohl tatsächlich kaum noch jemand, was ein Scheffel ist, unter den man sein Licht stellt, das Sprichwort hingegen ist wohlbekannt. In der revidierten Fassung wird in Mt 5,15 nun statt allgemein mit „Gefäß“ mit dem auf Luther zurückgehenden „Scheffel“ übersetzt. Dass sie zugleich aus dem „Licht“ nun eine „Leuchte“ macht und somit wieder nicht das Sprichwort erkennen läßt, gehört zu den kaum vermeidbaren Ironien eines solchen Großprojekts.

Leider wird – trotz vieler diesbezüglichen Verbesserungen – das Versprechen, der Leser dürfe „die volle und ausschießliche Wiedergabe des biblischen Originals erwarten“ (wie es im „einführenden Überblick“ im Anhang der Neuausgabe heißt), nicht immer eingelöst. So wird z.B. in 2 Kor 10,2f nach wie vor der paulinisch bedeutsame Begriff Sarx (Fleisch) mit dem ihm im johanneischen Denken nur vage entsprechenden Begriff „Welt“ übersetzt: „…die meinen, wir verhalten uns wie Menschen dieser Welt. Wir leben zwar in dieser Welt, kämpfen aber nicht mit den Waffen dieser Welt.“ Die bisher enthaltene Fußnote mit der wörtlichen Übersetzung: „…die meinen, wir wandeln nach dem Fleisch. Im Fleisch nämlich wandelnd ziehen wir nicht nach dem Fleisch zu Felde“, und dem Hinweis, dieser Begriff komme im Kontext wiederholt vor, wurde ersatzlos getilgt. Damit wird auch ein weiteres, nicht unwichtiges Prinzip der Revision durchbrochen, wichtige Begriffe konkordant, d.h. gleichlautend zu übersetzen. Das wäre an dieser Stelle sicherlich nicht schwierig gewesen.

Die wichtigsten und kaum positiv überzubewertenden Änderungen am Bibeltext betreffen jedoch den Gottesnamen, sowohl seine Übersetzung in Ex 3,14 als auch die Wiedergabe des sog. Tetragramms (JHWH).

Die bisherige Übersetzung des Gottesnamen „Ich bin der ‚Ich-bin-da'“ verleitete viele Ausleger dazu, ein „Ich-bin-da-für-euch“ daraus zu machen. Sicherlich steckt auch diese Bedeutung im – tatsächlich schwer zu übersetzenden – Gottesnamen und verweist tief geistlich verstanden auf die Pro-Existenz Jesu, Seine Lebenshingabe für uns Menschen. Genau auf diesem, in der Entstehungszeit der Einheitsübersetzung zumindest unter Theologen weit verbreiteten Gedanken beruhte zu einem nicht geringen Teil diese Übersetzung.

Leider wurde in der Auslegung vielfach ein Deus ex machina daraus, ein Gott, der verlässlich all den Mist, den wir angestellt haben, wieder zurechtrückt, ohne uns dabei in die Pflicht zu nehmen, also ein Gott, der dem Menschen die Verantwortung für seine Taten abnimmt. An dieser Stelle erwies sich die ursprünglich gewählte Übersetzung als ungenügend, da sie die schillernde Auslegungsgeschichte des Gottesnamens verdeckt.

Die revidierte Einheitsübersetzung kehrt nun zum klassischen „Ich bin, der ich bin“ zurückt. Eine Übersetzung, die mehr Fragen als Antworten aufwirft und so für die vielschichtige Interpretationsgeschichte offen ist.

Streng genommen ist die Offenbarung Seines Namens nämlich gerade eine Verweigerung des Namens. Noch heute ist es hebräischer Sprachgebrauch, eine Antwort, z.B. auf die Frage, wo man hingehe, zu verweigern, indem man sagt: „Ich gehe dahin, wo ich hingehe.“ Aus dem Kontext und der weiteren Verwendung im Alten Testament wird jedoch deutlich, dass JHWH sehr wohl zutreffender Eigenname Gottes ist. Somit zeigt der Gottesname als allererstes die Unverfügbarkeit Gottes auf. Im Verständnis des alten Orients bedeutete die Kenntnis des Namens eines Gottes, über ihn verfügen zu können. Den Namen gleichzeitig zu geben und zugleich ihn in der genannten Weise nicht zu geben, machte diesem Denken einen Strich durch die Rechnung: Auch wenn ihr Meinen Namen kennt, bleibe ich der Unverfügbare, der immer Größere, den ihr euch nicht nach euren Vorstellungen zunutze machen könnt. Insofern ist der Gottesname bereits Vorgriff auf das Bilderverbot in den Zehn Geboten.

Als tatsächlicher Name Gottes verstanden, der etwas über Ihn selbst ausdrückt, hat diese Stelle jedoch noch größere Wirksamkeit entfaltet. Die Zeitformen im Hebräischen entsprechen nicht den uns gewohnten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Tatsächlich könnte der Gottesname in Ex 3,16 auch zukünftig verstanden werden: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Oder auch gemischt: „Ich bin, der ich sein werde“. In jedem Fall läßt sich der Gottesname auch als Ausdruck seiner Unveränderlichkeit verstehen. In diesem Sinne spielt etwa die Offenbarung des Johannes auf den Gottesnamen an, wenn sie von dem spricht, „der ist, der war und der kommt“.

Schließlich gibt es das Verständnis von der Septuaginta und der griechischen Philosophie her. Die Septuaginta übersetzt hier den hebräischen Zeitformen ähnlich vieldeutig als Partizip: ᾿Εγώ εἰμι ὁ ὤν. „῾Ο ὢν“ hingegen ist der griechische terminus technicus für die grundlegende Frage aller Philosophie, der Frage nach dem Sein: warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Von hier aus verstanden rechtfertigt sich auch die Übersetzung „Ich bin der Ich-bin-da“ als Wiedergabe dieses griechischen Verständnisses, nach dem Gott der ist, der schlicht und ergreifend ist, also Seinen Ursprung, Sein Sein allein in sich selbst ist, während alles andere seinen Ursprung in Gott hat. In diesem Verständnis, das Grundlage aller christlicher Philosophie bis zur Reformation war, offenbart sich Gott durch seinen Namen als der Schöpfer aller Dinge.

Schließlich lässt die nun gewählte, offene Übersetzung auch Bezüge in der Heiligen Schrift erkennen, die zuvor innerhalb der Einheitsübersetzung verdeckt waren. Etwa welchen Anspruch Jesus mit den „Ich bin“-Worten im Johannesevangelium erhebt und warum die eifrigsten Juden Ihn in Joh 8,59 als Gotteslästerer töten wollen. Oder warum es keiner Zeugen für die Gotteslästerung mehr bedarf, nachdem Jesus in Mk 14,62 dem Hohenpriester auf die Frage, ob er der Messias sei, mit „Ich bin (es)“ antwortet.

Noch gravierender für das Verständnis des Neuen Testamentes und des christlichen Glaubens ist jedoch die Rückkehr zur Tradition jüdischen Ursprungs, den Gottesnamen nicht auszusprechen und durch HERR zu ersetzen. Die ursprüngliche Einheitsübersetzung ist zwar davon nicht grundsätzlich abgewichen. Doch hat sie an den Stellen, an denen der Übersetzer der Meinung war, aus dem Zusammenhang ergäbe die Umschreibung des Namens keinen Sinn, etwa weil nicht JHWH-gläubige Heiden ihn gebrauchen, den Namen ausgeschrieben. Da die Übersetzer der einzelnen Bücher die Grenzen sehr unterschiedlich weit zogen, taucht der ausgeschriebene Gottesname an vielen, nicht zuletzt auch wichtigen und häufig in der Liturgie gelesenen Stellen auf, so dass die spezifische Aufladung des Wortes „Herr“ nicht mehr ohne weiteres allein durch die Lektüre der Heiligen Schrift erkennbar war. Was also auch mitschwingt, wenn etwa Jesus als „Herr“ angesprochen wird oder in Gleichnissen vom „Herrn“ die Rede ist. Auch ist „Herr“ das entscheidende Wort im großen Glaubensbekenntis, mit dem die Göttlichkeit Jesu und des Heiligen Geistes ausgedrückt wird. Ganz besonders wichtig ist aber das richtige Verständnis von „Herr“ in Mt 22,41ff:

Danach fragte Jesus die Pharisäer, die versammelt waren: Was denkt ihr über den Christus? Wessen Sohn ist er? Sie antworteten Ihm: Der Sohn Davids. Er sagte zu ihnen: Wie kann ihn dann David im Geist „Herr“ nennen? Denn er sagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, bis ich dir deine Feinde unter die Füße lege [Ps 110,1]. Wenn ihn also David „Herr“ nennt, wie kann er dann sein Sohn sein? Niemand konnte Ihm darauf etwas erwidern und von diesem Tag an wagte keiner mehr, Ihm eine Frage zu stellen.

Einer kommt und will den brachliegenden Bau der Gottesstadt fortsetzen und die Mauer vollenden: die Kirche/eine Gemeinde aufbauen und befestigen. Dabei hat er die Unterstützung des Königs (Christus). Doch andere, Sanballat, Tobija und Geschem (weltlich gesinnte Menschen in der Gemeinde oder drumherum, jedenfalls solche, die nicht wirklich dem Volk angehören, aber Macht über es ausüben, wenngleich nicht im Einklang mit dem König, dem sie sehr wohl unterstehen), „verdroß [es] sehr, daß da ein Mann kam, der sich für das Wohl der Israeliten einsetzte“ (Nehemia 2,10).

Nehemia beginnt, die Mauer wieder zu errichten, die Spötter spotten – und machen das Werk verächtlich. Nehemia aber antwortet ihnen: „Der Gott des Himmels wird uns Erfolg verleihen. Wir, Seine Knechte, wollen ans Werk gehen und bauen. Ihr hingegen haben weder Anteil [an der Stadt] noch Anrecht [auf sie]; es gibt keine Erinnerung an euch in Jerusalem.“ (2,20) [Sehr interessant, daß er nicht auf die weltlich-königliche Unterstützung verweist, sondern direkt auf den Herrn – was die allegroische Auslegung stützt!]

Darauf motiviert Nehemia die Priester und Bewohner der Stadt (die, die wahrhaft zu Christus gehören) an der Befestigung der Stadt mitzuwirken – jeder an seinem Platz, da wo er wohnt. Trotz des andauernden Spotts der Feinde bauen sie so die Befestigung halb fertig.

Da beginnen die Feinde, den Aufbau von außen zu stören – doch der Herr sorgt dafür, daß die Störaktionen und Angriffe bekannt werden, bevor sie Schaden anrichten können. Nehemia stellt Wachen auf, und wer arbeitet, arbeitet mit dem Speer in der Hand und dem Schwert um die Hüfte (vgl. Eph 6!).

Doch dann kommt es zu Unfrieden in den eigenen Reihen. Die Ungerechtigkeiten innerhalb des Volkes fordern ihren Tribut. Um weiterbauen zu können, muß erst eine gerechte, dem Gebot Gottes entsprechende Ordnung hergestellt werden; die Zeit der Brache hat zuviel Unkraut sprießen lassen, auch bei den Bewohnern der Stadt. Nehemia verzichtet daher sogar auf den ihm zustehenden Unterhalt, d.h. um Gerechtigkeit herzustellen, muß jeder auf das verzichten, auf das er verzichten kann, obwohl es zu fordern nicht ungerecht wäre; aber nur so bekommen alle, was sie unbedingt brauchen.

Die Feinde versuchen nun Nehemia direkt auszuschalten – schlag den Hirten und du zerstreust die Herde. Nehemia geht jedoch nicht in ihre Falle. Sie bedrohen ihn sogar offen mit Anzeige beim König und setzen Gerüchte über ihn in die Welt. König dürfte hier weltlich verstanden sein, d.h. es ist an Anzeige beim Staat oder beim Bischof zu denken. Nehemia tritt dem offen entgegen und weist die Gerüchte als unwahr zurückt, d.h. die Gerüchte ans Licht zerren, dann zerfallen sie, da sie nur im Schatten gedeihen können. Selbst einen Bewohner Jerusalemes können sie für einen Anschlag auf Nehemia dingen. Er soll Nehemnia zu einer Sünde verleiten, die es ihnen ermöglicht hätte, Nehemias Ruf zu schädigen und sein Handeln unwirksam zu machen. Nehemia erkennt aber die Sündhaftigkeit des Vorgeschlagenen und riskiert lieber sein Leben als zu sündigen. So bewahrt ihn der Herr vor allen Bedrohungen, Angriffen und Verrätern, und Nehemia kann die Mauer vollenden. Erst danach, vor den Feinden geschützt, beginnt der innere Wiederaufbau der Stadt Gottes und Seines Volkes.

D.h. für den, der am Aufbau des Reiches Gottes mitwirken will, ist es wichtig, die Unterscheidung herbeizuführen, wer zum Volk Gottes gehört und wer nicht, und er muß das Volk Gottes vor den Feinden durch Bollwerke schützen. Diese geistliche Mauer wird wohl durchaus durch die Menschen hindurchgehen, niemand ist ganz Freund oder ganz Feind Gottes. Daher muß er vor allem darauf bedacht sein, Gerechtigkeit in der Gemeinde herzustellen, Angriffe als solche zu erkennen und zurückzuschlagen, Lügen offen entgegenzutreten sowie sich von aller Sünde fernhalten und auch in der Angst nicht unbedacht handeln.

Um das tun zu können, muß er im Auftrag des Herrn wirken, es muß ihm zuerst um das Reich Gottes gehen. Er muß selbst aus der Nähe des Königs kommen (Nehemia war dessen Mundschenk) und im Gebet und im Handelm Ihm verbunden bleiben. Es gibt aber noch eine Voraussetzung: den (im Kern) rechten Gottesdienst; ihn findet Nehemia bereits vor, er wurde schon im Buch Esra wiederhergestellt.

Gewissermaßen Fortsetung von dem hier und inspired by this.

Nach dem etwas knappen Ende des letzten Posts muß ich wohl noch einen hinterherschieben, damit mir keiner Antijudaismus unterstellt.

In der christlichen Tradition wird schon das Alte Testament an den Stellen, die auf Jerusalem, Israel usw. verweisen auf den Neuen Bund hin gelesen, d.h. Jerusalem steht für das Neue Jerusalem, Israel für das neue Volk Gottes usw., also die Kirche.

Wenn es daher zum Abschluß der alttestamentlichen Lesungen in den Karmetten heißt: „Jerusalem, Jerusalem, bekehre Dich zum Herrn, deinem Gott“, dann ist das kein selbstgerechter Aufruf an die (sowieso nicht anwesenden) Juden, die doch endlich Christen werden sollten, sondern angesprochen sind – wie mit der ganzen Lesung! – die anwesenden Christen und die ganze Kirche, deren Liturgie es ja ist. Das Neue Jerusalem soll sich bekehren!

Und wenn in den (leider meist unterschlagenen) Improperien (Anklagen) während der Kreuzverehrung in der Karfreitagsliturgie im Anschluß an Micha 6 (v.a. 3f.) Gott Seinem Volk Vorwürfe macht, wieso es seinem Erlöser das Kreuz bereite, nach all dem Guten, das Er an ihnen getan hat, dann ist das an die versammelte Gemeinde gerichtet, die im Leben jedes einzelnen ihrer Mitglieder sich immer wieder der empfangenen Taufe unwürdig gezeigt hat. Unwillkürlich klingt mir Vers 9 von Ps 95 im Ohr, der jeden Morgen das Stundengebet eröffnet: „sie haben mich auf die Probe gestellt und hatten doch mein Tun gesehen“; genau so ist es: Wir stellen Gott immer wieder durch unser mangelndes Vertrauen auf die Probe und wundern uns dann noch drüber, daß Er sich unserem Zugriff entzieht.

Genau deshalb bin ich bis heute nicht über die Stelle „wir haben keinen König außer dem Kaiser“ hinweg. Wenn die Hohenpriester in der Unbedachtheit einer angespannten Situation sich guten Glaubens selbst verfluchen und das Urteil sprechen können, ohne es zu merken – wie oft dann ich?

P.S.: Das spannendste an den Improperien ist eigentlich das „Hagios ho Theos etc.“. Denn das ist quasi die stammelnde „Antwort“ der Angeklagten auf die Vorwürfe: Du bist der Heilige Gottes, nur Du kannst uns retten, wohin sonst sollten wir gehen? (Joh 6,69)

Einer der emotionalen Höhepunkte (wenn auch nicht unbedingt der reinsten Freude) ist die Lesung der Johannespassion in der Karfreitagsliturgie. Sicherlich gehören die vorausgehenden Lesungen aus Jesaja und dem Hebräerbrief dazu, diesen Höhepunkt aufzubauen. Und nicht zuletzt gehört die Kreuzverehrung als unsere Antwort auf die Passion zu diesem Gesamtkunstwerk, aber ich will mich hier mal auf die Passion selbst beschränken.

Sie ist schon als solche hammermäßig genug, aber was noch viel krasser ist, man kann sie nie oft genug gehört haben, man kann immer noch Neues entdecken. In den letzten Jahren sind mir zwei Stellen besonders ins Herz gesunken, zum einen die Stelle ganz am Anfang, wo die Häscher vor Ihm zurückweichen und zu Boden stürzen, zum anderen die Stelle, in der die Hohenpriester(!) antworten: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser.“

Jesus, der alles wusste, was mit Ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: Wen sucht ihr? Sie antworteten Ihm: Jesus von Nazaret. Er sagte zu ihnen: Ich bin es. Auch Judas, der Verräter, stand bei ihnen. Als Er zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und stürzten zu Boden. (Joh 18,4–6)

Ich kann mich erinneren, daß mir schon als Kind klar war, daß es nur einen Grund geben kann, warum die Häscher zurückweichen und zu Boden stürzen: die Würde Jesu, letztlich also ihre Anerkenntnis Seiner Göttlichkeit. Warum aber an dieser Stelle – sie wußten doch, wen sie festzunehmen auszogen – und warum sehen sie dann von der Verhaftung nicht ab?

Die Lösung dieser Fragen lag dort, wo ich sie nie erwartet hätte; in den scheinbar unbedeutenden Worten: „Ich bin es.“ Es gibt noch eine zweite Stelle, bei Mk, in der (fast) dasselbe Phänomen auftritt, nur ein wenig abgemildert durch die vorangehende Frage des Hohenpriesters, ob Er „der Messias, der Sohn des Hochgelobten“ sei und die fortgesetzte Rede Jesu: „Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Dafür ist noch deutlicher, welchen Anspruch Er erhebt, insofern der Hohepriester Seine Antwort ausdrücklich als offensichtliche Blasphemie verurteilt.

Alles hängt tatsächlich am „Ich bin es“. Daß es bei mir Jahre gedauert hat zu verstehen, warum genau dieser Satz die Göttlichkeit Jesu zum Ausdruck bringt, liegt an der (in diesem Punkt „§%U/!) Einheitsübersetzung, die keinen Hinweis darauf gibt, was Jesus hier zitiert, nämlich Ex 3,14, nichts geringeres als den peinlichst in der Aussprache vermiedenen Gottesnamen!

Die Einheitsübersetzung übersetzt Ex 3,14 (schlicht falsch!): „Ich bin der Ich-bin-Da“; in einer Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks habe ich gestern sogar „Ich bin der Ich-bin-da-für-euch“ gelesen. Das ist einfach nicht das, was dasteht, das ist insofern eine schlicht falsche Übersetzung, als sie den schillernden, vielfältig deutbaren Namen Gottes auf eine einfache, allzu klar verständliche Aussage reduziert. Eigentlich steht nämlich (ungefähr, das hebräische JHWH ist tatsächlich nicht leicht zu übersetzen) da: „Ich bin, der ich bin.“

Mir hat es sich tief eingebrannt, als mein AT-Professor in einer Nebenbemerkung mal rantete, das sei eigentlich genau das Gegenteil dessen, was die EÜ draus macht, nämlich die Verweigerung eines Namens. Noch heute sagten Juden, wenn sie auf eine Frage, z.B. wohin sie gerade gehen würden, de facto mit „das geht dich einen feuchten Kehricht an“ antworten wollten: „Ich gehe dahin, wo ich hingehe.“ Insofern sei der Name JHWH als Nicht-Name zu verstehen, als Verweigerung, einen Namen zu nennen; was sich auch klar daraus ergibt, daß im orientalischen Weltbild die Kenntnis des Namens eines Gottes Verfügungsgewalt über ihn beinhaltete, und genau dieser Verfügungsgewalt entziehe sich Gott hier durch die Nicht-Nennung Seines Namens.

Später fiel es mir nochmal wie Schuppen von den Augen, als ich die klassische Interpretation des Gottesnamens, die aber sowas von 100%ig anschlußfähig an die griechische Philosophie ist, kennenlernte. Griechisch lautet die Stelle mit dem Gottesnamen nämlich: ἐγώ εἰμι ὁ ὤν, Ich bin der Seiende. Gott identifiziert sich hier also mit dem, der allein sein Sein aus sich selbst heraus hat, und das bildet die Grundlage jeglicher christlicher Philosophie bis zur Reformation.

All diese Mit-Bedeutungen des Gottesnamen unterschlägt die Einheitsübersetzung (selbst die Anmerkung zu Ex 3,14 ist eher verschleiernd!). Entscheidend für die Passion ist jedoch, wie der griechische Originaltext von Jesu Antwort lautet: ἐγώ εἰμι. Deshalb fallen die Häscher bestürzt zu Boden. Was an sich eben nichts anderes bedeutet als „Ich bin’s“, ist im Munde Jesu eine klare Anspielung auf den Gottesnamen, den er für sich selbst in Anspruch nimmt. Übrigens an x anderen Stellen, insbesondere, aber (s.o.) nicht nur bei Johannes (bei Johannes baut bereits der Prolog ganz entscheidend hierauf auf!).

Die Reaktion der Häscher entspricht daher in etwa der Jesajas in seiner Berufungsvision, es ist also die Reaktion des sündigen Menschen angesichts der Herrlichkeit Gottes. Sie drückt aus, daß Jesus Sein Leben freiwillig hingibt, die Verhaftung problemlos hätte verhindern können, und daß Gott – auch wenn uns jetzt ein Name unter dem Himmel gegeben ist – sich nach wie vor unserer Verfügbarkeit entzieht.

Die andere Stelle steht damit in gewisser Weise in Beziehung:

Pilatus sagte zu den Juden: Da ist euer König! Sie aber schrien: Weg mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. (Joh 19,14f.)

Diese Stelle ist noch viel krasser, andererseits auch unauffälliger, weil fast nichts auf die hintergründige Bedeutung der Aussage hindeutet. Hier brauchte es die Inszenierung von Mel Gibson, um mir das Krasse an dieser Aussage bewußt werden zu lassen: Die Hohenpriester verleugnen hier nichts anderes als ihre grundlegende Daseinsberechtigung, das Königtum Gottes über Sein Volk. Wie Gott es selbst sagt in 1 Sam 8,6:

Nicht Dich haben sie verworfen, sondern Mich haben sie verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein.

Darüber bin ich bis heute noch nicht weg…

Die zwei Straßengräben des Umgangs mit geistlicher Bibellektüre sind „Willkür“ und „das ist historisch gar nicht passiert“. Im ersten Straßengraben wirft man die von Anfang an bei den Kirchenvätern beliebte allegorische Auslegung komplett über Bord und reduziert die Schrift auf ihren historischen Sinn, in dem man dann nach Informationen über Gott oder geistlich wertvollen Erkenntnissen sucht. Im anderen Straßengraben sucht man nach der Bedeutung hinter der Bedeutung, liest die Bibeltexte als Allegorien und narrative Psychologie, läßt aber den historischen Sinn fallen. In beiden Straßengräben kommt man zu wertvollen Erkenntnissen, doch in keinem von beiden kommt man der Fülle des biblischen Inhalts auch nur nahe.

Vielmehr setzt die geistliche Lektüre den historischen Sinn voraus. Nur weil es geschehen ist, hat es überhaupt einen geistlichen Sinn, der wirklich geistlich ist und tatsächlich im Geschehen steckt. Oder wie es der heilige Augustinus in einer Predigt über den heiligen Johannes den Täufer ausdrückte: „Bedenke, was alles geschehen ist, weil es im Bild die wahre Wirklichkeit darstellte.“[1] Das heißt, auch allegorische Auslegung ist niemals willkürlich. Auch wenn es verschiedene legitime Interpretationsansätze geben kann, so schließen diese sich nicht aus, sondern ein. Und sie müssen auch mit dem Kontext des historischen Geschehens passen.

Das ganze will ich an einem Beispiel illustrieren, das letzten Endes sogar ziemlich deutlich ist, nämlich der Speisung der 5.000 und der Speisung der 4.000 und der Auslegung, die sich auf dem Blog von Gregorius Braun findet.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß es sich bei diesen beiden Speisewundern nicht um zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses handeln kann, auch wenn die Unterschiede auf den ersten Blick nur gering sind und das grobe Geschehen sogar identisch scheint. Jedenfalls kommt man mit dieser Erklärung nicht weit, wenn man bedenkt, daß bei Markus und Matthäus beide Speisewunder in enger Nachbarschaft stehen. Lukas und Johannes hingegen lassen die Speisung der 4.000 weg. Solange man Markus und Matthäus nicht eine Buchhaltermentalität unterstellt, in der zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses aufgrund der Nichtharmonisierbarkeit zu zwei verschiedenen Ereignissen werden (anstatt sich für eine der Traditionen zu entscheiden), müssen sie sich etwas gedacht haben, als sie beide Wunder in ihr Evangelium aufnahmen. Auch an späterer Stelle wird auf beide Wunder als getrennte Ereignisse verwiesen. In den eher unscheinbar liegenden Abweichungen müssen sie also einen tieferen Sinn gesehen haben.

An dieser Stelle setzt Gregorius Braun im Rückgriff auf Kirchenväterauslegungen an. Um sein Posting kurz zusammenzufassen: Die erste Speisung, die der 5.000, richtet sich an das Volk Israel (5 Brote = 5 Bücher der Torah, 2 Fische = die 2 Ämter des Königs und des Hohepriesters), die zweite Speisung, die der 4.000, hingegen an die Heiden (die weder Torah noch die Ämter haben, wohl aber 7 Brote haben = die 7 Tugenden kennen und ein paar Fische = ein paar große Denker wie Sokrates und Platon, die das Christentum erahnt haben). Es bleiben 12 Körbe beim Volk Israel übrig (für jeden der Zwölf einer = apostolische Tradition) und 7 Körbe bei den Heiden (= 7 Gaben des Heiligen Geistes), mithin also gibt in diesen beiden Wundern Christus seiner Kirche das Fundament.

Damit erscheinen beide Wunder als mehr als „nur“ übernatürliche Belege der Göttlichkeit Jesu. Vielmehr handelt es sich um prophetische Zeichen, und so wirft Er sowohl Seinem engeren Jüngerkreis (Mt 16par) als auch dem Volk, das Ihm folgt, vor, nicht verstanden zu haben, was diese Zeichenhandlungen bedeuteten. (Letzteres freilich nur bei Johannes, der nur die Speisung der 5.000 kennt, statt der Speisung der 4.000 hat er hingegen die Brotrede, in der sich der Vorwurf an das Volk findet. Wäre auch nochmal spannend zu betrachten, sprengt aber hier den Rahmen.)

Daß diese Auslegung alles andere als willkürlich ist, obwohl sie auf den ersten Blick so wirken könnte, zeigt sich, wenn man sie in ihrem Kontext betrachtet und insbesondere beachtet, was zwischen den beiden Speisewundern passiert (ich folge hier im wesentlichen Matthäus):

Voraus geht der Bericht über die Enthauptung Johannes des Täufers. Nachdem sich Jesus schon zuvor durch Sein Verhalten und Seine Lehre mit den Autoritäten des Volkes Israel angelegt hatte, zeigt sich hier besonders deutlich, welches Schicksal Ihn erwartet. Wenn die Führer des Volkes den, der das Volk Israel auf seinen Erlöser vorbereiten sollte, hinrichten lassen, werden sie auch Jesus ablehnen und hinrichten lassen. Deutlich ist also, daß Seine Mission, das Volk Israel als Volk zu erlösen, zum Scheitern verurteilt ist.

In dieser Situation erfolgt die Speisung der 5.000. In der allegorischen Auslegung (s.o.) wird hier das Volk Israel, bzw. diejenigen Juden guten Willens, in die Kirche überführt. Spannend übrigens, daß dieses Wunder bei Johannes in Verbindung mit der Brotrede quasi die Einsetzung der Eucharistie darstellt. Johannes versteht also die Speisung der 5.000 nicht nur konkret als Begründung der apostolischen Tradition, sondern sieht hier – naheliegenderweise! – auch die Gabe ihrer geistlichen Quelle, der Eucharistie.

In den folgenden Perikopen spitzt sich die Aufforderung zur Entscheidung zu. Als Jesus über das Wasser zu den Jüngern im Boot geht, kann auch Petrus auf dem Wasser gehen, solange er auf Jesus Christus vertraut und an Ihn glaubt. In dem Moment, wo er das Vertrauen verliert, beginnt er unterzugehen, doch selbst hier noch rettet ihn sein Glaube: „Herr, rette mich!“ Und so kulminiert die Perikope bei Matthäus im eindeutigen Bekenntnis der Jünger „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ – während Markus deutlich macht, daß sie nach wie vor nicht verstehen, was die Speisung der 5.000 bedeutete.

Die folgenden drei Verse könnten zwar leicht als „Link“ zwischen zwei größeren Abschnitten untergehen, sind aber geistlich alles andere als unbedeutend. Wenn Jesus alle zu Ihm gebrachten Kranken heilt, so stellen diese Wunder wieder mehr als bloße Belege Seiner göttlichen Autorität dar. Vielmehr ist auch dies ein prophetisches Zeichen dafür, daß in Ihm das Heil anbricht – wie Er schon dem Täufer antwortete: „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (vgl. Ps 146, Jes 42 u.ö.)

Entsprechend Seiner Antwort an Johannes, die mit: „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt“, endet, folgt nun ein längerer Abschnitt, in dem es zum deutlichen Zerwürfnis mit den Pharisäern über die Reinheitsvorschriften kommt. Nicht von außen, sondern aus dem Innern komme die Unreinheit, die Sünde, die Pharisäer hingegen spricht Er als: „Ihr Heuchler“ an. Die Pharisäer sind entsprechend empört, und Jesus bricht mit ihnen endgültig: Laßt die Blinden die Blinden führen! Das Volk Israel als Volk Gottes existiert nicht mehr.

Und genau nach diesem Zerwürfnis folgt die Perikope, in der Jesus die Bitte einer heidnischen Frau erhört. Sie bestreitet keineswegs den Vorrang Israels, glaubt aber, daß das dem Volk verkündete Heil so groß ist, daß auch etwas für die Heiden abfallen kann. „Frau, Dein Glaube ist groß“, antwortet ihr Jesus. Was Er zuvor mehrfach strikt abgelehnt hatte (z.B. in Mt 7,6, aber auch noch in der Perikope selbst), tut Er nun: Er wendet sich den Heiden zu.

Ausgerechnet hierauf folgt nun die Speisung der 4.000! Die Speisung der 4.000 wurde bei Gregorius Braun als Aufnahme der Heiden in die Kirche interpretiert. Was ergäbe vom Kontext her mehr Sinn? Die Kirche ist zunächst aus dem Volk Israel gegründet worden, doch da das Volk nicht als Volk das Heil will, sondern wichtige Führer es = Ihn ablehnen (Pharisäer), und weil das Heil so groß ist, daß es nicht für das Volk Israel alleine da ist (wie schon im AT die Erwählung des Volkes Israel zum Volk Gottes werkzeuglich verstanden wird, nämlich damit durch die Juden Gottes Heil zu allen Menschen kommt), sondern es auf den Glauben des Einzelnen ankommt (siehe Petri Gang auf dem Wasser), werden nun auch die Heiden in die Kirche, das Neue Volk Gottes, aufgenommen.

Die bei Matthäus zwar etwas vage Ortsangabe (unbewohnte Gegend am See Genezaret) läßt zudem darauf schließen, daß sich die Speisung der 4.000 auf heidnischen Gebiet ereignete. Deutlicher ist hier Markus, bei dem Jesus nach dem Zerwürfnis mit den Pharisäern nicht nur ausdrücklich Galiläa nach Tyrus hin verläßt, sondern über Sidon ins Gebiet der Dekapolis zieht, das im Nordosten an den See Genezaret angrenzt.

Auch die folgenden Perikopen passen voll in diesen Rahmen. Wie Jesus mit den Pharisäern gebrochen hat, so versuchen diese zusammen mit den Sadduzäern Ihn, also Gott, auf die Probe zu stellen, worauf Jesus Seine Jünger vor denselben warnt – und zwar gerade mit dem Verweis auf die beiden Speisewunder. Anschließend folgt das Messiasbekenntnis des Petrus und die Übertragung der Schlüsselgewalt, quasi also die Begründung des Papsttums. Wenn man noch bedenkt, daß erst in Mt 10 und damit kurz vor den beiden Speisungen die Berufung der Zwölf (= Stammväter des neuen Israels) erfolgt, so könnte man glatt sagen, daß der ganze Abschnitt Mt 10-16 von nichts anderem berichtet, als der Begründung der Kirche.[2]

Die allegorische Auslegung, wie sie Gregorius Braun dargelegt hat, läßt sich also aus dem Kontext heraus stützen, ja sie macht sogar auf Details aufmerksam, die einem sonst entgangen wären.

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[1] Vgl. Sermo In Natali Ioannis Baptistae 293,2; in: PL 38, 1327f. (hoch)
[2] Vielleicht kann man auch noch die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung, der Aufruf zur Kreuzesnachfolge und die Verklärung Jesu, vielleicht sogar die noch folgenden Perikopen (z.B. den Rangstreit der Jünger) bis zum Aufbruch nach Judäa, also zur Kreuzigung, zur „Kirchgründung“ zählen. Der Gedanke kam mir gerade erst, den habe ich noch nicht durchmeditiert. (hoch)

Einer der Gründe, warum ich am Ende des letzten Jahres plötzlich wieder aufgehört habe zu bloggen, war die Bibel. Genauer: Mein Vorsatz, im Jahr 2014 die Bibel einmal komplett durchgelesen zu haben. Das wurde am Ende ziemlich knapp (am 1.10. fehlten noch 45 Bücher, am 1.11. noch 31 und am 1.12. noch 13 Bücher, darunter fast das komplette Geschichtswerk), so daß ich klare Prioritäten gesetzt habe.

Ein paar frühe Resultate dieses Vorsatzes habe ich letztes Jahr schon verbloggt. Jetzt will ich der Frage nachgehen, ob sich das ganze gelohnt hat. Nicht nur Jürgen, sondern auch mein AT-Professor waren nach ihrem Komplettdurchgang diesbezüglich etwas skeptisch. Auch ich selbst habe, schon als Jugendlicher, den Versuch, die Bibel komplett zu lesen, nach anderthalb Büchern abgebrochen.

Dieser Versuch aus der Jugendzeit war auch der Grund, warum ich das Geschichtswerk so lange vor mir hergeschoben habe. Und tatsächlich: Ich halte das Buch Exodus für das am anstrengendsten zu lesende Buch der ganzen Bibel. Damals bin ich irgendwo im Bundesbuch (ca. Ex 22) hängengeblieben und konnte mich nicht mehr überwinden, weiterzulesen. Blöd halt, daß das Buch so weit vorne steht.

Im Buch Exodus kann man die Schichten, die in den Pentateuch eingeflossen sind, am deutlichsten erkennen, und sie sind zu allem Überfluß schlecht miteinander verknüpft. Es gibt zum Teil abrupte Wechsel mitten in einer Geschichte, infolgedessen zwei Beschreibungen desselben Ereignisses unvereinbar nebeneinander stehen (war das Wasser jetzt durch einen starken Wind weggetrieben worden oder stand es rechts und links wie eine Mauer?, um nur mal das bekannteste Beispiel anzuführen). Besonders anstrengend ist das in den Gesetzestexten, die keine klare Struktur erkennen lassen. Oder besser: die zwar scheinbar eine klare Grobstruktur haben, aber sich dann in komplexen Details verlieren.

Nicht besser wird es dadurch, daß die Geschichte des Auszugs aus Ägypten in geistlicher Lesung und der kirchlichen Tradition eine kaum zu überschätzende Rolle spielt als Vorbild des Auszugs des einzelnen und der Kirche aus der Welt der Sünde und des Todes.

Und dann folgt darauf auch noch das Buch Levitikus, das kaum noch Geschichte, sondern hauptsächlich Gesetzestexte präsentiert, ganz zu Schweigen von Numeri, das fast schon in einer Art Mantra beginnt (der und der Stamm brachte das und das, der und der Stamm brachtet dasselbe und nach 12 Stämmen geht’s wieder von vorne los)!

Aber schwer gefehlt! Ok, Numeri ist am Anfang tatsächlich etwas langweilig, wenn man nicht wie ich auf Statistiken abfährt, aber Levitikus haut pholl phätt rein! Zunächst einmal wirken beide Bücher im Gegensatz zu Exodus viel mehr wie aus einem Guß. Vor allem aber braucht es die richtige Hermeneutik, die richtige Brille, um einen Zugang zu den Büchern zu kriegen. Bei Levitikus drängte sich mir relativ schnell auf, das Buch im Hinblick auf die Verehrung der Eucharistie und den Aufbau katholischer Kirchen zu lesen; nicht zuletzt, weil ständig vom ungesäuerten Brot aus Feinmehl, das heilig ist, die Rede ist. Tabernakel, ewiges Licht (Lev 24), ja sogar die Elevation (Lev 7,14) und praktisch das gesamte Kirchenjahr von Erntedank bis Pfingsten (Lev 23) – alles schon drin! Ok, man muß ein paar Begrifflichkeiten kennen, z.B. daß tabernaculum das lateinische Wort für Zelt ist, aber dann ist Levitikus alles andere als vergangene Gesetzlichkeit, sondern pure Gegenwart (ein paar kleinere Ausnahmen in gesetzlichen Detailregelungen bestätigen die Regel).

Das ist überhaupt das Problem: Man muß erstmal raffen, daß manche uns geläufige Begriffe eben lateinisch oder griechisch sind, die Einheitsübersetzung aber im Text meist die deutschen Worte verwendet (soweit vorhanden) und in den Anmerkungen allenfalls die hebräischen Ausdrücke erwähnt. So habe ich auch eine ganze Weile gebraucht zu merken, daß Josua nicht nur figurativ die Israeliten ins verheißene Land führt wie Jesus uns ins Himmelreich, sondern daß Josua „lediglich“ eine andere griechische Form von J(eh|o)schua als das neutestamentliche Jesus ist… Tja, nur weil man Texte auf Deutsch liest oder hört, heißt das eben noch lange nicht, daß man sie besser versteht, als wenn sie in einer mehr oder weniger unbekannten Fremdsprache formuliert sind.

Besonders angetan hat es mir aber die Weiheitsliteratur. Ja, auch hier gilt, nicht alles ist zum sofortigen Komplettverzehr geeignet (Psalmen, Sprüche). Aber die grundsätzliche Orientierung dieser Bücher ist so herrlich thomanisch „down to earth“ – sie wird weder spiritualistisch noch materialistisch, selbst wenn sie wie Kohelet die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des Menschen bis ins Letzte auskostet.

Stellen wie: „Der Schlaf des Fröhlichen wirkt wie eine Mahlzeit, das Essen schlägt gut bei ihm an“, und: „Wie ein Lebenswasser ist der Wein für den Menschen, wenn er ihn mäßig trinkt. Was ist das für ein Leben, wenn man keinen Wein hat, der doch von Anfang an zur Freude geschafen wurde? Frohsinn, Wonne und Lust bringt Wein, zur rechten Zeit und genügsam getrunken. Kopfweh, Hohn und Schimpf bringt Wein, getrunken in Erregung und Zorn. Zu viel Wein ist eine Falle für den Toren, er schwächt die Kraft und schlägt viele Wunden“ (Sir 30,25;31,19–21), zeigen in aller Deutlichkeit, daß es bei allem Wechsel in den Verhältnissen manche Dinge einfach Grundkonstanten menschlichen Lebens sind: „Wer sich selbst nichts gönnt, wem kann der Gutes tun? Er wird seinem eigenen Glück nicht begegnen“ (Sir 14,5).

Das Hohelied hingegen scheint mir das geistlich tiefste Buch der ganzen Bibel zu sein. Beim ersten Lesen rauscht es irgendwie so vorbei. Beim zweiten Mal merkte ich an ein paar Stellen plötzlich auf, klingt das nicht wie ein Kirchenlied? Beim dritten Mal fielen mir auch die Lieder ein, z.B. „Mein schönste Zier und Kleinod bist“ (Hld 2,16 in der dritten Strophe) und „Sagt an, wer ist doch diese“ (Hld 6,10), und mir zeigte sich eine Tiefe, die ihresgleichen sucht und von mir noch entdeckt werden will.

Leid tun mir aber die Protestanten, die gerade in der Weisheit der schönsten Texte entbehren müssen. Nicht nur fehlt Sirach, so daß den Lutherjüngern ihr „Prediger“ irgendwie der Kontext fehlt, aus dem er verständlich(er) wird, sondern sie kennen auch so krasse prophetische Texte wie Weisheit 2 nicht. Kein Wunder, daß manche von ihnen das AT gleich ganz über Bord werfen wollen.

Da versteht man übrigens auch gleich, warum Luther mit Jakobus nicht viel anfangen konnte. Wer die Weisheit nicht gebührend schätzt, für den wird der Jakobusbrief ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, denn der steht ganz, ganz deutlich in weisheitlicher Tradition, nicht zuletzt in seiner (keineswegs fehlenden!) Christologie. Nur kommt Christus hier nicht als vorösterlicher Jesus, sondern als erhöhter Herr vor, nämlich als die „Weisheit[!] von oben“, die den Christgläubigen zu neuem Leben gebiert, ihre Werke dabei schon immer mitbringt und den Christen dadurch befähigt, sie zu vollbringen. Oder anders gesagt, wer bei Jakobus nicht die Bergpredigt durchhört, kann kaum bemerken, wie nah Jakobus an den Synoptikern ist (27 Parallelstellen, davon die Hälfte aus der Bergpredigt).

Aber ich schweife ab. Die Offenbarung des Johannes habe ich schon immer gemocht. Aber erst nach der kompletten Bibellektüre ist mir so richtig klargeworden, daß und warum sie das würdige Schlußbuch der Bibel ist. Sie greift quasi alle losen Enden auf, alle noch nicht (ganz) erfüllten Verheißungen und bündelt sie. So macht sie nicht nur deutlich, daß die Vollendung noch aussteht, sondern vor allem auch, daß die ganze Bibel zusammengehört und nicht nur die Stellen, die sich neutestamentlich als erfüllt herausstellen oder gar nur die, die uns heute in den Kram passen. Und dabei steht sie voll in der Tradition alttestamentlicher Prophetie. Sie weist sehr wohl darauf hin, daß die Verheißungen oder auch Drohungen Gottes in der Gegenwart relevant sind, auch eine nahe Folge haben werden, daß aber die Geduld Gottes soviel größer ist als wir sie uns vorstellen können, daß die vollständige Erfüllung der Verheißungen noch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausstehen kann. Ihr kennt weder Zeit noch Stunde…

Um das ganze mal abzuschließen: Ja, die Komplettlektüre der Bibel hat mir viel gebracht. Viele Bezüge sind mir vorher nie klar gewesen, und ständig entdecke ich neue. Wichtig war aber, die Bibel nicht „instruktionstheoretisch“ zu lesen, d.h. als Buch, das mir Sachinformationen vermittelt, sondern „personal-kommunikativ“, oder einfacher formuliert: geistlich, auf meine Beziehung zum Herrn hin. So erschlossen sich viele Stellen, die sonst irgendwie alt, unbedeutend und „apokryph“ gewirkt hätten, als geistlich tief, Lebenszusammenhänge erschließend und den Glauben stärkend.

Nur zwei Tips seien potentiellen Nachahmern noch auf den Weg gegeben, wenn sie die Einheitsübersetzung nehmen, was für den Anfang vielleicht gar nicht mal die schlechteste Wahl ist: Überspringt im Zweifel die Einleitungen zu den Büchern, die zum Teil zwar ganz brauchbar, zum Teil aber auch absolut grottig sind und jegliche geistliche Lektüre auszutreiben zu versuchen scheinen. Gleiches gilt für die Anmerkungen. Manche sind hilfreich, manche, insbesondere an Stellen im AT, die eindeutig Jesus als den Messias vorausverkünden, sind einfach katastrophal, weil sie keine Erklärung bieten, sondern nur ausschließen wollen, was zwar offensichtlich ist, aber einfach nicht sein darf.

Inzwischen bin ich übrigens schon wieder zu zwei Dritteln durch. Was für mich etwas sehr Ungewöhnliches ist. Selbst die besten Romane (von Sachbüchern ganz zu schweigen) lese ich nur in absoluten Ausnahmen ein zweites Mal und dann bevorzugt in einer anderen Sprache, weil mir alles so bekannt vorkommt, daß meine Augen zwar weiterhin den Buchstaben folgen, mein Hirn aber gelangweilt sonstwohin abdriftet. Das ist bei der Bibel völlig anders. Hier scheint es mir von Mal zu Mal spannender zu werden. Je besser ich die Texte kenne, umso mehr Querverweise und -bezüge fallen mir auf, umso tiefere Deutungen werden mir möglich. (Die Kirchenväterauslegungen dazu zu lesen, schadet ganz offensichtlich auch nicht.) Wenn das mal nicht ein Zeichen ist, daß dort „is more to it than meets the eye“… 🙂

Ich hab mir mal den Spaß gemacht, die Psalmen am Stück zu lesen. War eine zweischneidige Sache; deutlich anstrengender als im Stundengebet, und viel schneller durch war ich auch nicht. Außerdem wuchsen in mir gewisse Zweifel, ob die häufige Einschätzung, der Psalter decke das gesamte Spektrum menschlichen (Gefühls-)Lebens ab, nicht etwas blauäugig ist. Ja, ok, man wird wohl in jeder Gemütslage einen passenden Psalm finden. Aber möglicherweise tatsächlich nur einen. Die klagenden, um Hilfe schreienden, Unterdrückung, Frevel und Heuchelei anprangernden sind deutlich in der Überzahl, und zwar so deutlich, daß ich des öfteren keine Lust mehr hatte, das Projekt fortzusetzen. (So eine Death Metal-Scheibe lebt ja auch nicht gerade von ihren Texten bzw. deren Vielfalt…)

Allerdings fallen so die sog. Fluchpsalmen kaum auf, vor allem die Einzelverse. Die gehören da einfach hin, entsprechen dem Duktus und liegen in der Konsequenz des Vorausgegangenen. Ganz davon abgesehen, daß man sich mitunter fragt, warum der eine Vers als Fluchpsalm gilt, der andere aber nicht. Mal zur Illustration: Welcher Vers von Psalm 5 gilt als Fluchpsalm? – Richtig, natürlich Vers 11, der sich inhaltlich absolut deutlich von den Versen 9 und 10 abhebt, denn Vers 11 ist im Imperativ gehalten, Verse 9 und 10 im Indikativ. Andererseits gelten Verse im (sachlich vom Imperativ nicht unterschiedenen) jussivischen Konjunktiv nicht als Fluchpsalmen. Echt jetzt, das ist mir alles etwas zu willkürlich. But I digress.

Zurück zum Thema, es gab nämlich doch den einen oder anderen Gewinn des Am-Stück-Lesens. Manche Psalmenreihen ergeben nämlich – gerade als messianische Prophetie gelesen – in ihrer Reihung tieferen Sinn. Besonders deutlich finde ich in dieser Hinsicht die Psalmen 18–24.

Psalm 18 handelt vom Gericht durch den Gesalbten (= Messias = Christus) des Herrn und weist bereits starke Ankänge an Jesu Tod und Auferstehung sowie die Sendung der Kirche auf. Er greift damit auf die Inhalte der nächsten sechs Psalmen voraus.

Psalm 19 zeigt Gott als Ursprung und Ziel des Menschen und legt damit die sachliche Grundlage des Gerichts. Nach Psalm 20 schenkt Gott uns durch den Messias den Sieg. Das heißt, der Sieg wird durch das Gericht hindurch errungen, wie auch Psalm 21 aus anderer Perspektive schildert: der Messias ist König, Gott vernichtet Seine Feinde.

Über Psalm 22 muß ich wohl nicht viele Worte verlieren. Daß das der Karfreitagspsalm ist, ist wohl nicht erst seit der Passion nach Matthäus bekannt. Gottes Kraft erweist sich in der Schwäche, in Leiden und Tod. Denn Gott beglaubigt das Leiden seines Gesalbten, Leid und Tod haben nicht das letzte Wort. So wird es vielmehr zum Gericht für die Feinde.

So ergibt es auch Sinn, daß mit Psalm 23 ausgerechnet der megamäßig positive, fast schon kitschige „Der Herr ist mein Hirte“-Psalm folgt. Wie schon das Ende von Psalm 22 ankündigt, wendet Gott das Schicksal Seines Knechtes – Auferstehung.

Wen wundert es dann noch, daß in Psalm 24 vom Kommen des Königs des Herrlichkeit die Rede ist? Wiederkunft.

In den Psalmen 18–24 sind also für den, der sie zu finden vermag, bereits die Grundzüge neutestamentlicher Heilsgeschichte enthalten.

Damit der Fluchpsalm-Anfang dieses Posts noch seinen tieferen Sinn bekommt, ein weiteres Beispiel, die Psalmen 105–111. Wieder ist hier mit Psalm 110 ein Psalm enthalten, der bereits in den neutestamentlichen Schriften massiv messianisch verstanden wird (vgl. Mt 22,41-46; Hebr 7). Von ihm her hat sich mir plötzlich die ganze Reihe erschlossen, die vorher (zumindest teilweise) sterbenslangweilig war.

Psalm 105 weist auf den geschichtlich erfahrbaren Zusammenhang zwischen dem Verhalten bzw. Verhältnis des Volkes zu Gott und seinem Schicksal hin, der dann in Psalm 106 konkret ausgeführt wird: Auszug aus Ägypten – Murren in der Wüste – große Umwege; Einzug in Kanaan – Götzendienst – Exil; Umkehr – Rettung aus dem Exil. Gott ist also gerecht und barmherzig, wie dann Psalm 107 deutlicher hervorhebt: Der Herr erbarmt sich der Schwachen, Gefangenen und Bedrängten, der Sünder und Armen; die Redlichen sehen es und freuen sich, doch alle bösen Menschen verstummen. Hier Jesu Botschaft vom Reich Gottes zu erkennen, fällt nicht allzu schwer, wenn man (von Psalm 110 auf die Spur gesetzt) einmal angefangen hat, in diese Richtung zu denken.

In Psalm 108 den Widerspruch der Pharisäer und Sadduzäer anklingen zu sehen, ist zugegebenermaßen schon etwas schwieriger. Der Psalm ist aber ein Ruf nach Hilfe von Gott, ohne den das Volk nichts tun kann, und in den letzten Versen klingt wiederum das Gericht an. Und genau dieses Gericht läßt sich dann in Psalm 109 ziemlich deutlich erkennen: Lösche die Erbarmungslosen aus, vernichte ihr Erbe und Andenken, doch rette Deinen rechtschaffenen Knecht – so wie das Kreuz eben Gericht für den ist, der kein Erbarmen gezeigt hat, aber Rettung für den, der seine Hoffnung auf Gott setzt.

Psalm 110 ist nun wirklich ein messianischer Psalm par excellence (s.o.). Hier stecken deutlich die Auferstehung und die darin enthaltene Beglaubigung Gottes des Vorangegangenen drin: Der Herr erhöht Seinen Gesalbten, der Priester auf ewig ist nach der Ordnung Melchisedeks. Von hier, also dem Priestertum Melchisedeks, ist es nur noch ein kleiner Sprung, in Psalm 111 einen Psalm der Eucharistie zu sehen: Er hat ein Gedächtnis an Seine Wunder gestiftet, der Herr ist gnädig und barmherzig. Er gibt denen Speise, die Ihn fürchten, an Seinen Bund denkt Er auf ewig.

Und siehe da, in dieser Reihe steckt der wohl „schlimmste“ Fluchpsalm ever, was aber vielleicht kein Zufall ist: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem Er für uns zum Fluch geworden ist.“ (Gal 3,13)

Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Zusammenhänge zwischen den Psalmen. So kamen mir etwa die Psalmen 146150 quasi wie eine „eschatologische Reihe“ vor, zumal die ja auch alle mit „Halleluja“ beginnen und so schon auf einen Zusammenhang aufmerksam machen.

Am Ende habe ich dann gefragt, ob die Einteilung des Psalter in Bücher bei der Suche nicht helfen könnte, indem man sie als jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die Heilsgeschichte interpretiert – wie ja die Psalmen 18–24 und 105–111 im Prinzip dasselbe Heilsgeschehen wiederspiegelten, dabei aber ganz unterschiedlich herangehen.

Ist das ein Text! Kurz und knackig (21 Verse), genau der Struktur alttestamentlicher Heilsprophetie enstprechend: Die Trennung zwischen ursprünglichen Text und Nachsatz, wie sie die Einführung der Einheitsübersetzung macht, ergibt inhaltlich überhaupt keinen Sinn. Vorausgesetzt natürlich, man betrachtet den Text tatsächlich als prophetisch und nicht nur als rein historisch. Eines ist jedenfalls sicher: Wenn der Text nicht zufälligerweise den heutigen Staat Israel voraussagt (und das ergäbe nicht mal in rein alttestamentlicher Prespektive Sinn, d.h. unter Ausblendung der Menschwerdung), dann enthält er einen massiven Verheißungsüberschuß.

Genauso erweist sich die Textumstellung (V1) in der EÜ als irreführend:

Einheitübersetzung:
„Als ein Bote zu den Völkern gesandt wurde mit dem Ruf: Auf zum Kampf gegen Edom!, da haben wir vom Herrn eine Kunde gehört.
So spricht Gott der Herr zu Edom: […]“

Luther:
„So spricht Gott, der HERR, über Edom: – Wir haben vom HERRN eine Botschaft gehört, ein Bote ist unter die Heiden gesandt: Wohlauf, laßt uns wider Edom streiten! – „

Elberfelder
„So spricht der Herr, HERR, über Edom: – Eine Kunde haben wir vom HERRN gehört, und ein Bote ist unter die Nationen gesandt worden: ‚Macht euch auf, laßt uns gegen Edom aufstehen zum Krieg! – „

Der Unterschied ist: Handelt erst Gott – oder handeln erst die Menschen, die einen Boten zu möglichen Verbündeten schicken, woraufhin dann der Prophet ein Gerichtswort über Edom spricht – das historisch offensichtlich nicht eingetreten ist, was Obadja als Falschpropheten entlavte?

Bei Luther klingt zudem „Wir haben vom HERRN eine Botschaft gehört, ein Bote ist unter die Heiden gesandt“ nach einem Parallelismus membrorum, nicht nach einer Abfolge zweier unabhängiger Ereignisse. Mit anderen Worten: Die EÜ geht quasi apriori von einer historischen Situation aus und schreibt diese – gegen den Wortlaut – in den Bibeltext!

Der Text ist im ganzen apokalyptisch: Er zeigt auf, daß „Edom“ bereits dem Untergang geweiht ist, sein Lebensstil kann nicht von Dauer sein. Wobei hier „Edom“ bereits als „Typus der Feinde Israels“ zu verstehen ist, und in einer christlichen Interpretation steht Israel für die Kirche. In dieser Persprektive ergibt auch der Bote an die Heiden (die Völker) Sinn, gerade als Parallelismus membrorum: Wir (=Israel) haben vom Herrn gehört, die Heiden hören es von einem Boten. (Wobei in der Septuaginta nicht mal was von einem Boten steht, sondern: „Er hat zu den Heiden einen Inhalt ausgesandt“ – was m.E. noch näher an der Menschwerdung als an einer historischen Zeitangabe ist -, der Handelnde ist also Gott selbst!)

Die ganze Prophetie dieses kurzen Buches ist eine Stärkung, in der Zwischenzeit die Drangsale der Not, die Unterdrückung , die Verfolgung und den Spott zu ertragen. Denn wisse: Das alles ist nichtig, bedeutungslos, im Kreuz schon längst gerichtet. Selbst wenn „Edom“ meint, auf dem hohen Berg (Roß?) sicher zu sein (3), es wird herabgestürzt werden (4), all seine Macht ist letztlich nutzlos, gegen die es ausplündernden Diebe und Räuber hat es kein Mittel – ja selbst die Bundesgenossen (7) betrügen und verraten es (ein Reich, das in sich gespalten ist…?); seine ganze Daseinsweise zerstört sich selbst, kann einfach keinen Bestand haben, weil sie auf Ungerechtigkeit und Schandtat gründet. Gerade weil es Jakob, „deinem Bruder“, Gewalt antat – also Christen verfolgte -, „wirst Du ausgerottet für immer“ (10).

Freu dich nicht über das Unglück der Kirche, der Christen (12f.), mach die Fliehenden nicht nieder (14) – denn was du tust, fällt auf dich zurück (15). Egal aus welchem Volk du stammst, wenn du Israel (die Kirche) nicht unterstützt und verteidigst, indem du (siehe V1!) mit ihm gegen „Edom“ ausziehst, wird dich Edoms Schicksal treffen. Am Ende gibt es nur noch Zion und Israel – Gott und die Kirche (egal aus welchem Volk du stammst), Christus und Seinen Leib (22). Der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten uns sie werden herrschen in alle Ewigkeit (Offb. 22,5).

(Apropos Offenbarung des Johannes: Die 12 „kleinen“ Propheten klingen zu weiten Teilen so, als seien seien sie geradezu die Vorlage für die Offenbarung gewesen, bzw. umgekehrt: als wäre es Ziel der Offenbarung alle noch nicht erfüllten Prophetien zu sammeln und als noch zu verwirklichende uns vor Augen zu stellen. Siehe oben: Verheißungsüberschuß!)

hjerSie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis. Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine. Die Stadt war viereckig angelegt und ebenso lang wie breit. Ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich: zwölftausend Stadien [gut 2100 km]. Und er maß ihre Mauer; sie ist hundertvierundvierzig Ellen [gut 68 m] hoch. Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas. Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit edlen Steinen aller Art geschmückt; der erste Grundstein ist ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sardion, der siebte ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. Die zwölf Tore sind zwölf Perlen; jedes der Tore besteht aus einer einzigen Perle. Die Straße der Stadt ist aus reinem Gold, wie aus klarem Glas. Und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen. Und man wird die Pracht und die Kostbarkeiten der Völker in die Stadt bringen.