Am 1. Januar 2010 tritt eine Gesetzesänderung zu Spätabtreibungen in Kraft. Wesentlicher Kern des Gesetzes ist die Ausdehnung der Beratungsregelung auf die sogenannte medizinische Indikation. Solange nicht unmittelbarer Lebensgefahr abgeholfen werden muß, darf der diagnostizierende Arzt jetzt erst drei Tage nach der Diagnose das Voliegen der medizinischen Indikation nach § 218b, Absatz 1 StGB schriftlich beurkunden. Zudem muß die Schwangere dem Arzt bestätigen, daß er seiner Beratungspflicht nachgekommen ist. Diese Beratungspflicht umfaßt unter anderem die Erörterung der medizinischen und psychosozialen Aspekte, die sich aus der Diagnose ergeben, der möglichen medizinischen, psychischen und sozialen Fragen sowie der Möglichkeiten zur Unterstützung bei psychischen und physischen Belastungen. Schließlich soll der Arzt die Schwangere auch auf Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen aufmerksam machen und gegebenenfalls sogar Kontakt herstellen.
Soweit so gut. Damit wird einer Klage der Ärzte abgeholfen, die sich mit der Situation in rechtlicher Unsicherheit alleingelassen fühlten. Denn bisher war der diagnostizierende Arzt in der Praxis fast immer zugleich der einzige Berater der Schwangeren, setzte er sich aber für das Leben des ungeborenen Kindes ein, lief er Gefahr, später schadensersatzpflichtig zu werden („Kind-als-Schaden-Urteil“). Nun soll es also eine Bedenk- und Beratungszeit von drei Tagen geben, und an der Beratung sollen auch andere Berater, vor allem auch Fachärzte für die diagnostizierte Behinderung des Kindes beteiligt werden.
Natürlich hängt nach wie vor viel am Engagement des einzelnen Arztes, zumal die Beratung „ergebnisoffen“ erfolgen soll. Dennoch wird deutlich, daß die ursprüngliche Absicht des Gesetzentwurfes war, die „medizinische“ Indikation, die 1995 die aus guten Gründen abgeschaffte „eugenische“ bzw. „embryopathische“ Indikation indirekt mit aufnahm, einzuschränken: Der Schwangeren soll die Möglichkeit eines Lebens mit behindertem Kind aufgezeigt, die Heilungs- und Linderungsmöglichkeiten vorgestellt und die Folgen einer Abtreibung auch und gerade für die Mutter klargemacht werden.
Daher ist auch die eigentliche medizinische Indikation von der Beratungsregelung ausgenommen: Besteht Gefahr für das Leben der Mutter, kann nach wie vor abgetrieben werden. Der Tod des Kindes ist in dieser Situation ja auch gar nicht intendiert, vielmehr handelt es sich um eine unerwünschte Nebenfolge, die mit allen Mitteln zu verhindern gesucht wird. Anders aber bei der „medizinischen“ Indikation im weiteren Sinne, die der Bezeichnung absolut Hohn spricht: Denn hier handelt es sich um ein unerträgliches rechtliches Konstrukt, durch das krampfhaft versucht wurde, die Behinderung des Kindes zwar nicht mehr als Abtreibungsgrund (eugenische oder embryopathische Indikation) erscheinen zu lassen, faktisch aber durch die Hintertür der „psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung der Mutter jetzt oder später“ diesen Abtreibungsgrund beizubehalten. Denn eine zukünftige Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit der Mutter ist sowas von vage, daß es letztlich allein an der Entscheidung der Mutter liegt, ob abgetrieben wird oder nicht.
Am deutlichsten aber wurde die Absicht, diese de facto eugenische Indikation einzuschränken, am 4. Absatz des Gesetzentwurfs. Dieser Absatz fand aber im Bundestag keine Mehrheit und wurde in den Medien auch immer nur beiläufig mit „ach, da ging’s ja nur um Statistisches“ abgehandelt. Zwar ging es tatsächlich „nur“ um die Regeln zur statistischen Erhebung, aber die drei zusätzlichen Erhebungpunkte hatten es in sich! Denn es handelte sich um:
– vorgeburtlich diagnostizierte Fehlbildung oder Genomauffälligkeiten,
– Tötung des Embryos im Mutterleib bei Mehrlingsschwangerschaften,
– Tötung des Embryos im Mutterleib in sonstigen Fällen.
Es ging also um nicht mehr und nicht weniger als die statistische Erhebung, wieviele der nach „medizinischer“ Indikation durchgeführten Spätabtreibungen faktisch embryopathische Gründe hatten, also um die Aufdeckung der Folgen der 1995 eingeführten Hintertür! Der abgelehnte Absatz wäre also eine Zeitbombe für die Abtreibung aufgrund einer Behinderung des Kindes geworden, denn dann wäre statistisch erhoben worden, was heute nur zu vermuten ist: Daß der allergrößte Teil der Spätabtreibungen nach medizinischer Indikation de facto embryopathisch „indiziert“ ist. Diese „Zeitbombe“ wollte die Mehrheit unserer Abgeordneten gar nicht erst zu ticken beginnen lassen. Die mit Jahresbeginn in Kraft tretende Neuregelung zeigt so die ganze Heuchelei der deutschen Abtreibungsgesetzgebung.