Ein wenig spät bin ich dran mit einem Posting zum 50. Jahrestag des Mauerbaus. Da ich am Samstag ja auswärts war, habe ich mich erst gestern durch die Zeitung vom Samstag gewühlt (und war danach nicht mehr fähig, mein ungütes Gefühl zu verbalisieren).

Ein doppelseitiger journalistische Artikel in der FAZ hatte den treffenden Titel „Der Tag, an dem sich Berlin im Stich gelassen fühlte“, zeigt auf, mit welcher Gelassenheit Nicht-Berliner auf den Mauerbau reagierten und wie das in Berlin (West) zu apokalyptischen Gefühlen führte. In meinen Augen eine Ungeheuerlichkeit! Da setzt sich der Osten über das Vier-Mächte-Statut hinweg (das die Sowjets drei Jahre zuvor allerdings einseitig aufgekündigt hatten), und die Westmächte drehen Däumchen, während sie vorgeführt werden. Nur der damalige Regierende Bürgermeister Brandt bezeichnete die Sperranlagen als das, was sie waren: „Kennzeichen eines Konzentrationslagers“.

Aber ob Bonn, ob London, ob Paris oder Washington: Keine allzu deutliche Positionierung, mehrere Tage bis zum Übergeben einer Protestnote, die auch wieder Deutlichkeit vermissen läßt. Alles in allem: Es ist doch gar nicht mal so schlecht, was da passiert ist. Genau das versucht auch Egon Bahr in einem fast ganzseitigen Beitrag über die politischen Hintergründe im Westen zu erklären, wobei man den Eindruck gewinnt, er versuche eher sich selbst als andere zu überzeugen. Aus dem glücklichen Ausgang von 1989, den 1961 niemand zu erträumen gewagt hatte, schließt er, daß die „besonnene“ Reaktion die richtige war.

Daß dem aber eigentlich nicht so war, zeigen die Details des Jahres 1961. Denn am 13. August wurde nicht die eigentliche Mauer gebaut, sondern die Sektorengrenze nur mit (beweglichem) Stacheldraht gesichert. Der eigentliche Mauerbau begann erst am 17. August. Warum? Weil DDR und Sowjets erst die westliche Reaktion abwarten wollten. Nehmen die Westalliierten ihr im Vier-Mächte-Statut verbrieftes Recht auf freie Bewegung in gesamten „Groß-Berlin“, also auch im sowjetischen Sektor, wahr, indem sie einfach den Stacheldraht zur Seite räumen? Nein, das taten sie nicht, und sie brauchten auch fast eine Woche, um sich auf eine gemeinsame Protestnote zu einigen und sie in Moskau zu überreichen. Erst angesichts dieser praktischen Null-Reaktion wurde mit schon seit Monaten logistisch vorbereiteten dem Bau der Mauer begonnen. Bestätigt wurde diese Deutung durch den Tod des Mauerflüchtlings Peter Fechter, der bei Erkletter der Mauer niedergeschossen wurde, nach Osten zurückfiel und dort fünfzig Minuten lang verblutete — unter den Augen eines amerikanischen GIs, der nach dem Vier-Mächte-Statut das Recht gehabt hätte, die Mauer zu übersteigen, aber sich trotz Aufforderung durch umstehende West-Berliner mit Berufung auf anderslautende Befehle weigerte. Die Westalliierten hatten nicht nur den Bau der Mauer, sondern auch die Aufgabe ihrer Rechte im Ostteil der Stadt akzeptiert.

Warum das so war, erklären zwei entlarvende amerikanische Zitate: „Keine besonders angenehme Lösung, aber eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg.“ (Präsident Kennedy) Und: „Wir wollen abwarten und sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Schließlich hat die DDR-Regierung uns einen Gefallen getan. Dieser Flüchtlingsstrom wurde peinlich.“ (Foy D. Kohler, stellvertretender Außenminister) Auch Egon Bahr erwähnt den Flüchtlingsstrom und daß der Westen bereit gewesen war, sich an stärkeren, nämlich doppelten Kontrollen beim Sektorenübertritt zu beteiligen, um die kaum noch zu integrierende Masse an Flüchtlingen zu reduzieren. Er zieht sogar den Schluß, daß der Mauerbau dem Westen in die Hände spielte. Denn trotz aller Propaganda glaubte wohl niemand ernsthaft, daß die Mauer nicht gegen die eigene DDR-Bevölkerung gerichtet und damit Eingeständnis des Scheiterns des sozialistischen Systems war. Nur einen Aspekt übergeht er: Daß der Mauerbau für den Westen eine Art Gordischen Knoten zerschlug, denn so mußte er nicht eingestehen, daß er eigentlich auch keine Flüchtlinge mehr haben wollte. Der Osten hat mit dem Mauerbau ein Problem des Westens gelöst, das dieser ideologisch eigentlich gar nicht hätte haben dürfen und deshalb nur um den Preis des Gesichtsverlusts hätte überwinden können. Stattdessen hat der Osten sein Gesicht verloren.

Daß die Deutung, mit der „besonnenen“ Reaktion der dritte Weltkrieg verhindert worden sei, nicht weit trägt, zeigen die deutlich unbekannteren, aber dramatischeren Ereignisse des Oktobers 1961. Eigenmächtig und offensichtlich mit mächtig Oberwasser, daß der Mauerbau so problemlos geklappt hatte, begann die DDR, Angehörige der Westalliierten am Checkpoint Charlie, dem nunmehr einzigen Grenzübergang für Amerikaner, Briten und Franzosen in den Ostteil der Stadt, zu kontrollieren. Das ging jetzt dann doch auch den Westalliierten zu weit, und sie taten, was sie mit kaum mehr Konfliktpotential bereits im August hätten tun können: Sie reagierten scharf und mit militärischen Drohgebärden (man beachte die Vollbremsung bei 1:12 und 2:38 — das hätte auch anders ausgehen können!):

Im großen und ganzen entsprach die Reaktion des Westens (Adenauer eingeschlossen) keineswegs den Lippenbekenntnissen und Sonntagsreden von Freiheit und Demokratie, sondern der Kajaphas-Machtlogik: Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Nur daß es hier um 17 Mio Menschen in der SBZ und nochmal 2 Mio weitere in Westberlin ging… Unbestritten, daß Gott auch aus solchen Situationen noch Gutes wachsen lassen kann, aber nicht weil, sondern obwohl die Entscheidung so „besonnen“ ist. Mir ist nicht wohl, wenn unschuldiges Leben gegen anderes unschuldiges Leben abgewogen wird.

Eine kleine Rückschau, zu Anspruchsvollerem bin ich heute nicht mehr in der Lage:

Das Wetter hielt sich erstaunlich gut, mein Zelt leider nicht. Fachterminus ist wohl „Wasserbrücke“, nämlich zwischen Innen- und Außenzelt… Und damit bin ich auch schon beim größten Kritikpunkt des neuen Geländes angelangt: Während der Boden in Bad Berka dermaßen weich war, daß er nach ein paar Regengüssen nicht mehr viel brauchte, um davonzuschwimmen, war der Boden in Schlotheim dermaßen hart, daß die Heringe nur mit viel Mühe oder reichlich Glück tiefer als einen halben Zentimeter in den Boden zu kriegen waren. Zumindest an meiner Zeltstelle. Der feste Boden machte sich dann auch beim Schlafen bemerkbar. Wo kriege ich jetzt ’nen neuen Rücken her?

Das Billing war ja leider etwas Black Metal-lastig. Dadurch war der Freitag im großen und ganzen langweilig. Hinzu kamen die Unbillen des Wetters. Am Donnerstag hatte es drei Stunden vor Beginn das Bühnendach (in Form einer Plane) zerlegt, so daß die alte Party.San-Tradition der „Tent Stage“ am Donnerstag wieder auflebte (ein Open Air unterm Zeltdach…). Dafür fiel kein einziger Tropfen Regen. Wäre ein schöner Abend gewesen. Vielleicht hätte ich bei frischer Luft und in liegender Position der eher meditativen Musik von Negura Bunget was abgewinnen und von Decapitated auch was sehen können. Daß ich auch Darkened Nocturn Slaughtercult was abgewinnen konnte, behalte ich lieber für mich, sonst heißt’s wieder: „Wieso unterstüzt Du diesen Satanskram?!“ (In diesem Fall wäre die Antwort noch zu ergänzen um die Erfahrung, daß ich jedes Jahr Anlaß zu religiösen Diskussionen gebe, sogar zu sachlichen 🙂

Pünktlich zur ersten Band am Freitag, die man sich anhören konnte, begann es dann sintflutartig zu schiffen — mit den Folgen a) für mein Zelt (s.o.) und b) daß ich von Desultory nicht viel gehört habe. Puteraeon war irgendwie noch zu früh für mich, Skeletonwhitch zu thrashig, obwohl man mir mit „genialer Stilmix von Black Metal bis NWoBHM“ durchaus Lust auf die Band gemacht hatte. Danach kam dann gaaaanz viel Black Metal. Primordial war nicht annähernd so gut wie auf Platte (und auch nicht wie beim PSOA 2007), den Hype um Melechesh kann ich einfach nicht nachvollziehen (mag ja einzigartig sein, aber nicht alles Einzigartige ist auch gut) und 1349 war zwar lautes und schnelles Geknüppel, aber leider auch nicht mehr. Mit Ensiferum gab’s dann ein wenig Viking Metal-Entspannung, von der mich dann der Regen ins Camp zurücktrieb, von wo ich leicht wehmütig den Klängen von Morbid Angel lauschte, die anscheinend das halbe Altars of Madness-Album runtergespielt haben. Aber auch hier behalte ich lieber für mich, daß die offenbar vom Wiener Aktionismus inspirierten Belphegor für mich den besten Auftritt des Tages hingelegt haben (ganz im Gegensatz zum PSOA 2007, wo ich sie absolut schlecht fand).

Nach einer leidlich trock(n)en(d)en Nacht ging der Samstag dann aber gleich viel besser los, nämlich mit einer ordentlichen Prise, nun, nennen wir es mal unter Absehen vom exakten Genrenamen einfach mal Grindcore zum Wachwerden von Cliteater (fragt nicht…). Obwohl Whitchburner anschließend im großen und ganzen Thrash Metal spielten, konnte ich sie viel besser leiden als viele andere schnell und laut Bands vorher — wie könne man gegen eine Band sein, die den Hexenhammer vertont. (*hüstel*) Der Preis für den schlechtesten Bandnamen ever geht an die dann folgenden Panzerchrist aus Dänemark. Auch der Party-Pagan Metal-Entspannungsauftritt von Heidevolk war dann noch irgendwie zu überstehen, bevor dann der Lacher des Tages eine Änderung der Running Order ankündigte: Exhumed standen in Bad Berka und konnten einfach das Festival nicht finden. Dafür wurde dann Taake vorgezogen, die mir bisher nur durch einen peinlichen und seltendämlichen Aussetzer ihres Frontmanns Høst aufgefallen waren. Wo ich aber schonmal da war (und keine Lust hatte aufzustehen), konnte ich sie mir auch ebensogut anhören — mit dem Ergebnis der absoluten Überraschung des ganzen Festivals: Wo True Norwegian Black Metal draufsteht, kann gute Musik drinstecken, die auch noch Lust auf mehr macht? Eigentlich unmöglich, aber dennoch… Und selbst Høst stellte sich wie im Programmheft beschrieben — in meiner bisherigen Vorstellung von norwegischem Black Metal eigentlich nicht denkbar — als „Rampensau“ heraus. Ein Black Metaller, der auf der Bühne Spaß hat und das dem Publikum auch noch zeigt? Was kommt als nächstes? Wird der Papst evangelisch?

Nachtmystium sollen Black Metal mit 70er Jahre Acid Rock vermischen. Schade nur, daß man davon so wenig gehört hat, der Black Metal-Anteil war akustisch einfach überepräsentiert. Danach aber konnte eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Oder doch? Hail of Bullets haben sich leider unter Wert verkauft (das könnt ihr besser!). Bei Watain habe ich mein Zelt abgebaut (solange es noch Tageslicht gab — was ich vom Camp aus gehört habe, klang aber besser und spaßiger als das, was ich in Erinnerung hatte). Morgoth hatten die dämlichsten Ansagen des ganzen Festivals („Wir sind Morgoth, wer seid ihr?“ *Schweigen* sowie vor und nach jedem Song „Wir sind Morgoth und wir sind zurück; hätten wir jetzt kaum gemerkt), haben sie aber mit der Musik wieder mehr als wettgemacht. Enslaved haben sich leider auf die jüngeren, „progressiven“ Alben konzentriert und Eld völlig außen vor gelassen :-(. Na gut, bei Enslaved muß man wenigstens zugeben, daß sie „progressiv“ nicht nur als Euphemismus für „ideenlos“ verwenden, aber mir ist das zu abgespaced. Mehrminütige Ruhephasen brauche ich nicht, selbst wenn sie sich mit übelsten Ausbrüchen kombinieren. Zu At the Gates waren aus unserem Camp nur noch drei Leute übrig, die anderen sieben waren schon im Bett oder sogar schon auf dem Weg nach hause. Selbst schuld, denn At the Gates waren besser als auf Platte! Dort haben sie mich nicht so richtig mitreißen können, auf der Bühne schon! Ein würdiger Abschluß eines sich zum Ende hin deutlich steigernden Festivals.

So, heute headlined At the Gates, also wäre wieder Death Metal dran, genauer: Die Band gilt als Begründer des Göteborg Death Metals oder Melodic Death Metal. Habe ich aber gerade keine Lust drauf, also werde ich aus den wenigen (in meinen Ohren) guten Black Metal-Songs ein paar auswählen (und dabei mich nicht allzusehr von Genregrenzen wie Pagan oder Viking Metal aufhalten lassen, sonst beschränkt sich das hier im Wesentlichen auf Immortal).

Enslaved — 793 (Slaget om Lindisfarne)
Co-Headliner sind heute Enslaved. Drum der meiner Meinung nach beste Song von denen, deren Text, in dem der Überfall auf das ungeschützte Kloster Lindisfarne verherrlicht wird, man besser ignoriert. Da auf irgendwas a la „ancient scandinavian“ gesungen, versteht man ihn eh nicht. Aber musikalisch ist das Stück von 1997 eine gute Viertelstunde Orgasmus.

Immortal — Pure Holocaust
Wie gesagt, es geht nicht ohne Immortal. Spätere Alben sind mir zu glatt, daher das Titelstück vom absolut politisch inkorrekt betitelten zweiten Album (1993). (Wobei man dazu sagen muß, hier wird „Holocaust“ im eigentlichen Wortsinne verwendet und „Pure Holocaust“ beschreibt eine Apokalypse. Daß die Band sich der Provokation nicht bewußt gewesen sein soll, halte ich allerdings für absolut unglaubwürdig.)

Bathory — One Rode to Asa Bay
Black Metal zu sagen, bedeutet (nach Venom) Bathory zu meinen. In der Black Metal-Phase aber m.E. absolut unhörbar, drum ein wenig Viking Stuff von 1990:

Cradle of Filth — The Forest Whispers My Name
Auch nicht fehlen darf mein erster Kontakt mit Extreme Metal in Form von Cradle of Filth bzw. deren Song „The Forest Whispers My Name“ (1994). Als ich den das erste Mal hörte (ca. 1999/2000), wußte ich noch nicht einmal, daß es sowas wie Black Metal überhaupt gibt. Da war für mich alles noch „Heavy“ oder nur „Metal“ und dieser Song absolut „fucking awesome“ und so ziemlich das letzte mal, daß mir ein Metalsong so richtig evil und gefährlich schien.

Ich habe da mal was vorbereitet… Da letzte Woche in der Blogoezese mehrfach von „oldschool“ die Rede war, hier ein bißchen echte Oldschool (nämlich of Death Metal):

Dismember — Override of the Overture
Schwedischer Death Metal von 1991, hier in der Live-Version (passenderweise vom Headlinerauftritt auf dem Party.San 2008). Allein das Hauptriff ist einen Abgang wert!

Possesed — The Exorcist
Death Metal avant la lettre. Von 1985, wie man an dem billigen Synthy-Intro leicht erkennt :-). Die Cannibal Corpse-Version ist in meinen Ohren zwar abgesehen vom Fehlen des kultigen Intros besser, aber das Original ist in Sachen Oldschool einfach zwingend erforderlich. Hier kommt das Hammerriff erst nach knapp 80 Sekunden, dauert dafür aber auch fast 20 🙂

Death — Infernal Death
Ok, über Old School Death Metal zu reden ohne die Death, die Vorreiter des Technischen Death Metals zu erwähnen, kann nicht sein. Die ersten drei Alben hier komplett einzubetten, wäre wohl etwas Overkill, schweren Herzens mußte ich mich also für ein Stück entscheiden. Nach rein formalen Kriterien ausgewählt der Opener des ersten Albums (1987):

Morbid Angel — Maze of Torment
Ok, von Morbid Angel ist eigentlich nur der Erstling „Altars of Madness“ (1989) wirklich gut, dafür aber überragend. Da Morbid Angel den heutigen Freitag headlined, hier der meines Erachtens beste Morbid Angel-Song ever:

So, da ich davon ausgehe, daß das sich sowieso kaum einer alles reinzieht, soll es für heute reichen.

Wat dem einen sein Karneval ist dem andern sein Party.San. Drei Tage zelten, leben, schlafen, essen und frieren im Schlamm. Dazu eine Überdosis Death/Black/Thrash Metal sowie Ernährung von Fast Food und Bier. Jährlich am zweiten August-Wochenende. Dieses Jahr möglicherweise sogar mit ein paar Sonnenstrahlen und — dank neuer Location auf einem Flughafen — mit befestigten Wegen im Camp-Area. Hier also Commonitoria in der Party.San-Edition mit ein paar Impressionen vom letzten Jahr, in dem meine Stiefel schon kurz nach der Anreise ihr Leben ausgehaucht hatten:



Danach weiß man dann ein festes Dach über dem Kopf, Seife und eine Dusche wieder viel besser zu schätzen. Die Soundqualität ist übrigens auf dem Party.San in aller Regel spitze. Wenn sie auf den Videos anders wirkt, liegt das an den Handys, die sie aufgenommen haben.

Im Kommentarbereich zum Sommerloch hat sich der Morgenländer gewünscht, „die Sommerloch-Äußerungen des Bundesinnenministers zum Anlass“ zu nehmen, „einmal über die diskussionskultur im Netz (und über die eigene Schere im Kopf) nachzudenken“. Zunächst mal vorneweg: Ich freue mich, wenn tatsächlich eine sachliche Diskussion zustandekommt, auch wenn das Medium „Blog“ dafür nicht unbedingt die beste Infrastruktur für bietet. Allerdings frage ich mich, ob mit Unterstellungen einer „Schere im Kopf“ da weiter zu kommen ist. Meines Erachtens geht es nämlich nicht um eine „Schere im Kopf“ (weder auf der einen noch auf der anderen Seite), sondern um ein Ausgehen von unterschiedlichen Voraussetzungen und eine unterschiedliche Gewichtung der (vielfältigen) Aspekte, die in die ganze Geschichte reinspielen.

Die Diskussion um Realnamen ist nicht neu. Schon auf dem Höhepunkt des Streits im Usenet vor ca. 10 Jahren wurde im großen und ganzen dieselben Argumente ausgetauscht. Gegen Pseudonyme wurde u.a. angeführt:

  • Wer ein Pseudonym verwendet, scheint nicht öffentlich zu seiner Aussage stehen zu wollen und zerstört so die Diskussionskultur.
  • Die Qualität der Äußerungen von Pseudonymschreibern ist im Schnitt deutlich geringer als die von Realnameverwendern (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Infolgedessen ist es von geringem Nutzen, solche Beiträge überhaupt erst zu lesen. Viele haben tatsächlich auf Pseudonyme gefiltert, so daß ihnen entsprechende Postings nicht mehr angezeigt wurden.

Ich gehörte zwar nie zu den Filterern aufgrund von Pseudonym (ließ sich mit Netscape Collabra gar nicht sinnvoll umsetzen, später war ich nicht mehr in weltanschaulichen Gruppen aktiv, woanders braucht man aber kaum ein Killfile), wohl aber fanden sich in meinem Killfile bevorzugt tatsächlich Pseudonymverwender. Andererseits gab es auch Leute, die unter (scheinbarem?) Realname unsäglichen Dünnschiß von sich gaben.

Zugleich stellt das Filtern aber auch eine Art von „Cocooning“ dar: Man muß sich ja mit den Argumenten der Gefilterten nicht mehr auseinandersetzen. Jede Filterregel war für mich daher immer auch ein Zeichen der Niederlage. Gut, es gab (und gibt) die Diskutanten, die schlicht und ergreifend diskursunfähig sind, weil sie auf jedes beliebige Argument mit denselben Textbausteinen antworten. Irgendwann ist dann halt einfach mal genug. (Ein Beispiel: In einer Diskussion über Kreationismus vs. Evolution brachte es eine Diskutantin fertig, nach über 200 Posts die ganze Diskussion wieder in die Tonne zu treten und sinngemäß zu schreiben: Was soll denn der ganze Mist hier? Könnt ihr nicht in die Bibel gucken? Ich lese da eindeutig, daß die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde. Sie schrieb übrigens unter Realname.) Dennoch erschrecke ich immer wieder, wenn jemand der Meinung ist die Diskussion mit $ANDERE_WELTANSCHAULICHE_GRUPPE hätte einfach keinen Sinn, da sei kein Blumentopf mit zu gewinnen. Meine Erfahrung ist eigentlich eine andere, es kostet nur viel Zeit und die Diskussion muß sich sukzessive auf die grundlegenden Differenzen (meist auf Metaebenen zu suchen) verschieben. Leider bieten weder Blogs noch Soziale Netzwerke dafür die geeignete Technik.

Insofern kann ich die Bedenken gegenüber der gegenwärtigen Diskussionskultur im Internet durchaus verstehen. Allerdings sehe ich das Problem nicht in der (scheinbaren) Anonymität, sondern im (fortgesetzten) Cocooning: Was da als schlechter Stil kritisiert wird, ist meines Erachtens eine Folge der zunehmenden Fragmentierung unserer Gesellschaft, in deren Folge die Denkmöglichkeit einer zum eigenen Fragment abweichenden Meinung als unmöglich erscheint. Oder anders gesagt: Viele Diskutanten sind mit der Empathie für ihr Gegenüber überfordert, wenn es nicht die unhinterfragten Grundannahmen des eigenen Milieus teilt: Like/Dislike, irgendwas dazwischen gibt es nicht mehr. (Josef Bordat hat das einmal ziemlich treffend beschrieben: hier unter „III.Probleme des Web 2.0 und ihre Bedeutung für die Kirche“ — was habe ich für einen Schreck bekommen, als ich das erste Mal feststellte, daß eines meiner Usenetpostings bei Google Groups bewertet wurde, obwohl ich dort überhaupt kein Profil angelegt habe — und dann auch noch mit nur einem Sternchen. Eigentlich hätte ich erwartet, daß jemand mit offensichtlich so divergierender Meinung auf das Posting antwortet. Leider weiß ich bis heute nicht, wer mich da bewertet hat und noch nicht einmal welches Posting da bewertet wurde.)

Keine Frage, die Probleme mit Pseudonymen, insbesondere in der Form, wie sie Morgenländer angesprochen hat, nämlich scheinbare Rezensionen von Nutzern, die tatsächlich aber von Konkurrenten des Anbieters stammen, gibt es. Sie wird man jedoch nicht dadurch lösen, daß man eine (sowieso nicht umsetzbare) Klarnamenpflicht einführt. Denn dieser Forderung ist letztlich auch nur eine Form von „Cocooning“, ausgehend von einer bestimmten Form und einem bestimmten Verständnis von Öffentlichkeit, wie es sie vor dem Internet gab (mit all ihren Zugangsbeschränkungen und anderen Hindernissen). Sie will eine bestimmte Form von Verhalten in der Öffentlichkeit restaurieren, die es aber jenseits der Wahrnehmung der Elite vermutlich nie gab. (Oder wie ich im Kommentar schon schrieb: heute wird wahrgenommen, was früher in der beschränkten Öffentlichkeit eines bestimmten Milieus verblieb — und dort als normal galt.)

In dieser Hinsicht geht die Diskussion meines Erachtens in eine völlig falsche Richtung. Die Frage ist tatsächlich, warum es nicht selbstverständlich üblich ist, im Internet mit Klarnamen zu schreiben. Meines Erachtens scheitert die Anwendung von Kategorien der „Öffentlichkeit“, wie sie vor dem Internet exisierte. Einige Gedanken dazu habe ich im letzten Posting schon angerissen, sie stellen aber mehr eine „Leerstellenanzeige“ dar als einen Lösungsansatz. „Das Internet“ speichert, wertet aus, erstellt Profile, ist auf mehr oder weniger ewig durchsuchbar, die Gnade des Vergessens jahrealter Fehlleistungen ist vorbei. Mit dieser Herausforderung müssen wir umzugehen lernen, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Daß es mit einer Kultur der Vergebung und Verzeihung was wird (so schön das wäre), da bin ich doch eher skeptisch…

Vermutlich haben alle Leser mitbekommen, daß (mal wieder) die „Keine Anonymität im Internet“-Sau durch das Sommerloch getrieben wurde. Obwohl bisher mir niemand die Frage beantworten konnte, warum dann ausgerechnet der Grundpfeiler der Demokratie, nämlich die Wahlen, geheim ist, ist die Formulierung, mit der die Forderung nach Klarnamen diesmal verpackt wurde, alles andere als uninteressant:

„Normalerweise stehen Menschen mit ihrem Namen für etwas ein. Warum nicht auch ganz selbstverständlich im Internet?“

Würde man sich diese Frage mal nicht nur rhetorisch sondern tatsächlich stellen, ergäbe sich vielleicht ein wenig Erkenntnisgewinn.

Fangen wir doch mal gleich ganz vorne, also bei der Voraussetzung an: „Normalerweise stehen Menschen mit ihrem Namen für etwas ein.“ Was heißt denn hier „normalerweise“? Muß man — wie ich — ein schlechtes Namensgedächtnis haben, um zu bemerken, daß dieses „normalerweise“ ein doch eher seltener Fall ist? Weder die Werber für Unicef noch die missionierenden Pfingstler haben sich heute auf dem Anger namentlich vorgestellt. Bei zufälligen Gesprächen in der Bahn stellt man sich für gewöhnlich auch nicht gleich mit Namen und „Dienstgrad“ vor. Womit man zwangsläufig für etwas einsteht, ist vielmehr das Gesicht. Jemand, der in der Öffentlichkeit mit Sturmhaube auftritt, ruft für gewöhnlich ein nicht gänzlich unberechtigtes Mißtrauen hervor, aber Namensschilder tragen doch die Wenigsten.

Ok, Innenminister Friedrich bezog sich ja auf Blogs, und damit eher weniger auf zufällige Gespräche, sondern mehr auf eine Form der Teilhabe am politischen Diskurs. Gilt das „normalerweise“ also für diesen? Das ist natürlich eine Definitionsfrage, aber auch auf den (wenigen) Demos, auf denen ich bisher war, wurde ich nicht nach meinem Namen gefragt, und bereits das verdachtsunabhängige, standardmäßige Filmen von Demonstrationen durch die Polizei ist nach Ansicht der deutschen Gerichtsbarkeit eine Gefahr für die Meinungsfreiheit oder genauer: das Wissen, von der Polizei wahrscheinlich gefilmt zu werden, kann mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß Bürger ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nicht mehr wahrnehmen. Mit anderen Worten: Anonymität ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, denn wenn es nur dem zukäme, der sich damit nicht in Gefahr bringen kann, weil er sowieso die Mehrheitsmeinung vertritt, wäre es nicht mehr existent. Ich denke, das dürfte jeder Lebensschützer nachvollziehen können.

Aber schenken wir Friedrich mal die Voraussetzung, indem wir sie als auf eine Form des Publizierens bezogen verstehen. Sowohl Politiker als auch Publizisten leben davon, mit jeder Wortmeldung Eigenwerbung zu betreiben. Insofern ist es normal, daß sie mit ihrem Namen für etwas einstehen. (Daß Politiker in der Regen wenig Hemmungen haben, nach der Wahl irgendwelche Ausreden zu erfinden, warum ihre Versprechungen leider doch nicht umsetzbar sind, lassen wir einfach mal unter den Tisch fallen.) Auch Leserbriefe sind für gewöhnlich mit einem Namen und häufig auch einem Wohnort verbunden. (Auch hier übergehen wir, daß das nicht in allen Publikationsorganen so gehalten wird, daß manche also die Leserbriefe auch nur mit Namen oder gar Vornamen veröffentlichen und dadurch in der Regel bereits eine Anonymisierung stattfindet.)

Dann stellt sich allerdings tatsächlich die Frage: Warum ist das nicht ganz selbstverständlich auch im Internet so üblich? Die Antwort, der man mal wirklich nachgehen sollte, wäre vermutlich eine ganze soziologische Doktorarbeit wert. Mir fallen spontan drei mögliche Gründe ein:

  • Individualisierung: Wer früher publizieren wollte, mußte entweder viel Geld haben oder jemanden mit Geld davon überzeugen, seine Ergüsse zu drucken. Mit anderen Worten: Jeder Veröffentlichung ging vor dem Druck durch einen Relecture-Prozeß, so daß jeder Publizist zumindest eine gewisse Zahl an Personen hatte, die im Falle des Falles „mitgefangen, mitgehangen“ waren. Im Internet kann jeder ohne Geld und ohne Rückversicherung bei anderen publizieren, hat also weniger, u.U. gar keinen persönlichen Rückhalt, auf den er sich stützen kann. Sollte ihn das vom Veröffentlichen seiner Meinung abhalten?
  • Profilbildung: Wer früher publizierte, mußte publizieren bis zum Umfallen um mit einem gewissen Profil wahrgenommen zu werden. Wer neu auf einen Autor stieß, hatte es mitunter schwer, ältere Veröffentlichungen aufzufinden, um sie alle zusammenzuführen hätte er wochen- und monatelang in Bibliotheken und Archiven zubringen müssen. Beim Internet erfolgt die Profilbildung vollautomatisch, auch der durchschnittliche Leser kann mit Hilfe von Suchmaschinen leicht lange Jahre zurückliegende Äußerungen auffinden. Was früher wünschenswert war, nämlich mit einem bestimmten Profil wahrgenommen zu werden, kann heute Fluch sein: Wer nur in seiner Freizeit bloggt, kriegt durch solche leicht zu erstellende Profile möglicherweise schnell Probleme, die er lieber umgeht. Ich jedenfalls habe mich aus solchen Erwägungen heraus schon vor Jahren aus sämtlichen Telefonverzeichnissen streichen lassen. Es muß ja nicht sein, daß ich irgendwann vor die Tür trete und die eine oder andere Faust ins Gesicht bekommen, nur weil ich mich mal gegen die hiesige NPD oder gegen Abtreibung positioniert habe.
  • Subversion: Wer nicht die (politisch korrekte) Mehrheitsmeinung vertritt, muß zusätzlich zur sowieso schon bestehenden Minderheitensituation auch noch die nur scheinbare Marginalisierung durch die Schweigespirale überwinden. Wer das schon einmal live und in Farbe (oder meinetwegen auch nur mit Realnamen) versucht hat, weiß, welchem sozialen Druck er sich aussetzt. Und wird es sich beim nächsten Mal überlegen, ob er sich das noch einmal antut.

Daniel Suarez: Darknet; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2011. 474 Seiten.

Es ist eher selten, daß eine Fortsetzung besser ist, als der Vorgänger. Darknet, oder treffender: Freedom, wie der Originaltitel lautet, ist in meinen Augen ein solcher Fall. Maßgeblich dafür ist allerdings, daß Darknet ein völlig anderes Buch als Daemon ist. Hier geht es noch weniger ums Hacken, obwohl der Daemon bzw. das von ihm errichtete weltweite, verschlüsselte, drahtlose Darknet die Hauptrolle spielt.

Während Daemon eher aus der Perspektive von Individuen und ihrer Geschichte/Rolle mit/im Daemon/Darknet geschrieben ist, ist Darknet eher ein soziologisches Buch. Es geht um die Idee eines „besseren“, sozialeren Internets ohne die bösen Wirtschaftsgiganten, vor allem aber dessen befreiende Wirkung auf die Realität, die von raffgierigen „Corporations“, machtlosen Regierungen und ressourcenverbrauchendem, umweltzerstörendem Materialismus befreit werden muß.

So schwarz-weiß und platt, wie ein solcher Plot umgesetzt werden könnte, ist Darknet aber glücklicherweise nicht. Auch wenn Suarez zentrale Gedanken ganz offensichtlich der Globalisierungskritik und dem Kommunitarismus verdankt, arbeitet er auch die Ambivalenz menschlicher Freiheit und die Grenzen heraus. Der Superschurke auf Seiten der alten Ordnung hat ein ihm in Grausamkeit, Gewissenlosigkeit und Brutalität in nichts nachstehenden Gegner auf Seiten des Daemons. Doch genau auf diesen Schurken ist das Darknet aber zu seinem Schutz angewiesen. Durch die Art, wie dieser Schurke die Ressourcen des Darknets einsetzt, wird auch deutlich, daß die Technik selbst ambivalent ist und zu Gutem wie zu Bösem verwendet werden kann. Daher dreht sich ein Großteil des Buches um die Frage, ob die Menschheit überhaupt Freiheit verdient. Wäre es nicht besser, sie unter einem zwar gutwilligen, nicht kompromittierbaren Daemon — man könnte auch sagen: Leviathan — zu versklaven?

Die in der Grundkonstellation angelegte Positionierung des Autors bleibt dennoch erkennbar: Autarke regionale Wirtschaften, regenerative Energiequellen (koste es, was es wolle, das sei alles wirtschaftlich, wenn man denn die Kosten der Nicht-Nachhaltigkeit bisheriger Techniken einrechne), dezentrale (Selbst-)Steuerung der Communitys (Basisdemokratie) und ihrer Produktionskette über das Darknet statt großer Staaten und Firmen. Hier liegt auch die Schwäche des Ansatzes: Die meisten Menschen seien gut, bedeutet hier nicht (nur), sie seien prinzipiell guten Willens, aber korrumpierbar, sondern daß sie mit Hilfe des Daemons/Darknets auch tatsächlich gut handelten. So fällt auf, daß es keinerlei Konflikte innerhalb oder zwischen den Darknetcommunitys zu geben scheint. Wir haben uns einfach alle irgendwie halbwegs lieb — oder: Wer versucht, die Regeln zum eigenen Vorteil auszunutzen, wird über das Darknet bestraft werden. Insofern bleibt am Ende auch offen, ob sich die Menschheit Freiheit verdient hat oder doch unter die (durchaus ganz angenehm erscheindende) Diktatur des Daemons gerät, denn wer hier wen steuert, bleibt am Ende offen: Der Daemon die Menschen oder die Menschen den Daemon. Oder vielleicht die Menschen die Menschen mit Hilfe des Daemon?