Auch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Bloggen einerseits und Leserbriefen oder Face-to-Face-Kontakten im RL andererseits, nämlich eine kommunikative Asymmetrie. Begegne ich jemandem im RL, weiß ich in der Regel genausoviel von ihm wie er von mir, und wenn nicht, dann kann ich ihn sofort fragen, woher er mich kennt, so daß wir auf einen ähnlichen Stand kommen. (Um nochmal die Schreckensvisionen zu Wort kommen zu lassen: Längst ist die Gesichtserkennung via Smartphone möglich, nur ist sie weitgehend nicht freigeschaltet; wäre sie es, wäre diese kommunikative Asymmetrie dank AR auch im RL angekommen…)
So oder so wird er nicht meine gesamte Lebensgeschichte kennen, selbst wenn er sich meinen Namen merkt oder meine Karte bekommt. Dann weiß er, wo und für wen ich was arbeite und wie er mich dort erreichen kann. Davon ausgehend kann er zwar auch eine ganze Reihe von privaten Daten finden und zusammenführen, in der Regel wird er aber den Aufwand scheuen — und ich kann umgekehrt dasselbe mit ihm treiben; Waffengleichheit. So besteht immer eine (zumindest mögliche) kommunikative Symmetrie und ist ein „Dialog auf Augenhöhe“ möglich.
Anders im Internet: Bekanntlich sind etwa 90% der Leser nur Leser, weitere neun Prozent kommentieren hier und dort, doch nur das letzte Prozent macht sich durchs Selbst-Produzieren (also etwa Bloggen) „nackt“ (diese 1-9-90-Regel auf die Blogoezese angewendet bedeutet übrigens, daß wir noch ein sehr, sehr großes Wachstumspotential haben, denn im Augenblick scheint sie mir noch zu 70–80% aus dem einen Prozent der Produzenten zu bestehen, aber das nur am Rande). Von all den stillen Lesern weiß ich nicht viel: ihren Browser, ihr Betriebssystem und teilweise die Addons, mit Hilfe von Google Analytics auch ihren Provider — aber selbst der sagt nicht viel über den Leser aus, wenn er T-Online oder Arcor heißt (und selbst „Bistum Essen“ kann ich nicht mit einer Person verknüpfen, etwas besser noch bei „frankfurter allgemeine zeitung“ [ja, da liest tatsächlich ab und zu jemand meinen Blog :-)]).
Würde ich überall im Netz unter Klarnamen unterwegs sein (ein weiterer Grund gegen einen Facebookaccount), könnte jeder sofort meine halbe Lebensgeschichte aus dem Internet fischen, mit Usenetpostings und Zeitungsleserbriefen, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Publikationen, Ämtern, Hobbies und Interessen verknüpfen — und mich damit noch vor unserem ersten Kontakt besser kennen, als ich ihn, ja sogar als ich ihn jemals mit denselben Mitteln kennenlernen könnte, etwa bei Herrn „Meier“, der nur mäßige und relativ unspezifische Datenspuren im Internet hinterlassen zu haben scheint.
(to be continued)