Einige Gedanken zu Norberts „Warum mußte Jesus am Kreuz sterben“-Posting:
Zunächst einmal: Der Kreuzestod Jesu ist das historische Faktum, alles andere sind Versuche, dieses auf den ersten Blick katastrophale und auf den zweiten Blick (Ostern, Auferstehung) noch umso unverständlichere Ereignis zu deuten, insbesondere auf der Basis des AT („Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.“ Lk 24,26).
Der christliche Glaube ist keine Ideologie, die krampfhaft versucht, die Realität an ihr Denken anzupassen (und wenn das nicht klappen will: umso schlimmer für die Realität), sondern vor allem Erfahrungsdeutung, Deutung von erlebtem Leben auf dem Hintergrund der Gottesbeziehung.
Ursprünglich ist die Erfahrung der Berufung und Führung auch in schwierigen Situationen durch Gott (Abraham, Isaak, Jakob, Josef) sowie die Rettung aus Ägypten (Mose). Ging es zunächst um Einzelpersonen, mit denen Gott einen Bund schloß, geht es seit Mose um das ganze Volk. Bund bedeutet: Gott wendet sich Menschen in besonderer Weise zu, stellt im Gegenzug aber „Bundesbedingungen“. Diese Bedingungn stellen keine Willkür des Allmächtigen dar, sondern sind Verhaltensregeln, die auch rational einsichtig sind und einem guten Zusammenleben dienen. Nur sind diese Regeln eben nicht gerade auf das größte Haben und Werden für den Einzelnen ausgelegt, sondern für ein gutes Leben für alle.
Die Israeliten stellten immer wieder fest (schon in der Wüste, auch und vor allem aber später und durch die Propheten): Solange wir auf Gott vertrauen, ist zwar nicht unbedingt alles immer rosig, es gibt auch so Betrüger, Diebe und Verbrecher, aber im großen und ganzen ist das Volk rechtschaffen. Je mehr es sich aber von Gott abwendet, umso mehr greifen Hochmut, Stolz und Gewalttat um sich. So mag es einigen, zeitweise sogar vielen besser zu gehen scheinen (aber auf Kosten anderer!), aufs ganze gesehen verlieren aber alle. Ganz so einfach ist es zwar nicht, der Versuch, einen unmittelbaren Tun-Ergehen-Zusammenhang zu behaupten, also daß dem, der gerecht ist vor Gott, auch nichts Schlimmes zustößt, der Frevler aber schnell an seinen Freveln zugrundegeht, ließ sich nicht auf lange Sicht durchhalten. Zu oft litten Gerechte, zu oft kamen Frevler ungeschoren davon, und pervers wurde es, als aus dem Schicksal eines Menschen auf seinen „Gerechtigkeitsstatus“ geschlossen wurde.
Im großen und ganzen aber zeigte die Erfahrung: Je mehr sich das Volk als ganzes von Gott abwandte, umso größer wurde die endgültige Katastrophe. Denn Machtmißbrauch, Unterdrückung, Hochmut, Selbstgerechtigkeit führen zu Realitätsverslust, zu faulen Kompromissen, zu Heuchelei. Gottes Bediungen sind die Bedingungen eines gelingenden Lebens und einer gerechten Gesellschaft. Sie zu mißachten trägt die Strafe im Grunde in sich selbst — weil das eine Mißachtung der (Regeln der) Schöpfung und des Schöpfers ist.
Eine solche Mißachtung wird als Sünde bezeichnet, und damit wird ein Verhalten gemeint, das eine Beziehung belastet oder gar zerstört — zwischen Menschen und Menschen ebenso wie zwischen Mensch und Gott. Die Zerstörung dieser Beziehung ist eine dem sündhaften Verhalten inhärente Folge. Wie ein Ehebruch die Beziehung zum Ehepartner zerstört, zerstört die Sünde die Beziehung zu Gott. Gott aber ist die Quelle und der Urgrund der Welt, Er hat sie erschaffen und ihr Regeln gegeben. Wer sich von der Quelle trennt, verliert einen wesentlichen Zugang zu den Regeln der Welt. Zwar sind sie als rational nachvollziehbar auch durch den menschlichen Geist erkennbar, das schützt aber nicht vor Irrtum, der dazu führt, daß selbst mit bester Absicht das Falsche getan wird. Es ist ein langsamer, schleichender Prozeß, aber er führt spiralenförmig immer weiter von Gott weg und das Böse wird immer normaler.
Um diesen Prozeß zu zerstören, bedurfte es des Sühnetodes Christi. — Nicht weil Gott rachsüchtig wäre und besänftigt werden wollte („Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie Dir geben; an Brandopfern hast Du kein Gefallen. Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.“ Ps 51,18f.), sondern weil die Menschen — nicht als Einzelne, aber in der Gesamtheit — auf anderem Wege nicht erreichbar waren, wie das Schicksal Jesu zeigt.
Jesu Mission war die Wiederherstellung, die (neue) Sammlung Israels (vlg. etwa die zwölf Apostel als die neuen Stammväter). Hätten die Juden dieses Angebot als Volk angenommen, hätte es des Kreuzes nicht bedurft. Die Menschwerdung Gottes und die neue Sammlung Israels wären die entscheidenden Heilsereignisse geblieben (unter anderem deshalb das Verneigen bzw. Knien bei den Aussagen des Glaubensbekenntnisses zur Menschwerdung). Aber die Wiederherstellung hatte Bedingungen — keine Vorraussetzung wie ein besonders moralisches Verhalten, wohl aber Konsequenzen: Umkehr, Buße, Demut, eben einen zerknirschten Geist. Insbesondere bei denen, die von der bisherigen Situation profitierten, stieß das aber auf wenig Gegenliebe. Der Stolz war stärker. Daraus folgten die Ablehung (mit ihren inhärenten Konsequenzen), der Todesbeschluß usw. Wer sich ein wenig mit der conditio humana auskennt, wird wohl zustimmen: Mußte nicht alles so kommen?
Deshalb hatte Gott einen „Plan B“: Stellvertretend die Schuld der Menschen auf sich nehmen, am Kreuz den (eigentlich jedem Menschen „zustehenden“) Tod des von Gott Verfluchten sterben, anstelle der Menschen in die Hölle hinabsteigen und sie — als der ganz Unschuldige — zu sprengen und den Tod zu überwinden.
Wie gesagt: Der Kreuzestod ist historisches Faktum, alles andere sind Deutungen, die mit Hilfe von bereits Bekanntem zu erklären versuchen, was dort unableitbar Neues geschehen ist. Eine dieser Deutungen ist der Sühnetod. Und sie macht vor allem deutlich, daß mit dem Kreuzestod Jesu jeder menschliche Versuch, Schuld zu überwinden, überflüssig geworden ist und schon immer defizitär war. Indem der Gottessohn stellvertretend für uns unsere Schuld sühnt, wird deutlich, daß sich der Mensch a) nicht allein von den Folgen der Sünde befreien kann, b) aber auch nicht einfach von jeder Schuld losgesprochen ist, sondern sich immer wieder neu in Demut unter das Kreuz Christi stellen muß, um von dort die Versöhnung mit Gott zu empfangen. Zugleich macht diese Deutung aber auch nur einen, wenn auch wesentlichen, Aspekt des Kreuzesopfers deutlich und muß immer auch mit anderen Deutungen zusammengelesen werden.