Familie

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Heute kam die Antwort vom Volkbund zum Schicksal meines Großvaters. Die profanste aller möglichen:

Es hat sich im Nachhinein herausgestellt, daß es bezüglich der Vermißtenorte und des Vermißtendatum in einigen Datensätzen zu Abweichungen gekommen ist. Aufmerksam hierauf wurden wir, wie im Falle Ihres Angehörigen, durch die Anfragen der Familienangehörigen. Die Abweichungen resultieren aus dem Umstand, daß die Angaben des DRK, um die Flut der Daten bewältigen zu können, zu sogenannten Ortsschlüsseln zusammengefaßt wurden.

Wirklich die profanste — und ärgerlichste — aller möglichen Erklärungen. Wer sich schonmal ernsthaft mit der Konsitenz von Daten auseinandergesetzt hat, weiß, daß gerade beim Transfer von unüberschaubar großen Datenmengen („Datenflut“) die korrekte Übernahme wichtig ist, da niemand im Nachhinein hingehen und alles nochmal überprüfen kann.

Um ein paar Monate zu sparen, wird auf Jahrzehnte hinweg eine fehlerhafte Datenbank in Kauf genommen. Sowas haben wir auch hier in der Unibibliothek. Da wurde die Bibliothek einer aufgelösten evangelischen Ausbildungsstätte übernommen, und weil die Bibliothek damals sowieso noch im Aufbau war und das Geld trotz allem knapp, hat man die Integration von externen Hilfskräften machen lassen, die sich offenbar nicht gerade durch theologische Fachkenntnis auszeichneten. Mit dem Ergebnis, daß Bücher nicht mehr sinnvoll gefunden werden konnten, weil sie unter falschen Notationen aufgestellt worden waren. So fand ich mal ein Buch über die Eucharistie unter BK 6150. Ohne solche Zufallsfunde ist im Nachhinein nichts mehr zu korrigieren. Und genau das Problem hat jetzt der Volksbund.

Nur daß es dort nicht um Bücher geht, die thematisch falsch aufgestellt, aber immer noch über Autor und Titel zu finden sind. Sondern um das seit über 60 Jahren ungeklärte Schicksal von Menschen, deren Angehörige plötzlich die Hoffnung haben, doch noch einmal an einem Grab stehen zu können. Ok, kann man jetzt nicht mehr ändern, aber damit ist der Datenbestand des Volksbundes plötzlich wertlos, weil man sich nie darauf verlassen kann, daß er auch korrekt ist.

Es gibt einen Fluch. Er lautet: Mögest Du in Interessanten Zeiten leben! Terry Pratchett: Interesting Times

Mein Opa ist im Krieg geblieben. Nur weiß keiner so genau wo. Die letzte Nachricht stammt vom 22. Januar 1945 aus Oppeln. Am 24. Januar besetzte die Rote Armee Oppeln. Seine letzte bekannte Position war also in Frontnähe, der Schluß, daß er wohl dort gefallen sein dürfte, liegt nahe. Aber: It’s too simple, too clear cut. I’d better wait. No, too simple, too clear cut. Denn mein Großvater war eigentlich weit weg von der kämpfenden Truppe und im Stab: Spieß in einer Kompanie der Luftwaffen-Pioniere. So ist denn auch die gesamte Kompanie wieder nach hause gekommen — bis auf meinen Großvater und zwei Kameraden.

Die Familienüberlieferung weiß von einem Kommandounternehmen, auf das eben jene drei Soldaten geschickt wurden, der Sprengung eines (deutschen) Flugplatzes, der bereits hinter den feindlichen Linien lag (diesen hier). Das Unternehmen soll erfolgreich gewesen sein (die Wikipedia weiß davon aber nichts), und selbst die Rückkehr zur Einheit scheiterte nicht an den Russen — sondern der Wehrmacht, die jeden, der eine Waffe benutzen konnte, brauchen konnte und den Kommandotrupp in den Schützengraben gesteckt haben soll. Weiterhin wurde in der Familie davon ausgegangen, daß er am 14. Juni 1945 in einem Lazarett bei Landsberg/Warthe gestorben ist. Dort gab es jedenfalls einen verzeichneten Toten mit seinem Rufnamen.

Die Internet-Gräbersuche des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge bestätigte die überlieferten Angaben, so daß wenig Grund zum Zweifel bestand. Bis ich vor gut fünf Jahren aus einer spontanen Idee heraus nochmal nach dem Gefallenen suchte — und plötzlich weitere Daten ausgegeben bekam. Und nichts stimmte. Der in Landsberg/Warthe im Kriegsgefangenenlazarett Verstorbene war fünf Jahre älter als mein Großvater, hatte andere weitere Vornamen, stammte nicht aus Westfalen, sondern aus Hinterpommern und war auch kein Oberfeldwebel der Luftwaffenpioniere, sondern ein Volkssturmmann.

Ich weiß nicht, warum es wichtig ist, den genauen Todesort und -zeitpunkt zu kennen. Ich weiß auch nicht, warum mir mein knapp 35 Jahre vor meiner Geburt gefallener Großvater soviel näher steht als meine anderen Großeltern, die gestorben sind, als ich acht, 15 bzw. 20 war. Logisch ist das nicht. Trotzdem läßt mir das Schicksal meines Opas keine Ruhe. Was umso frustrierender ist, als es kaum Ansatzpunkte zur Nachforschung gibt. Die Deutsche Dienststelle (ehemals Wehrmachtsauskunftstelle) konnte nur Auskunft über seine Erkennungsmarke, seine Einheit und zwei Meldungen (die datierte von 1940 aus Norwegen) geben; andere Unterlagen lägen nicht vor und seien vermutlich durch Kriegseinwirkung verlorengegangen. Vom Suchdienst des DRK habe ich auf Anfage im Jahr 2000 nur die Mitteilung bekommen, daß ein Suchantrag seit 1948 besteht. Sonst nichts.

Also blieb nur die vage Hoffnung, daß bei den Umbettungsmaßnahmen des Volksbundes die Erkennungsmarke meines Großvaters gefunden wird oder andere Daten auftauchen, aus denen sich neue Erkenntnisse ergeben. Irgendwoher müssen ja auch die neuen Erkenntnisse über den Toten in Landsberg gekommen sein. Andererseits gibt es genug Arschlöcher, die für Erkennungsmarken der Wehrmacht gutes Geld bezahlen und so Grabräuber (may they rot in hell!) auf den Plan rufen. Die Umbetter kommen dann meist zu spät. Außerdem sind die russischen Akten, die nach 1990 zugänglich wurden, mittlerweile ausgewertet. Wenn mein Opa da verzeichnet gewesen wäre, hätten wir bestimmt schon davon gehört, dächte ich mir jedenfalls.

Silvester 2010 kam jedoch neue Bewegung in die Sache, wieder über die Gräbersuche des Volksbundes. Da gehe ich, wieder mal aus spontaner Idee, die Karl Berndts durch. Und plötzlich steht da: Karl Berndt, *17.06.1905 Mettmann. Daneben gab es noch den Eintrag, den der Volkbund nach meinen Erkundigungen vor 10 Jahren angelegt hatte. Name, Geburtsdatum, Geburtsort — paßte (fast: der zweite Vorname Johann fehlte) perfekt. Nicht so sonderlich gut paßt: Vermißt seit 1. Januar 1945 in Bublitz/Bärwalde b.Neustettin. Weder ist er seit Anfang Januar vermißt, noch war er im Januar in Pommern.

Eine kurze Mail mit der Bitte um Aufklärung resultierte innerhalb eines Monats in einem recht ausführlichen, erkennbar nicht aus Satzbausteinen bestehenden Brief (ich bin begeistert!). Datenquelle sei das DRK, die Doppelregistrierung sei wegen des fehlenden zweiten Vornamens nicht aufgefallen (schlecht programmierte Software, würde ich mal sagen, aber egal). Die Unstimmigkeit (daß eine private Nachricht aus Oppeln vom Ende des Monats existiert) scheint dem Volksbund nicht bekannt zu sein. Daher haben sie die Datensätze zusammengeführt.

Nächster Anlaufpunkt wieder das DRK, das immerhin die Quelle des Datensatzes aus Pommern sein soll. Da dauert die Antwort schon deutlich länger und besteht auch erstmal nur aus einem Fragebogen und der Einwilligung in die Datenschutzauflagen. Zwei Monate, nachdem ich die zurückgeschickt hatte, bekam ich nun Ende Januar eine neue, diesmal ausführlichere Antwort als vor 12 Jahren. Darin enthalten zum einen die Daten von der Deutschen Dienststelle sowie aus dem Suchauftrag meiner Oma von 1948 — auf den auch die Registrierung als „Karl Johann“ statt „Johann Karl“ zurückgeht. Zusätzlich noch ein Hinweis auf das Todeserklärungsverfahren von 1951 (ob ich mit dem Aktenzeichen wohl noch was kriege? :-). Die Suche sei darüber hinaus erfolglos geblieben. Ein Einsatz der fraglichen Einheit in Pommern sei nicht bekannt. Schließlich lag in Kopie ein Gutachten von 1978 bei, das „bis zu einer möglichen Schicksalsklärung seine Gültigkeit“ behalte.

Das Gutachten ist zwar ganz spannend, da es die Kriegsgeschehnisse von Januar bis Mai 1945 in Niederschlesien rekonstruiert, trägt aber wenig zur konkreten Frage bei. Es läuft im wesentlichen auf den Schluß hinaus: Er ist nicht mit seiner Einheit zurückgekehrt, er ist nirgendwo in Gefangenschaft gesehen worden, es liegen auch sonst keine Hinweise auf seinen Verbleib vor, also wird er wohl irgendwann zwischen Januar und Mai 1945 gefallen sein.

Auch das paßt nicht mit den anderen Daten zusammen. Vor allem ist „Einheit war nicht in Pommern“ keine Antwort auf die Frage, wie die Daten beim Volksbund zustandekommen, insbesondere wenn man die Geschichte mit der Flugplatzsprengung mit einbezieht, die ja eine Trennung von der eigentlichen Einheit beinhaltet. Auch wundert mich, daß im Gutachten kein genaueres Vermißtendatum als Januar bis Mai 1945 (nur im Kopf des Gutachtens ist von Mai 1945 die Rede — auf welcher Grundlage?) und für das Fehlen eines solchen nur „gerade im Häuserkampf oder bei Nachtgefechten sind viele gefallen, ohne daß es die Kameraden bemerkt hätten“ angeführt wird. Ergibt das Sinn bei einem Stabsangehörigen, der als einer von nur drei Angehörigen seiner Kompanie nicht aus dem Krieg zurückgekommen ist?

Ok, wenn ich das vorliegende Datenmaterial betrachte, kann ich die Schlüsse des DRKs durchaus nachvollziehen — streicht man die Familienüberlieferung, klingt alles ganz logisch. Daher habe ich angefangen, nach Unterlagen zu suchen (bzw. meinen Vater suchen zu lassen), aus denen insbesondere das Kommandounternehmen hervorgeht. Und tatsächlich: Es gibt einen Brief einer Schwester meines Großvaters an den Volksbund von 1947, der ausweislich des Eingangsstempels auch bei der Beantragung der Witwenrente für meine Oma eine Rolle gespielt haben dürfte, in dem dieser Einsatz als Tatsache geschildert wird, und zwar genau so, wie die Familie ihn überliefert hat. Daneben ein Zeitungsausschnitt, der die Todeserklärung meines Großvaters bekannt macht (auch unter dem Namen Karl Johann statt Johann Karl) und die Geburtsurkunde, auf der (endlich mal wieder, ich fing schon an zu zweifeln) Johann Karl steht (und noch ein paar andere interessante Dinge über die Familie, die offenbar Anfang des Jahrhunderts „christlich dissident“ war, aber darüber vielleicht ein andernmal).

Vielleicht greife ich ja nach Strohhalmen. Trotzdem werde ich versuchen, daß DRK und Volksbund sich mal ordentlich austauschen und die jeweils gesammelten Erkenntnisse tatsächlich austauschen. Vielleicht verraten die sich ja gegenseitig mehr als mir.