Politik

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In der heutigen FAZ erschien ein bemerkenswerter, ganzseitiger Artikel (Joachim Klose und Werner J. Patzelt: Christliche Werte und Politik) über das „C“ in CDU. Zwar könnte man über einige Aussagen im Detail streiten, auf der anderen Seite finden sich Aussagen und Forderungen, für deren öffentliche Äußerung man vor 20 Jahren sowieso und in der Merkel-CDU noch heute gesteinigt würde.

Grundforderung des Artikels ist, daß die CDU – unterstellt, sie wolle das „C“ und damit sich selbst überhaupt noch ernst nehmen – zeigen müsse, daß auch und gerade unter den heutigen pluralistischen Gegebenheiten noch politisches Handeln auf der Grundlage des christlichen Glaubens begründet möglich ist. Um es nochmal deutlicher zu formulieren: Die Autoren fordern nicht, die CDU müsse eine solche Möglichkeit ausprobieren. Vielmehr setzten sie diese Möglichkeit schlicht voraus, und fordern von der CDU, sie umzusetzen. Zwar würden sicher nicht alle Dimensionen christlichen Glaubens auch Nicht-Christen einleuchten, fast alle seien aber „Anders- und Nichtglaubenden verständlich und einsehbar zu machen“.

Und damit meinen die Autoren nicht ein weichgespültes „modernes“ Christentum, auch wenn ihr Ansatz bei der grundsätzlich guten Schöpfung im ersten Moment so erscheinen könnte. Doch dient dieser Ansatz nur zur Einführung der Frage nach dem Bösen. Ihre Antwort, es komme durch menschliches Handeln in die Welt, „das falschen Zielen folgt oder falsche Mittel anwendet“, erklären sie zur Basis der Grundstrukturen politischen Handelns. Denn:

Um auf der Grundlage menschlicher Freiheit individuelles Leben und die Schöpfung gelingen zu lassen, hat Gott Regeln geoffenbart, deren Befolgung ein gutes Leben von Einzlnen und Gesellschaften ermöglicht […] Jeder Einzelne wird eines Tages vor Gott Rechenschaft darüber abzulegen haben, was er an Bösem getan und an Gutem unterlassen hat und wie er in Ausübung seiner Freiheit in Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik tätig war.

Bei aller Berechtigung der Autonomie der innerweltlichen Sachbereiche dürfe sich der Politiker nicht auf die Funktionslogik des Bösen einlassen, müsse vielmehr an ihrer Überwindung arbeiten. Das ermögliche gerade der Glaube daran, daß sich das Leben nicht bis zum Tod erfüllen muß, sondern seine Erfüllung sogar erst nach dem Tod finden kann. Auf dieser Grundlage könne der christliche Politiker in ganz anderen Zeiträumen denken und sich selbst weniger wichtig nehmen.

Doch sei auch der Mensch, der das Gute erkannt habe, fähig, das Falsche zu tun. Im Rechtstaat könne das Justizwesen zwar eine gewisse Entlastung angesichts des Falschen und Bösen leisten, doch Christen helfe hier viel besser „das Denken in Begriffen von Gewissen und Reue, von Buße und Vergebung, desgleichen das Hoffen auf göttliche Gerechtigkeit“:

Alles menschliche Handeln steht im Horizont der Verantwortung für Gottes Schöpfung. […] Aus diesem Zusammenhang gerissen, verleitet menschliche Gestaltungsmacht leicht zu Zerstörung und Ausbeutung. Christen jedenfalls streben danach, die Wirklichkeit als Gottes Schöpfung anzusehen. Beim Blick auf sie und ihr eigenes Tun und Lassen in ihr erkennen sie Gott als Grund der Welt und als Richter.

(Hierauf folgt übrigens ein Seitenhieb auf den unzureichenden Einsatz für den Lebensschutz vor allem zu Beginn und am Ende des Lebens.)

Christen, die aus solchen Einsichten schöpfen, können sich mit besonderer Zuversicht daranmachen, Natur und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten. Sie besitzen zwar nicht schon die richtigen Konzepte in den Details, aber ihr Kompaß stimmt. Nordrichtung ist das „Reich Gottes“, das „nahe ist“…

Es sei daher auch falsch, Macht zuvörderst vom – selbstverständlich immer möglichen – Machtmißbrauch her zu verstehen, da „alle Macht, wie Jesus einst zu Pilatus sagte, von Gott gegeben ist“. Daher sei auch eine falsche Scheu vor dem Einsatz „der härtesten Formen politischer Macht“, der polizeilichen und militärischen Gewalt, zu überwinden. Denn wenn der, der die Macht als mißbrauchsanfällig erkannt hat, gerade deswegen ihre Anwendung immer und prinzipiell ablehnt, wird sie von denjenigen ergriffen werden, denen diese Einsicht fehlt oder die den Mißbrauch geradewegs anstreben. (Getreu dem Motto: Wenn der Klügere immer nachgibt, wird die Welt von den Dummen beherrscht.) Christen müßten eigentlich wissen, daß sie

von Gott dereinst nicht nur für die Anwendung von Macht, sondern auch für deren Nichtanwendung zur Rechenschaft gezogen werden. Stellen sich Christen durch ihr politisches Engagement solcher Verantwortung vor Gott, dann legen sie Zeugnis ab von der Stärke ihrer Hoffnung…

Kurz gesagt: Grundlage christlich motivierten politischen Handelns sei gerade das Wissen um die Fehlbarkeit der Menschen und ihre je individuelle Verantwortung vor Gott, woraus Nachsicht und Barmherzigkeit gegenüber den Schuldiggewordenen resultiere: Der Irrende sei zu lieben, sein Irrtum aber zu hassen!

Solche christliche Politik könne prinzipiell in allen Parteien betrieben werden, „die die Würde des Menschen achten und auf Dauer für eine auf Gott hin offenen Gesellschaftsordnung eintreten“. Die Frage sei allein, welche Kompromisse ein Christ eingehen könne. Die protestantische Tradition lege hierbei dem Einzelnen große Verantwortung auf, die katholische sehe die Auslegung der christlichen Botschaft obendrein als Aufgabe des kirchlichen Lehramtes:

Zwar betont das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich die Autonomie des Gewissens; dieses muß aber ernsthaft geprüft und an den Argumenten des Lehramtes geschärft werden.

Auf der Suche nach politischen Mehrheiten dürfe der Christ seinen „Kompaß“ nicht aus dem Auge verlieren!

All das sei zwar spezifisch christlich, aber sehr wohl auch unter anderen Vorzeichen als vernünftige und sinnvolle Basis politischen Handelns zu erkennen.

Am 1. Januar 2010 tritt eine Gesetzesänderung zu Spätabtreibungen in Kraft. Wesentlicher Kern des Gesetzes ist die Ausdehnung der Beratungsregelung auf die sogenannte medizinische Indikation. Solange nicht unmittelbarer Lebensgefahr abgeholfen werden muß, darf der diagnostizierende Arzt jetzt erst drei Tage nach der Diagnose das Voliegen der medizinischen Indikation nach § 218b, Absatz 1 StGB schriftlich beurkunden. Zudem muß die Schwangere dem Arzt bestätigen, daß er seiner Beratungspflicht nachgekommen ist. Diese Beratungspflicht umfaßt unter anderem die Erörterung der medizinischen und psychosozialen Aspekte, die sich aus der Diagnose ergeben, der möglichen medizinischen, psychischen und sozialen Fragen sowie der Möglichkeiten zur Unterstützung bei psychischen und physischen Belastungen. Schließlich soll der Arzt die Schwangere auch auf Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen aufmerksam machen und gegebenenfalls sogar Kontakt herstellen.

Soweit so gut. Damit wird einer Klage der Ärzte abgeholfen, die sich mit der Situation in rechtlicher Unsicherheit alleingelassen fühlten. Denn bisher war der diagnostizierende Arzt in der Praxis fast immer zugleich der einzige Berater der Schwangeren, setzte er sich aber für das Leben des ungeborenen Kindes ein, lief er Gefahr, später schadensersatzpflichtig zu werden („Kind-als-Schaden-Urteil“). Nun soll es also eine Bedenk- und Beratungszeit von drei Tagen geben, und an der Beratung sollen auch andere Berater, vor allem auch Fachärzte für die diagnostizierte Behinderung des Kindes beteiligt werden.

Natürlich hängt nach wie vor viel am Engagement des einzelnen Arztes, zumal die Beratung „ergebnisoffen“ erfolgen soll. Dennoch wird deutlich, daß die ursprüngliche Absicht des Gesetzentwurfes war, die „medizinische“ Indikation, die 1995 die aus guten Gründen abgeschaffte „eugenische“ bzw. „embryopathische“ Indikation indirekt mit aufnahm, einzuschränken: Der Schwangeren soll die Möglichkeit eines Lebens mit behindertem Kind aufgezeigt, die Heilungs- und Linderungsmöglichkeiten vorgestellt und die Folgen einer Abtreibung auch und gerade für die Mutter klargemacht werden.

Daher ist auch die eigentliche medizinische Indikation von der Beratungsregelung ausgenommen: Besteht Gefahr für das Leben der Mutter, kann nach wie vor abgetrieben werden. Der Tod des Kindes ist in dieser Situation ja auch gar nicht intendiert, vielmehr handelt es sich um eine unerwünschte Nebenfolge, die mit allen Mitteln zu verhindern gesucht wird. Anders aber bei der „medizinischen“ Indikation im weiteren Sinne, die der Bezeichnung absolut Hohn spricht: Denn hier handelt es sich um ein unerträgliches rechtliches Konstrukt, durch das krampfhaft versucht wurde, die Behinderung des Kindes zwar nicht mehr als Abtreibungsgrund (eugenische oder embryopathische Indikation) erscheinen zu lassen, faktisch aber durch die Hintertür der „psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung der Mutter jetzt oder später“ diesen Abtreibungsgrund beizubehalten. Denn eine zukünftige Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit der Mutter ist sowas von vage, daß es letztlich allein an der Entscheidung der Mutter liegt, ob abgetrieben wird oder nicht.

Am deutlichsten aber wurde die Absicht, diese de facto eugenische Indikation einzuschränken, am 4. Absatz des Gesetzentwurfs. Dieser Absatz fand aber im Bundestag keine Mehrheit und wurde in den Medien auch immer nur beiläufig mit „ach, da ging’s ja nur um Statistisches“ abgehandelt. Zwar ging es tatsächlich „nur“ um die Regeln zur statistischen Erhebung, aber die drei zusätzlichen Erhebungpunkte hatten es in sich! Denn es handelte sich um:

– vorgeburtlich diagnostizierte Fehlbildung oder Genomauffälligkeiten,
– Tötung des Embryos im Mutterleib bei Mehrlingsschwangerschaften,
– Tötung des Embryos im Mutterleib in sonstigen Fällen.

Es ging also um nicht mehr und nicht weniger als die statistische Erhebung, wieviele der nach „medizinischer“ Indikation durchgeführten Spätabtreibungen faktisch embryopathische Gründe hatten, also um die Aufdeckung der Folgen der 1995 eingeführten Hintertür! Der abgelehnte Absatz wäre also eine Zeitbombe für die Abtreibung aufgrund einer Behinderung des Kindes geworden, denn dann wäre statistisch erhoben worden, was heute nur zu vermuten ist: Daß der allergrößte Teil der Spätabtreibungen nach medizinischer Indikation de facto embryopathisch „indiziert“ ist. Diese „Zeitbombe“ wollte die Mehrheit unserer Abgeordneten gar nicht erst zu ticken beginnen lassen. Die mit Jahresbeginn in Kraft tretende Neuregelung zeigt so die ganze Heuchelei der deutschen Abtreibungsgesetzgebung.