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Als Grundprinzipien der Reformation gelten die vier „solae“: sola scriptura (allein durch die Schrift), sola fide (allen durch den Glauben), sola gratia (allein durch die Gnade) und solus Christus (allein durch Christus). Soweit diese positiv gefüllt sind, sind sie durchaus mit dem katholischen Verständnis vereinbar, die katholische Lehre ist jedoch weiter: Statt dem protestantischen „sola“ (nur, allein) basiert die katholische Lehre auf dem „et … et“ (sowohl … als auch).

Katholisch können die reformatorischen Grundprinzipien zwar als geistliche Schwerpunktsetzungen des Einzelnen anerkannt werden. Radikale Christusnachfolge ist meistens einseitig, ja bewusst einseitig, und dagegen hat die katholische Kirche in der Regel auch nichts einzuwenden. Problematisch wird es jedoch, wenn die persönliche Spiritualität lehrmäßig verallgemeinert wird. Die vier „solae“ der Reformation sind jedoch als Prinzipien der Lehre, nicht der Frömmigkeit gedacht. Sie sind bewusst gegen die katholische Lehre gerichtet und infolgedessen theologisch und disziplinär jeden ausschließend, der andere Schwerpunktsetzungen vorzieht. Das ist, als hätte der heilige Franziskus sein Armutsideal allen Katholiken zur Pflicht machen wollen. Damit hätte er die katholische Weite der Kirche zugrunde gerichtet und mit Sicherheit die Kirche gespalten.

Häufig als das „Fundamentalprinzip“ verstanden wird „sola scriptura“. Positiver Inhalt dieses Prinzips ist:

  • Die Heilige Schrift enthält alles, was zum Heile nötig ist (Heilssuffizienz).
  • Die verschiedenen Abschnitte der Schrift legen sich gegenseitig aus, jede Stelle muß also über den Einzelautor hinaus im Zusammenhang der ganzen Schrift betrachtet werden(kanonische Auslegung).
  • Die kirchliche Lehre muß mit der Heiligen Schrift im Einklang stehen (Schriftgemäßheit der Lehre).

All das ist so grundlegend Teil der katholischen Lehre, daß auch ihre Kurzzusammenfassung im Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche es deutlich zum Ausdruck bringt: „Die Heilige Schrift […] lehrt ohne Irrtum jene Wahrheiten, die zu unserem Heil notwendig sind“ (18), was im Umkehrschluß bedeutet, daß etwas, das sie nicht zumindest einschlußweise lehrt, nicht zum Heil nötig sein kann. Als das erste Prinzip katholischer Schriftauslegung wird genannt: „auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achten“ (19).

Daß aus dem Prinzip „sola scriptura“ folge, daß der wörtliche Sinn allein den einzelnen Christen unmittelbar binde, ist jedoch ein meit evangelikal begründetes Mißverständnis der Lehre Luthers. So würde das Christentum zu einer Buchreligion, was katholisch wie lutherisch abgelehnt wird: Christus ist das Wort Gottes (vgl. Joh 1,1ff.), und nur insofern die ganze Schrift Christus verkündet, drückt sich in ihr dieses Wort Gottes aus. Dieses muß vom Heiligen Geist im Herzen des Menschen lebendig werden, „damit [die Schrift] nicht toter Buchstabe bleibe“ (Katechismus der Katholischen Kirche [KKK] 108).

Die katholische Lehre ist jedoch umfassender und geht über die genannten Aspekte hinaus („et…et“ = sowohl als auch, statt „sola“ = nur). Das „sola scriptura“ ist direkt und sogar ursprünglicher gegen diese Aspekte gerichtet:

  • Der geistliche Schriftsinn wird abgelehnt.
  • Die Schrift selbst, nicht die kirchliche Tradition, ist das einzige Auslegungskriterium.
  • Jede Auslegung, aber auch jede Schrift selbst muß sich daran messen lassen, ob sie „Christum treibet“.

Auch nach katholischem Verständnis ist der wörtliche (historische) Sinn der wichtigste und damit die Grundlage aller geistlichen Auslegung, die ohne ihn inhaltsleer wäre (vgl. 1 Kor 15!). Doch bereits die Heilige Schrift selbst legt sich nicht nur den reinen Wortlaut aus, sondern versteht „auch die Wirklichkeiten und Ereignisse, von denen er spricht“ (KKK 117), als zeichenhafte Geschehnisse für den Heilsplan Gottes.

Der im engeren Sinn allegorische Sinn („Was dürfen wir glauben?“) legt die Geschehnisse im Lichte von Ostern aus, versteht also alles auf Christus und die Erlösung hingeordnet. Am häufigsten ist dabei die typologische Lektüre des Alten Testamentes, in der z.B. der Auszug aus Ägypten durch das Rote Meer als Voraus-Bild für unseren durch die Erlösung in Christus möglichen Auszug aus dem Reich der Sünde in der Taufe. Eine andere, bereits neutestamentliche Typologie ist das Verständnis Christi als das Paschalamm (so z.B. in der Johannes-Passion und in 1 Kor 5,7).

Der moralische Sinn („Was sollen wir tun?“) versucht aus den Geschehnissen der Schrift abzuleiten, was Gott von uns möchte, daß wir es tun. Wenn Jesus etwa auf die Frage, wer mein Nächster sei, mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter antwortet, muß der Hörer – und genau so schildert es uns Lk 10,25–37 – selbst durch geistliche Auslegung des Gleichnisses auf die Antwort kommen.

Wer die Schrift im anagogischen Sinn („Was dürfen wir hoffen?“) auslegt, versteht die berichteten Geschehnisse als Bild für den Himmel. Sie ist in gewisser Weise die Fortsetzung des typologischen Sinnes und legt seinen Verheißungsüberschuß aus: Wenn wir in der Taufe durch das Rote Meer aus dem Reich der Sünde „Ägypten“ ausgezogen sind, dann ist das angestrebte gelobte Land ein Bild für unsere ewige Heimat im Himmel (vgl. Hebr 3,74,13).

Wenn sich also alle drei geistlichen Sinne bereits in der Schrift selbst ausgelegt finden, dann müßte gerade unter der Voraussetzung, daß die Schrift das einzige Kriterium ihrer Auslegung sei, die Schrift nach ihrem geistlichen Sinn befragt werden. Diese Voraussetzung würde dadurch jedoch nicht logisch akzeptabler, denn es handelt sich um einen klassischen Zirkelschluß, in dem etwas mit sich selbst begründet werden soll. Das ist Münchhausen, der sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zieht.

Auch geschichtlich ist das Kriterium nicht haltbar. Mit Tradition ist im katholischen Sinne nicht eine konkrete Gewohnheit, auch nicht eine Summe von Gewohnheiten gemeint, sondern der eine Überlieferungszusammenhang der Offenbarung Gottes von Abraham und Mose bis (gegenwärtig) Papst Franziskus. In allen Fällen geht die Offenbarung selbst ihrer schriftlichen Niederlegung voraus. Beim Neuen Testament ist selbst bei extremster Frühdatierung nach Jesu Tod und Auferstehung noch ein Zeitraum von etwa einem Jahrzehnt zu überbrücken, in dem es keine neutestamentliche Schrift, aber sehr wohl mündliche Überlieferung gibt. Somit begründet nicht die Schrift die Tradition, sondern die Schrift ist das älteste schriftliche Zeugnis der Tradition, das sogar ausdrücklich auf darüber hinausgehende mündliche Tradition verweist (z.B. Joh 20,30; 2 Thess 2,15; 2 Joh 12).

Träger der Tradition ist die Kirche, die sich als göttliche Institution (Leib Christi) wiederum nicht selbst begründet. Auch in ihr ist der eigentlicher Ausleger der Schrift der Heilige Geist. Die Schwierigkeit der Unterscheidung der Geister erfordert jedoch eine konkrete Instanz, die in Zweifesfällen die Kompetenz hat, die Schrift verbindlich auszulegen: das Lehramt der Kirche. Auf die Maßgabe dieses Überlieferungszusammenhangs und den Heiligen Geist als den eigentlichen Ausleger der Schrift verweist ausdrücklich 2 Petr 1,20f.:

Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.

Kein Zweifel, Christus ist die Mitte der Schrift (vgl. KKK 102f., 112, 133 und 134). Darauf die Auswahl des Kanons, dessen Mitte zuvor schon festgestellt wurde, ist jedoch willkürlich und wiederum ein Zirkelschluß: Das Kriterium des Kanons muß den Kanon bereits voraussetzen.

Der Kanon verdankt sich vielmehr der lebendigen Tradition der Kirche. Beim Alten Testament hat die Kirche schlicht den zur Zeit Jesu üblichen Kanon der griechischen Übersetzung (Septuaginta) übernommen; einen verbindlichen hebräischen Kanon gibt es nicht vor 70 n. Chr. Schon die Autoren des Neuen Testaments haben ganz selbstverständlich die Septuaginta verwendet, was sich vor allem darin zeigt, daß das Alte Testament in der Regel nach ihr zitiert wird.

Beim Neuen Testament gibt es zwei Entwicklungsschritte. Zunächst hat sich ein gewisser Kanon von im Gottesdienst verwendeten Schriften herausgebildet. Dann mußte im dritten, vierten Jahrhundert dieser Kanon gegen die Gnosis (eine synkretistische und alles andere als klar abgrenzbaren religiösen Bewegung, die auch christliches Gedankengut rezipierte) abgegrenzt werden. Aus gnostischen Kreisen stammten Schriften, die vorgaben, von Aposteln zu stammen und z.T. auch echt christliches Gedankengut verarbeiteten, also schwer zu unterscheiden waren. Die Kirche wählte hier nach Alter und Augenzeugenschaft aus und war dabei ziemlich erfolgreich: bei den heute üblichen Datierungen (ca. 50–100 n. Chr.) finden sich nur drei christliche Schriften, die möglicherweise in diesen Zeitraum fallen und nicht ins Neue Testament aufgenommen wurden; neben dem Barnabasbrief noch die Zwölfapostellehre (Didaché) und der Erste Clemensbrief.