„Toleranz hilft da nur wenig. […] Die konfessionellen und religiösen Grenzen haben sich eher vertieft als vermindert, obwohl die religiöse Vielfalt in den Gesellschaften hoch ist“,
sagt der evangelische Theologe Hans-Peter Großhans, Direktor des evangelischen Instituts für Ökumenische Theologie an der WWU Münster. Das klang im ersten Moment zukunftsweisend. Im weiteren Text aber fanden sich so merkwürdige Formulierungen wie:
„Im neuzeitlichen Bewusstsein kann man über alles offen reden. Nur im Bereich der Religionen geht gar nichts. Man tauscht sich nicht aus. Das ist unbefriedigend.“
und:
„Der Experte betonte, die wachsende Distanz zwischen den Religionen lasse sich generell nur auf Basis echter gegenseitiger „Anerkennung“ überwinden. „Du kannst nicht mit anderen Religionen reden, wenn Du ihre Wahrheit nicht ernst nimmst“, so der Theologe. Es gehe eben nicht nur um Toleranz, sondern darum, abweichende Einstellungen und Lebensweisen anzuerkennen.“
Fordert Großhans nun also die endültige Vergleichgültigung aller Religion? Weit gefehlt! Die Kreise in denen sich Großhans theologisch verorten läßt und auch seine Veröffentlichungen weisen darauf hin, daß es sich hier um einen Denker handelt, der sich der Postmoderne sehr genau bewußt ist. Darauf bin ich allerdings erst gestoßen, nachdem sich meine anfängliche Aufregung wieder gelegt hatte, denn die obigen Formulierungen lesen sich wie eine völlige Auflösung des Wahrheitsanspruchs in seinem grundlegenden Inhalt – nämlich den Wahrheitsanspruch sich logisch ausschließender Positionen zu bestreiten.
Unter der Voraussetzung eines postmodernen Autors legt sich plötzlich eine alternative Lesart nahe: Es geht nicht darum, die Wahrheit des anderen auch als die eigene Wahrheit anzuerkennen, sondern als Wahrheit(sanspruch) des anderen ernst zunehmen, ihn gerade in seiner Andersheit wahrzunehmen und so mit ihm ins Gespräch zu kommen – ohne dabei den Wahrheitsanspruch der eigenen Perspektive aufzugeben. Perspektive ist das postmoderne Schlüsselwort hier – das eben in der Meldung nicht fällt! Denn die Anerkenntnis der Perspektivität jeglicher Position ermöglicht es, selbst einen Wahrheitsanspruch zu formulieren, ohne den Andersgläubigen vernichten zu müssen – getreu dem Motto: Natürlich bin ich von der alleinigen Wahrheit des Christentums überzeugt, aber ich weiß auch, daß meine Erkenntnis und Verwirklichung des ganzen ist notwendigerweise defizitär ist (sonst bräuchten wir ja keine Beichte).
Gerade so aber kommt die postmoderne Form des Wahrheitsanspruchs der (ur-)christlichen relativ nahe. Der Wahrheitsanspruch des anderen wird zwar bestritten, aber das, was aus christlicher Perspektive anschlußfähig ist, auch aus dieser also als wahr anerkannt werden kann oder sogar muß, kann auf die natürliche Gotteserkenntnis zurückgeführt werden, die prinzipiell (wenn auch ohne Offenbarung nur sehr unvollkommen) jedem Menschen als Geschöpf Gottes möglich ist. Die frühchristlichen Apologeten sprachen hier von den logoi spermatikoi, den Samen des Wortes (Logos). Freilich kann es auch sein, daß der Austausch mit Nicht-Christen über ihre Perspektive mich aus ihrer spezifischen Sensibilität heraus tatsächliche Defizite des „real-existierenden“ Christentums erkennen läßt, die ich im Alltagstrott gefangen nie selbst hätte erkennen können. Gerade das dürfte Großhans mit „in ihrer Wahrheit anerkennen“ meinen.
Nur warum sagt er das nicht? Vielleicht hat da ein unverständiger Presseheini Mist draus gemacht, was allerdings unwahrscheinlich ist, da es sich um die Mitteilung eines Exzellenzclusters handelt, also dürfte eher ein (ausgebeuteter) Student oder Mittelbauer die Meldung verfaßt haben, der den Professor besser hätte verstehen können müssen. Vielleicht kommt das bei den politischen Geldgebern des Exzellenzclusters einfach besser an, wenn man nicht allzu deutlich sagt, woher der Wind weht – aber nein, das geht auch nicht, denn die Wissenschaft ist ja grundgesetzlich geschützt frei. Bleibt also nur die Möglichkeit: Hier soll einer als weniger postmodern eingeschätzten Öffentlichkeit ganz langsam die Postmoderne erklärt und schmackhaft gemacht werden – und mir fällt da nur eine Öffentlichkeit als Zielgruppe ein, nämlich die kirchliche. Bedauerlich nur, daß potentielle Verbündete so bereits persönlich bekannt sein müssen…