geistliche Schriftlesung

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Die zwei Straßengräben des Umgangs mit geistlicher Bibellektüre sind „Willkür“ und „das ist historisch gar nicht passiert“. Im ersten Straßengraben wirft man die von Anfang an bei den Kirchenvätern beliebte allegorische Auslegung komplett über Bord und reduziert die Schrift auf ihren historischen Sinn, in dem man dann nach Informationen über Gott oder geistlich wertvollen Erkenntnissen sucht. Im anderen Straßengraben sucht man nach der Bedeutung hinter der Bedeutung, liest die Bibeltexte als Allegorien und narrative Psychologie, läßt aber den historischen Sinn fallen. In beiden Straßengräben kommt man zu wertvollen Erkenntnissen, doch in keinem von beiden kommt man der Fülle des biblischen Inhalts auch nur nahe.

Vielmehr setzt die geistliche Lektüre den historischen Sinn voraus. Nur weil es geschehen ist, hat es überhaupt einen geistlichen Sinn, der wirklich geistlich ist und tatsächlich im Geschehen steckt. Oder wie es der heilige Augustinus in einer Predigt über den heiligen Johannes den Täufer ausdrückte: „Bedenke, was alles geschehen ist, weil es im Bild die wahre Wirklichkeit darstellte.“[1] Das heißt, auch allegorische Auslegung ist niemals willkürlich. Auch wenn es verschiedene legitime Interpretationsansätze geben kann, so schließen diese sich nicht aus, sondern ein. Und sie müssen auch mit dem Kontext des historischen Geschehens passen.

Das ganze will ich an einem Beispiel illustrieren, das letzten Endes sogar ziemlich deutlich ist, nämlich der Speisung der 5.000 und der Speisung der 4.000 und der Auslegung, die sich auf dem Blog von Gregorius Braun findet.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß es sich bei diesen beiden Speisewundern nicht um zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses handeln kann, auch wenn die Unterschiede auf den ersten Blick nur gering sind und das grobe Geschehen sogar identisch scheint. Jedenfalls kommt man mit dieser Erklärung nicht weit, wenn man bedenkt, daß bei Markus und Matthäus beide Speisewunder in enger Nachbarschaft stehen. Lukas und Johannes hingegen lassen die Speisung der 4.000 weg. Solange man Markus und Matthäus nicht eine Buchhaltermentalität unterstellt, in der zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses aufgrund der Nichtharmonisierbarkeit zu zwei verschiedenen Ereignissen werden (anstatt sich für eine der Traditionen zu entscheiden), müssen sie sich etwas gedacht haben, als sie beide Wunder in ihr Evangelium aufnahmen. Auch an späterer Stelle wird auf beide Wunder als getrennte Ereignisse verwiesen. In den eher unscheinbar liegenden Abweichungen müssen sie also einen tieferen Sinn gesehen haben.

An dieser Stelle setzt Gregorius Braun im Rückgriff auf Kirchenväterauslegungen an. Um sein Posting kurz zusammenzufassen: Die erste Speisung, die der 5.000, richtet sich an das Volk Israel (5 Brote = 5 Bücher der Torah, 2 Fische = die 2 Ämter des Königs und des Hohepriesters), die zweite Speisung, die der 4.000, hingegen an die Heiden (die weder Torah noch die Ämter haben, wohl aber 7 Brote haben = die 7 Tugenden kennen und ein paar Fische = ein paar große Denker wie Sokrates und Platon, die das Christentum erahnt haben). Es bleiben 12 Körbe beim Volk Israel übrig (für jeden der Zwölf einer = apostolische Tradition) und 7 Körbe bei den Heiden (= 7 Gaben des Heiligen Geistes), mithin also gibt in diesen beiden Wundern Christus seiner Kirche das Fundament.

Damit erscheinen beide Wunder als mehr als „nur“ übernatürliche Belege der Göttlichkeit Jesu. Vielmehr handelt es sich um prophetische Zeichen, und so wirft Er sowohl Seinem engeren Jüngerkreis (Mt 16par) als auch dem Volk, das Ihm folgt, vor, nicht verstanden zu haben, was diese Zeichenhandlungen bedeuteten. (Letzteres freilich nur bei Johannes, der nur die Speisung der 5.000 kennt, statt der Speisung der 4.000 hat er hingegen die Brotrede, in der sich der Vorwurf an das Volk findet. Wäre auch nochmal spannend zu betrachten, sprengt aber hier den Rahmen.)

Daß diese Auslegung alles andere als willkürlich ist, obwohl sie auf den ersten Blick so wirken könnte, zeigt sich, wenn man sie in ihrem Kontext betrachtet und insbesondere beachtet, was zwischen den beiden Speisewundern passiert (ich folge hier im wesentlichen Matthäus):

Voraus geht der Bericht über die Enthauptung Johannes des Täufers. Nachdem sich Jesus schon zuvor durch Sein Verhalten und Seine Lehre mit den Autoritäten des Volkes Israel angelegt hatte, zeigt sich hier besonders deutlich, welches Schicksal Ihn erwartet. Wenn die Führer des Volkes den, der das Volk Israel auf seinen Erlöser vorbereiten sollte, hinrichten lassen, werden sie auch Jesus ablehnen und hinrichten lassen. Deutlich ist also, daß Seine Mission, das Volk Israel als Volk zu erlösen, zum Scheitern verurteilt ist.

In dieser Situation erfolgt die Speisung der 5.000. In der allegorischen Auslegung (s.o.) wird hier das Volk Israel, bzw. diejenigen Juden guten Willens, in die Kirche überführt. Spannend übrigens, daß dieses Wunder bei Johannes in Verbindung mit der Brotrede quasi die Einsetzung der Eucharistie darstellt. Johannes versteht also die Speisung der 5.000 nicht nur konkret als Begründung der apostolischen Tradition, sondern sieht hier – naheliegenderweise! – auch die Gabe ihrer geistlichen Quelle, der Eucharistie.

In den folgenden Perikopen spitzt sich die Aufforderung zur Entscheidung zu. Als Jesus über das Wasser zu den Jüngern im Boot geht, kann auch Petrus auf dem Wasser gehen, solange er auf Jesus Christus vertraut und an Ihn glaubt. In dem Moment, wo er das Vertrauen verliert, beginnt er unterzugehen, doch selbst hier noch rettet ihn sein Glaube: „Herr, rette mich!“ Und so kulminiert die Perikope bei Matthäus im eindeutigen Bekenntnis der Jünger „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ – während Markus deutlich macht, daß sie nach wie vor nicht verstehen, was die Speisung der 5.000 bedeutete.

Die folgenden drei Verse könnten zwar leicht als „Link“ zwischen zwei größeren Abschnitten untergehen, sind aber geistlich alles andere als unbedeutend. Wenn Jesus alle zu Ihm gebrachten Kranken heilt, so stellen diese Wunder wieder mehr als bloße Belege Seiner göttlichen Autorität dar. Vielmehr ist auch dies ein prophetisches Zeichen dafür, daß in Ihm das Heil anbricht – wie Er schon dem Täufer antwortete: „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (vgl. Ps 146, Jes 42 u.ö.)

Entsprechend Seiner Antwort an Johannes, die mit: „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt“, endet, folgt nun ein längerer Abschnitt, in dem es zum deutlichen Zerwürfnis mit den Pharisäern über die Reinheitsvorschriften kommt. Nicht von außen, sondern aus dem Innern komme die Unreinheit, die Sünde, die Pharisäer hingegen spricht Er als: „Ihr Heuchler“ an. Die Pharisäer sind entsprechend empört, und Jesus bricht mit ihnen endgültig: Laßt die Blinden die Blinden führen! Das Volk Israel als Volk Gottes existiert nicht mehr.

Und genau nach diesem Zerwürfnis folgt die Perikope, in der Jesus die Bitte einer heidnischen Frau erhört. Sie bestreitet keineswegs den Vorrang Israels, glaubt aber, daß das dem Volk verkündete Heil so groß ist, daß auch etwas für die Heiden abfallen kann. „Frau, Dein Glaube ist groß“, antwortet ihr Jesus. Was Er zuvor mehrfach strikt abgelehnt hatte (z.B. in Mt 7,6, aber auch noch in der Perikope selbst), tut Er nun: Er wendet sich den Heiden zu.

Ausgerechnet hierauf folgt nun die Speisung der 4.000! Die Speisung der 4.000 wurde bei Gregorius Braun als Aufnahme der Heiden in die Kirche interpretiert. Was ergäbe vom Kontext her mehr Sinn? Die Kirche ist zunächst aus dem Volk Israel gegründet worden, doch da das Volk nicht als Volk das Heil will, sondern wichtige Führer es = Ihn ablehnen (Pharisäer), und weil das Heil so groß ist, daß es nicht für das Volk Israel alleine da ist (wie schon im AT die Erwählung des Volkes Israel zum Volk Gottes werkzeuglich verstanden wird, nämlich damit durch die Juden Gottes Heil zu allen Menschen kommt), sondern es auf den Glauben des Einzelnen ankommt (siehe Petri Gang auf dem Wasser), werden nun auch die Heiden in die Kirche, das Neue Volk Gottes, aufgenommen.

Die bei Matthäus zwar etwas vage Ortsangabe (unbewohnte Gegend am See Genezaret) läßt zudem darauf schließen, daß sich die Speisung der 4.000 auf heidnischen Gebiet ereignete. Deutlicher ist hier Markus, bei dem Jesus nach dem Zerwürfnis mit den Pharisäern nicht nur ausdrücklich Galiläa nach Tyrus hin verläßt, sondern über Sidon ins Gebiet der Dekapolis zieht, das im Nordosten an den See Genezaret angrenzt.

Auch die folgenden Perikopen passen voll in diesen Rahmen. Wie Jesus mit den Pharisäern gebrochen hat, so versuchen diese zusammen mit den Sadduzäern Ihn, also Gott, auf die Probe zu stellen, worauf Jesus Seine Jünger vor denselben warnt – und zwar gerade mit dem Verweis auf die beiden Speisewunder. Anschließend folgt das Messiasbekenntnis des Petrus und die Übertragung der Schlüsselgewalt, quasi also die Begründung des Papsttums. Wenn man noch bedenkt, daß erst in Mt 10 und damit kurz vor den beiden Speisungen die Berufung der Zwölf (= Stammväter des neuen Israels) erfolgt, so könnte man glatt sagen, daß der ganze Abschnitt Mt 10-16 von nichts anderem berichtet, als der Begründung der Kirche.[2]

Die allegorische Auslegung, wie sie Gregorius Braun dargelegt hat, läßt sich also aus dem Kontext heraus stützen, ja sie macht sogar auf Details aufmerksam, die einem sonst entgangen wären.

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[1] Vgl. Sermo In Natali Ioannis Baptistae 293,2; in: PL 38, 1327f. (hoch)
[2] Vielleicht kann man auch noch die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung, der Aufruf zur Kreuzesnachfolge und die Verklärung Jesu, vielleicht sogar die noch folgenden Perikopen (z.B. den Rangstreit der Jünger) bis zum Aufbruch nach Judäa, also zur Kreuzigung, zur „Kirchgründung“ zählen. Der Gedanke kam mir gerade erst, den habe ich noch nicht durchmeditiert. (hoch)

Einer der Gründe, warum ich am Ende des letzten Jahres plötzlich wieder aufgehört habe zu bloggen, war die Bibel. Genauer: Mein Vorsatz, im Jahr 2014 die Bibel einmal komplett durchgelesen zu haben. Das wurde am Ende ziemlich knapp (am 1.10. fehlten noch 45 Bücher, am 1.11. noch 31 und am 1.12. noch 13 Bücher, darunter fast das komplette Geschichtswerk), so daß ich klare Prioritäten gesetzt habe.

Ein paar frühe Resultate dieses Vorsatzes habe ich letztes Jahr schon verbloggt. Jetzt will ich der Frage nachgehen, ob sich das ganze gelohnt hat. Nicht nur Jürgen, sondern auch mein AT-Professor waren nach ihrem Komplettdurchgang diesbezüglich etwas skeptisch. Auch ich selbst habe, schon als Jugendlicher, den Versuch, die Bibel komplett zu lesen, nach anderthalb Büchern abgebrochen.

Dieser Versuch aus der Jugendzeit war auch der Grund, warum ich das Geschichtswerk so lange vor mir hergeschoben habe. Und tatsächlich: Ich halte das Buch Exodus für das am anstrengendsten zu lesende Buch der ganzen Bibel. Damals bin ich irgendwo im Bundesbuch (ca. Ex 22) hängengeblieben und konnte mich nicht mehr überwinden, weiterzulesen. Blöd halt, daß das Buch so weit vorne steht.

Im Buch Exodus kann man die Schichten, die in den Pentateuch eingeflossen sind, am deutlichsten erkennen, und sie sind zu allem Überfluß schlecht miteinander verknüpft. Es gibt zum Teil abrupte Wechsel mitten in einer Geschichte, infolgedessen zwei Beschreibungen desselben Ereignisses unvereinbar nebeneinander stehen (war das Wasser jetzt durch einen starken Wind weggetrieben worden oder stand es rechts und links wie eine Mauer?, um nur mal das bekannteste Beispiel anzuführen). Besonders anstrengend ist das in den Gesetzestexten, die keine klare Struktur erkennen lassen. Oder besser: die zwar scheinbar eine klare Grobstruktur haben, aber sich dann in komplexen Details verlieren.

Nicht besser wird es dadurch, daß die Geschichte des Auszugs aus Ägypten in geistlicher Lesung und der kirchlichen Tradition eine kaum zu überschätzende Rolle spielt als Vorbild des Auszugs des einzelnen und der Kirche aus der Welt der Sünde und des Todes.

Und dann folgt darauf auch noch das Buch Levitikus, das kaum noch Geschichte, sondern hauptsächlich Gesetzestexte präsentiert, ganz zu Schweigen von Numeri, das fast schon in einer Art Mantra beginnt (der und der Stamm brachte das und das, der und der Stamm brachtet dasselbe und nach 12 Stämmen geht’s wieder von vorne los)!

Aber schwer gefehlt! Ok, Numeri ist am Anfang tatsächlich etwas langweilig, wenn man nicht wie ich auf Statistiken abfährt, aber Levitikus haut pholl phätt rein! Zunächst einmal wirken beide Bücher im Gegensatz zu Exodus viel mehr wie aus einem Guß. Vor allem aber braucht es die richtige Hermeneutik, die richtige Brille, um einen Zugang zu den Büchern zu kriegen. Bei Levitikus drängte sich mir relativ schnell auf, das Buch im Hinblick auf die Verehrung der Eucharistie und den Aufbau katholischer Kirchen zu lesen; nicht zuletzt, weil ständig vom ungesäuerten Brot aus Feinmehl, das heilig ist, die Rede ist. Tabernakel, ewiges Licht (Lev 24), ja sogar die Elevation (Lev 7,14) und praktisch das gesamte Kirchenjahr von Erntedank bis Pfingsten (Lev 23) – alles schon drin! Ok, man muß ein paar Begrifflichkeiten kennen, z.B. daß tabernaculum das lateinische Wort für Zelt ist, aber dann ist Levitikus alles andere als vergangene Gesetzlichkeit, sondern pure Gegenwart (ein paar kleinere Ausnahmen in gesetzlichen Detailregelungen bestätigen die Regel).

Das ist überhaupt das Problem: Man muß erstmal raffen, daß manche uns geläufige Begriffe eben lateinisch oder griechisch sind, die Einheitsübersetzung aber im Text meist die deutschen Worte verwendet (soweit vorhanden) und in den Anmerkungen allenfalls die hebräischen Ausdrücke erwähnt. So habe ich auch eine ganze Weile gebraucht zu merken, daß Josua nicht nur figurativ die Israeliten ins verheißene Land führt wie Jesus uns ins Himmelreich, sondern daß Josua „lediglich“ eine andere griechische Form von J(eh|o)schua als das neutestamentliche Jesus ist… Tja, nur weil man Texte auf Deutsch liest oder hört, heißt das eben noch lange nicht, daß man sie besser versteht, als wenn sie in einer mehr oder weniger unbekannten Fremdsprache formuliert sind.

Besonders angetan hat es mir aber die Weiheitsliteratur. Ja, auch hier gilt, nicht alles ist zum sofortigen Komplettverzehr geeignet (Psalmen, Sprüche). Aber die grundsätzliche Orientierung dieser Bücher ist so herrlich thomanisch „down to earth“ – sie wird weder spiritualistisch noch materialistisch, selbst wenn sie wie Kohelet die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des Menschen bis ins Letzte auskostet.

Stellen wie: „Der Schlaf des Fröhlichen wirkt wie eine Mahlzeit, das Essen schlägt gut bei ihm an“, und: „Wie ein Lebenswasser ist der Wein für den Menschen, wenn er ihn mäßig trinkt. Was ist das für ein Leben, wenn man keinen Wein hat, der doch von Anfang an zur Freude geschafen wurde? Frohsinn, Wonne und Lust bringt Wein, zur rechten Zeit und genügsam getrunken. Kopfweh, Hohn und Schimpf bringt Wein, getrunken in Erregung und Zorn. Zu viel Wein ist eine Falle für den Toren, er schwächt die Kraft und schlägt viele Wunden“ (Sir 30,25;31,19–21), zeigen in aller Deutlichkeit, daß es bei allem Wechsel in den Verhältnissen manche Dinge einfach Grundkonstanten menschlichen Lebens sind: „Wer sich selbst nichts gönnt, wem kann der Gutes tun? Er wird seinem eigenen Glück nicht begegnen“ (Sir 14,5).

Das Hohelied hingegen scheint mir das geistlich tiefste Buch der ganzen Bibel zu sein. Beim ersten Lesen rauscht es irgendwie so vorbei. Beim zweiten Mal merkte ich an ein paar Stellen plötzlich auf, klingt das nicht wie ein Kirchenlied? Beim dritten Mal fielen mir auch die Lieder ein, z.B. „Mein schönste Zier und Kleinod bist“ (Hld 2,16 in der dritten Strophe) und „Sagt an, wer ist doch diese“ (Hld 6,10), und mir zeigte sich eine Tiefe, die ihresgleichen sucht und von mir noch entdeckt werden will.

Leid tun mir aber die Protestanten, die gerade in der Weisheit der schönsten Texte entbehren müssen. Nicht nur fehlt Sirach, so daß den Lutherjüngern ihr „Prediger“ irgendwie der Kontext fehlt, aus dem er verständlich(er) wird, sondern sie kennen auch so krasse prophetische Texte wie Weisheit 2 nicht. Kein Wunder, daß manche von ihnen das AT gleich ganz über Bord werfen wollen.

Da versteht man übrigens auch gleich, warum Luther mit Jakobus nicht viel anfangen konnte. Wer die Weisheit nicht gebührend schätzt, für den wird der Jakobusbrief ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, denn der steht ganz, ganz deutlich in weisheitlicher Tradition, nicht zuletzt in seiner (keineswegs fehlenden!) Christologie. Nur kommt Christus hier nicht als vorösterlicher Jesus, sondern als erhöhter Herr vor, nämlich als die „Weisheit[!] von oben“, die den Christgläubigen zu neuem Leben gebiert, ihre Werke dabei schon immer mitbringt und den Christen dadurch befähigt, sie zu vollbringen. Oder anders gesagt, wer bei Jakobus nicht die Bergpredigt durchhört, kann kaum bemerken, wie nah Jakobus an den Synoptikern ist (27 Parallelstellen, davon die Hälfte aus der Bergpredigt).

Aber ich schweife ab. Die Offenbarung des Johannes habe ich schon immer gemocht. Aber erst nach der kompletten Bibellektüre ist mir so richtig klargeworden, daß und warum sie das würdige Schlußbuch der Bibel ist. Sie greift quasi alle losen Enden auf, alle noch nicht (ganz) erfüllten Verheißungen und bündelt sie. So macht sie nicht nur deutlich, daß die Vollendung noch aussteht, sondern vor allem auch, daß die ganze Bibel zusammengehört und nicht nur die Stellen, die sich neutestamentlich als erfüllt herausstellen oder gar nur die, die uns heute in den Kram passen. Und dabei steht sie voll in der Tradition alttestamentlicher Prophetie. Sie weist sehr wohl darauf hin, daß die Verheißungen oder auch Drohungen Gottes in der Gegenwart relevant sind, auch eine nahe Folge haben werden, daß aber die Geduld Gottes soviel größer ist als wir sie uns vorstellen können, daß die vollständige Erfüllung der Verheißungen noch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausstehen kann. Ihr kennt weder Zeit noch Stunde…

Um das ganze mal abzuschließen: Ja, die Komplettlektüre der Bibel hat mir viel gebracht. Viele Bezüge sind mir vorher nie klar gewesen, und ständig entdecke ich neue. Wichtig war aber, die Bibel nicht „instruktionstheoretisch“ zu lesen, d.h. als Buch, das mir Sachinformationen vermittelt, sondern „personal-kommunikativ“, oder einfacher formuliert: geistlich, auf meine Beziehung zum Herrn hin. So erschlossen sich viele Stellen, die sonst irgendwie alt, unbedeutend und „apokryph“ gewirkt hätten, als geistlich tief, Lebenszusammenhänge erschließend und den Glauben stärkend.

Nur zwei Tips seien potentiellen Nachahmern noch auf den Weg gegeben, wenn sie die Einheitsübersetzung nehmen, was für den Anfang vielleicht gar nicht mal die schlechteste Wahl ist: Überspringt im Zweifel die Einleitungen zu den Büchern, die zum Teil zwar ganz brauchbar, zum Teil aber auch absolut grottig sind und jegliche geistliche Lektüre auszutreiben zu versuchen scheinen. Gleiches gilt für die Anmerkungen. Manche sind hilfreich, manche, insbesondere an Stellen im AT, die eindeutig Jesus als den Messias vorausverkünden, sind einfach katastrophal, weil sie keine Erklärung bieten, sondern nur ausschließen wollen, was zwar offensichtlich ist, aber einfach nicht sein darf.

Inzwischen bin ich übrigens schon wieder zu zwei Dritteln durch. Was für mich etwas sehr Ungewöhnliches ist. Selbst die besten Romane (von Sachbüchern ganz zu schweigen) lese ich nur in absoluten Ausnahmen ein zweites Mal und dann bevorzugt in einer anderen Sprache, weil mir alles so bekannt vorkommt, daß meine Augen zwar weiterhin den Buchstaben folgen, mein Hirn aber gelangweilt sonstwohin abdriftet. Das ist bei der Bibel völlig anders. Hier scheint es mir von Mal zu Mal spannender zu werden. Je besser ich die Texte kenne, umso mehr Querverweise und -bezüge fallen mir auf, umso tiefere Deutungen werden mir möglich. (Die Kirchenväterauslegungen dazu zu lesen, schadet ganz offensichtlich auch nicht.) Wenn das mal nicht ein Zeichen ist, daß dort „is more to it than meets the eye“… 🙂

Ich hab mir mal den Spaß gemacht, die Psalmen am Stück zu lesen. War eine zweischneidige Sache; deutlich anstrengender als im Stundengebet, und viel schneller durch war ich auch nicht. Außerdem wuchsen in mir gewisse Zweifel, ob die häufige Einschätzung, der Psalter decke das gesamte Spektrum menschlichen (Gefühls-)Lebens ab, nicht etwas blauäugig ist. Ja, ok, man wird wohl in jeder Gemütslage einen passenden Psalm finden. Aber möglicherweise tatsächlich nur einen. Die klagenden, um Hilfe schreienden, Unterdrückung, Frevel und Heuchelei anprangernden sind deutlich in der Überzahl, und zwar so deutlich, daß ich des öfteren keine Lust mehr hatte, das Projekt fortzusetzen. (So eine Death Metal-Scheibe lebt ja auch nicht gerade von ihren Texten bzw. deren Vielfalt…)

Allerdings fallen so die sog. Fluchpsalmen kaum auf, vor allem die Einzelverse. Die gehören da einfach hin, entsprechen dem Duktus und liegen in der Konsequenz des Vorausgegangenen. Ganz davon abgesehen, daß man sich mitunter fragt, warum der eine Vers als Fluchpsalm gilt, der andere aber nicht. Mal zur Illustration: Welcher Vers von Psalm 5 gilt als Fluchpsalm? – Richtig, natürlich Vers 11, der sich inhaltlich absolut deutlich von den Versen 9 und 10 abhebt, denn Vers 11 ist im Imperativ gehalten, Verse 9 und 10 im Indikativ. Andererseits gelten Verse im (sachlich vom Imperativ nicht unterschiedenen) jussivischen Konjunktiv nicht als Fluchpsalmen. Echt jetzt, das ist mir alles etwas zu willkürlich. But I digress.

Zurück zum Thema, es gab nämlich doch den einen oder anderen Gewinn des Am-Stück-Lesens. Manche Psalmenreihen ergeben nämlich – gerade als messianische Prophetie gelesen – in ihrer Reihung tieferen Sinn. Besonders deutlich finde ich in dieser Hinsicht die Psalmen 18–24.

Psalm 18 handelt vom Gericht durch den Gesalbten (= Messias = Christus) des Herrn und weist bereits starke Ankänge an Jesu Tod und Auferstehung sowie die Sendung der Kirche auf. Er greift damit auf die Inhalte der nächsten sechs Psalmen voraus.

Psalm 19 zeigt Gott als Ursprung und Ziel des Menschen und legt damit die sachliche Grundlage des Gerichts. Nach Psalm 20 schenkt Gott uns durch den Messias den Sieg. Das heißt, der Sieg wird durch das Gericht hindurch errungen, wie auch Psalm 21 aus anderer Perspektive schildert: der Messias ist König, Gott vernichtet Seine Feinde.

Über Psalm 22 muß ich wohl nicht viele Worte verlieren. Daß das der Karfreitagspsalm ist, ist wohl nicht erst seit der Passion nach Matthäus bekannt. Gottes Kraft erweist sich in der Schwäche, in Leiden und Tod. Denn Gott beglaubigt das Leiden seines Gesalbten, Leid und Tod haben nicht das letzte Wort. So wird es vielmehr zum Gericht für die Feinde.

So ergibt es auch Sinn, daß mit Psalm 23 ausgerechnet der megamäßig positive, fast schon kitschige „Der Herr ist mein Hirte“-Psalm folgt. Wie schon das Ende von Psalm 22 ankündigt, wendet Gott das Schicksal Seines Knechtes – Auferstehung.

Wen wundert es dann noch, daß in Psalm 24 vom Kommen des Königs des Herrlichkeit die Rede ist? Wiederkunft.

In den Psalmen 18–24 sind also für den, der sie zu finden vermag, bereits die Grundzüge neutestamentlicher Heilsgeschichte enthalten.

Damit der Fluchpsalm-Anfang dieses Posts noch seinen tieferen Sinn bekommt, ein weiteres Beispiel, die Psalmen 105–111. Wieder ist hier mit Psalm 110 ein Psalm enthalten, der bereits in den neutestamentlichen Schriften massiv messianisch verstanden wird (vgl. Mt 22,41-46; Hebr 7). Von ihm her hat sich mir plötzlich die ganze Reihe erschlossen, die vorher (zumindest teilweise) sterbenslangweilig war.

Psalm 105 weist auf den geschichtlich erfahrbaren Zusammenhang zwischen dem Verhalten bzw. Verhältnis des Volkes zu Gott und seinem Schicksal hin, der dann in Psalm 106 konkret ausgeführt wird: Auszug aus Ägypten – Murren in der Wüste – große Umwege; Einzug in Kanaan – Götzendienst – Exil; Umkehr – Rettung aus dem Exil. Gott ist also gerecht und barmherzig, wie dann Psalm 107 deutlicher hervorhebt: Der Herr erbarmt sich der Schwachen, Gefangenen und Bedrängten, der Sünder und Armen; die Redlichen sehen es und freuen sich, doch alle bösen Menschen verstummen. Hier Jesu Botschaft vom Reich Gottes zu erkennen, fällt nicht allzu schwer, wenn man (von Psalm 110 auf die Spur gesetzt) einmal angefangen hat, in diese Richtung zu denken.

In Psalm 108 den Widerspruch der Pharisäer und Sadduzäer anklingen zu sehen, ist zugegebenermaßen schon etwas schwieriger. Der Psalm ist aber ein Ruf nach Hilfe von Gott, ohne den das Volk nichts tun kann, und in den letzten Versen klingt wiederum das Gericht an. Und genau dieses Gericht läßt sich dann in Psalm 109 ziemlich deutlich erkennen: Lösche die Erbarmungslosen aus, vernichte ihr Erbe und Andenken, doch rette Deinen rechtschaffenen Knecht – so wie das Kreuz eben Gericht für den ist, der kein Erbarmen gezeigt hat, aber Rettung für den, der seine Hoffnung auf Gott setzt.

Psalm 110 ist nun wirklich ein messianischer Psalm par excellence (s.o.). Hier stecken deutlich die Auferstehung und die darin enthaltene Beglaubigung Gottes des Vorangegangenen drin: Der Herr erhöht Seinen Gesalbten, der Priester auf ewig ist nach der Ordnung Melchisedeks. Von hier, also dem Priestertum Melchisedeks, ist es nur noch ein kleiner Sprung, in Psalm 111 einen Psalm der Eucharistie zu sehen: Er hat ein Gedächtnis an Seine Wunder gestiftet, der Herr ist gnädig und barmherzig. Er gibt denen Speise, die Ihn fürchten, an Seinen Bund denkt Er auf ewig.

Und siehe da, in dieser Reihe steckt der wohl „schlimmste“ Fluchpsalm ever, was aber vielleicht kein Zufall ist: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem Er für uns zum Fluch geworden ist.“ (Gal 3,13)

Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Zusammenhänge zwischen den Psalmen. So kamen mir etwa die Psalmen 146150 quasi wie eine „eschatologische Reihe“ vor, zumal die ja auch alle mit „Halleluja“ beginnen und so schon auf einen Zusammenhang aufmerksam machen.

Am Ende habe ich dann gefragt, ob die Einteilung des Psalter in Bücher bei der Suche nicht helfen könnte, indem man sie als jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die Heilsgeschichte interpretiert – wie ja die Psalmen 18–24 und 105–111 im Prinzip dasselbe Heilsgeschehen wiederspiegelten, dabei aber ganz unterschiedlich herangehen.