Gesellschaft

Bei meiner Auseinandersetzung mit dem Finanzamt habe ich mich zuletzt für die Erklärung „Inkompetenz“ entschieden. Was ich erst jetzt mitbekommen habe: „Viele“ Finanzämter und der Bundesfinanzhof haben die Inkompetenz bereits Ende November/Anfang Dezember selbst eingeräumt und der Politik den Schwarzen Peter zugeschoben. Die Steuergesetze seien für die Finanzämter nicht mehr verständlich/anwendbar. Da ist doch echt was faul im Staate „Bunte Republik“.

Als ich vorhin nach hause kam, fand ich meine Wohnung unverhoffter Weise plötzlich im Sperrgebiet wieder. Ohne Ausweis keine Heimkehr. Einen Nachbarn, der nur mit Zweitwohnsitz hier gemeldet ist, hat die Polizei bis zur Haustür begleitet.

Ein wenig übertrieben fand ich das ja doch, und vor allem ärgerte ich mich darüber, daß es keinerlei Ankündigung gab. Im Sperrgebiet sollte man Gäste vorher anmelden, damit die rein und raus kommen. Aber wir lagen ja nicht im Sperrgebiet…

Anderthalb Stunden später war von der selbst für den Papstbesuch extremen Polizeianhäufung nicht mehr (so) viel übrig. Hatten die nur Langeweile? Oder lag es an anderen unverhofften Ereignissen in der Nähe?

Vincentius Lerinensis kotzt sich in der Regel über Dinge aus, die ihn aufregen. Und heute muß er sich mal über darüber auskotzen, daß so viele sich ständig nur über alles mögliche auskotzen. (Man beachte die postomoderne Dialektik 🙂

Ich bin kein Freund von Euphemismen. Man soll die Situation so darstellen, wie sie ist. Das bedeutet natürlich auch: wie man sie empfindet. Und es bedeutet unter Umständen auch, die Situation schlechter darzustellen, als sie ist.

Wenn das aber, wie bei manchen Leuten, zur Regel wird und zu einer grundlegenden Haltung, dann scheint mir die Sache doch nach hinten loszugehen. Natürlich können sie nichtsdestoweniger recht haben, aber ihre Motivationsfähigkeiten tendieren gegen Null. Wer fordert, das und das ist zu tun, aber keine andere Motivation als „es ist richtig, und auch wenn wir die falsche Entwicklung nicht aufhalten werden, haben wir wenigstens für die Wahrheit Zeugnis abgelegt“ (so richtig das ist!) hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn seine „Motivation“ zu einer sich (selbst) erfüllenden Prophetie wird. „Wir sind wenige, aber wir vertreten die Wahrheit, und der Wahrheit gehört (über kurz oder lang) die Zukunft“, klingt doch gleich viel besser…

OMG!

Da krame ich doch nochmal das hier raus. Ich möchte nicht wissen, wie die „Noch-Ehefrau“ reagiert, wenn sie dereinst die „Ex“-Ehefrau ist und ihr „Ex“-Ehemann dann auch noch mit offizieller kirchlicher Zustimmung zur Kommunion geht. Die Diskussion bleibt meines Erachtens immer noch unterkomplex. Zumindest das, was in der Öffentlichkeit geäußert wird.

Sie haben es also getan. Sie haben sich nach 18 Jahren beteuerter Unschuld schuldig bekannt, um gleich darauf freigelassen zu werden. Geht es eigentlich noch absurder?

Sie, das sind Damien Echols, Jessie Misskelley, Jr. und Jason Baldwin, besser bekannt als die „West Memphis Three“ (ausführlicher und mit vielen Verweisen, aber auch konfuser auf englisch). 1993 sollen sie, selbst erst zwischen 16 und 18 Jahren alt, drei Kinder ermordet haben.

An ihrer Schuld gibt es jedoch von Anfang an Zweifel, von gravierenden Ermittlungsfehlern der Polizei, die Spuren und möglichen Verdächtigen nicht nachging sowie wegen Unerfahrenheit möglicherweise Spuren zerstörte, über in der öffentlichen Diskussion eine maßgebliche Rolle spielende, in Bezug auf die später Verurteilten nicht völlig unbegründete, aber kaum mit dem Verbrechen zusammenzubringende und ziemlich krude Geschichten über Metal, Satanismus und Wicca bis hin zu DNA-Spuren, die auf einen anderen Täter aus dem familiären Umfeld eines der Opfer hinzudeuten scheinen. Verurteilt wurden die drei auch nicht wegen schlagender Beweise, sondern vor allem aufgrund von Indizien und eines später widerrufenen Geständnisses von Jessie Misskelley in Polizeiverhören. Angeblich gab Jessie Misskelley in diesen Verhören auch Täterwissen preis.

Nun hatten sie die Wahl, sich in einem Deal mit der Staatsanwaltschaft schuldig zu bekennen und freigelassen zu werden, oder einem Wiederaufnahmeverfahren entgegenzusehen, das wohl ab Dezember hätte anlaufen können. Sie haben sich nun für den Deal entschieden, aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Rechtssystem wohl nur sehr nachvollziehbar.

Ich habe mit diesem Deal so meine Probleme, denn es geht dabei nicht um die Wahrheit. Nicht nur werden sie Zeit ihres Lebens für die einen als Mörder, für die anderen als Opfer eines Justizskandals gelten, mit Mitte 30 ohne ernsthafte berufliche Perspektive und vorbestraft auf der Straße stehen und selbst bei später erwiesener Unschuld keine Möglichkeit haben, den Staat wegen ihrer Zeit in Haft zu verklagen (sie haben sich ja schuldig bekannt!). Sondern die Wahrheit wird auch nie ans Licht kommen, das Verbrechen wird de facto ungeklärt bleiben, obwohl es juristisch abgeschlossen scheint. Im schlimmsten Fall wird der wahre Täter ungestraft davonkommen. Zumindest in dieser Welt.

Immer wieder fällt mir bei meinen nicht-kirchlichen Aktivitäten auf, wie stark sich andere mit ihren Hobbys identifizieren, wieviel Zeit sie in diese stecken und welche Bedeutung sie für ihre Sozialkontakte haben, sei es Sport, sei es Musik, seien es Rollenspiele, Computer, Internet oder whatever. Ich hätte da nie soviel Zeit reinstecken können, und wunderte mich, wie das überhaupt gehen soll. Als Antwort hatte ich mir zurechtgelegt, daß ich ja stattdessen soviel Zeit in die kirchlichen Aktivitäten steckte.

Mit der Entdeckung der „Mysteria ecclesiae germanicae“ ist diese Deutung allerdings in sich zusammengebrochen: Es gibt parallele Strukturen in der Kirche, in die andere soviel Zeit stecken wie meine Bekannten in ihre nicht-kirchlichen Hobbys, ich jedoch nicht. Da stellte sich mir dann wieder die Frage: Wie machen die das?! Die Antwort ist ebenso banal wie erschreckend: Die haben offenbar keine außerkirchlichen Kontakte.

Umso mehr scheint das sogar für hauptamtliche Mitarbeiter der Kirche (auch die Laien) zu gelten, die nicht einmal beruflich aus dieser Parallelwelt herauskommen. Im Gegenteil, die innere Logik und Dynamik des hauptamtlichen Kirchenbetriebs zieht einen geradezu da rein, wenn man nicht aufpaßt.

Von da aus ist es nicht mehr weit zur Heuchelei: Es geht um das Überleben im System, nicht um das Wachsen im Glauben, um die Verkündigung des Reiches Gottes, um die Mission. Dementsprechend ist es zwar wichtig, fromme Reden im Mund zu führen, aber nicht ihnen zu entsprechen.

Das muß natürlich nicht die Folge sein, und viele würden sich wohl zu Recht gegen den Vorwurf der Heuchelei verwehren. Allerdings sind mir tatsächlich einige Leute über den Weg gelaufen, die großes Heuchelpotential hatten (und es auch nutzten). Sie hatten ihre Ausbildung offenbar gut verinnerlicht — sie wußten, wie man mit Leuten umgehen „muß“, wie man sich ihnen gegenüber verhalten „muß“, und sie haben das erlernte Programm auch ständig umgesetzt. Nur fehlte es ihnen — zwangsläufig — an der nötigen Authentizität. Wenn sich immer wieder Worte und Verhalten im persönlichen Kontakt auf der einen Seite und Entscheidungen und Organisationshandeln auf der anderen Seite widersprechen, dann gilt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. (Klinge ich eigentlich schon nach Memorandum?!)

Am meisten hat mich allerdings sprachlos gemacht, daß Kritik an entsprechender Inkonsistenz auch noch die Rechtfertigung (und eben keine Verteidigung gegen den Vorwurf!) kam: „So ist die Welt eben.“ Wohlgemerkt von Leuten, die nach eigener Auskunft keinerlei Verankerung in einem Milieu außerhalb der Kirche haben, die also überhaupt nicht wissen, wie es „da draußen“ zugeht. Ganz davon abgesehen, daß es bei uns aber nicht so sein soll…