Gestern hat Ursula von der Leyen einen Artikel in der FAZ veröffentlicht: „Christian Wulff ist staatsklug“. Eigentlich habe ich den Artikel nur gelesen, um zu verstehen, was sie eigentlich mit „staatsklug“ meint. Dann hat es mich aber umgehauen, daß — ob beabsichtigt oder nicht — der Artikel sich wie eine Abrechnung mit Horst Köhler liest, der eben nicht „staatsklug“ war:
Der unerwartete Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler hat mich sehr berührt. In den Medien und der Politik hat er wenig Verständnis für seine Entscheidung gefunden – ganz anders als bei vielen Menschen, die in seinem Verhalten ihre eigene Enttäuschung über vieles im Land erkennen. Horst Köhler war damit in seinem Rücktritt auf geradezu paradoxe Weise der erste Bürger unseres Staates.
Der nächste Bundespräsident muss die Gefühlslage der Menschen kennen. Er darf ihr aber keine Stoßrichtung geben, die sich gegen unser Gemeinwesen richtet. Er muss vielmehr die Gabe haben, Brücken zu schlagen zwischen den Sorgen der Menschen und den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Hierin lag die Meisterschaft eines Richard von Weizsäcker, eines Roman Herzog und auch eines Johannes Rau. Bei allen Unterschieden im Stil und in den Botschaften ist es ihnen immer wieder gelungen, Vermittler zu sein zwischen Bürgern und unserem Staat.
Daraus schließe ich: Horst Köhler kannte die Gefühlslage der Menschen, hat ihr aber im Gegensatz zu seinen drei Vorgängern eine Stoßrichtung gegeben, sie sich gegen unser Gemeinwesen richtete. Er hat keine Brücken geschlagen zwischen den Sorgen der Menschen und den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Mit anderen Worten: Von der Leyen suggeriert, Horst Köhler sei ein unverantwortlicher, verfassungsfeindlicher Demagoge gewesen, der eine Gefahr für unser Gemeinwesen darstellte. Wenn ich dann weiterlese:
Es geht nicht darum, die tatsächlichen und scheinbaren Widersprüche der Parteiendemokratie zu übertünchen; auch nicht darum, sie zu übertreiben. Wer das höchste Amt im Staat innehat, sollte beharrlich seine Kraft dafür einsetzen, Widersprüche und Entfremdungen zwischen Bürger und Staat aufzulösen. Diese Fähigkeit müsste in der unveröffentlichten Stellenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten ganz oben stehen. Ich finde es bezeichnend, dass die Persönlichkeiten, die nach meiner Wahrnehmung das Präsidentenamt am meisten prägten, langjährige Erfahrung im politischen Gestalten, aber auch im praktischen Umsetzen von Politik mit ins Amt brachten. Der Bundespräsident soll ein ganzes Land ohne legislative und exekutive Gewalt führen; gerade deshalb muss er mit dem Wesen politischer Prozesse vertraut sein.
[…]
Der neue Bundespräsident muss nicht nur die Größe dieser Aufgabe erkennen. Er muss auch das weit gesteckte Feld überblicken zwischen den Erwartungen der Bürger und den Mechanismen des Staates, die häufig nach außen so unverstanden wie nach innen unverzichtbar sind. Nur ein echter Vermittler kann den Wandlungsprozess – durchaus mit kritischer Distanz – integrierend und moderierend stärken.“
dann frage ich mich doch ernsthaft, wer hier die Gefahr für unser Gemeinwesen ist! Denn was ich da lese, heißt doch nichts anderes als: Der Bundespräsident ist dazu da, den plöhden Purschen[tm] zu erklären, daß die Politik es richtig macht, obwohl sie selbst nicht in der Lage ist, das den Bürgern zu erklären. Oder anders gesagt: Der Bundespräsident muß zwar die Gefühlslage der Menschen kennen, aber die ist per Definition falsch, denn das dumme Stimmvieh versteht einfach nicht, wie Politik funktioniert.
Auf die Idee, daß dann vielleicht auch die Politik falsch funktionieren könnte, kommt Frau Von der Leyen nicht einmal im Ansatz. Es sind die Wähler, die falsch funktionieren, und deshalb muß auch der Bundespräsident aus dem Politikbetrieb kommen, denn sonst könnte er womöglich — wie Köhler? — ein für die Politiker unbequemer Bundespräsident sein, der sich nicht vor ihren Karren spannen läßt.
Wenn ich jetzt mit der Kenntnis dieser Passagen nochmal die erste zitiert lese, bleibe ich plötzlich am letzten Satz hängen: Bei allen Unterschieden im Stil und in den Botschaften ist es ihnen [den Vorgängern Köhlers] immer wieder gelungen, Vermittler zu sein zwischen Bürgern und unserem Staat, und frage mich: Wer ist dieses „wir“, dem der Staat „gehört“? Wären es die Bürger, bräuchte nicht zwischen ihnen und ihrem Staat vermittelt werden, dann müßte vielleicht zwischen ihnen selbst vermittelt werden, etwa zwischen den Bürgern, die nur wählen, und jenen, die andere Bürger repräsentativ vertreten (sollen); aber der Staat, das wären wir. Nein, dieser Satz konstruiert eine Differenz zwischen „Bürgern“ und „unserem Staat“, die nur heißen kann: Der Staat gehört uns, den Politikern. Genau gegen dieses Selbstverständnis war der als dienender Beamter groß gewordene Horst Köhler der richtige Bundespräsident. In dieser Hinsicht hat der unerwartete Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler auch mich sehr berührt.
Nachbemerkung: Nicht, daß wir uns falsch verstehen, ich habe nichts gegen Wulff und würde ihn tatsächlich lieber als Bundespräsidenten sehen als Gauck. Aber dieser Artikel von Frau von der Leyen ist nun ein echtes Danaergeschenk.