Gesellschaft

Leute, die noch am alten Glauben festhielten, fürchteten die einzigen zu sein, die ihm noch treu blieben, und da sie die Absonderung mehr als den Irrthum fürchteten, so gesellten sie sich zu der Menge, ohne wie diese zu denken. Was nur die Ansicht eines Theiles des Nation noch war, schien auf solche Weise die Meinung Aller zu sein und dünkte eben deßhalb diejenigen unwiderstehlich, die ihr diesen trügerischen Anschein gaben.

Alexis de Tocqueville 1856 über den Niedergang der katholischen Kirche im vorrevolutionären Frankreich.

Allerdings frage ich mich, ob ich da so anders bin. Klar, mein Selbstverständnis ist natürlich, der Wahrheit anzuhängen und gelegen oder ungelegen dieselbe zu verkünden. Aber ist das vielleicht auch bloß Selbstbetrug? Bin ich vielleicht nur der Meinung, der eher konservativen Auslegung des Glaubens gehöre die Zukunft? Dieser Auffassung bin ich ja tatsächlich, auch wenn ich sie eher damit begründe, daß der Wahrheit die Zukunft gehört und die moderne Auslegung des Glaubens in große Irrtümer geführt hat. Diese Irrtümer begründe ich aber als Irrtümer auch „bloß“ damit, daß sie einfach nicht dazu geeignet sind, reale Erfahrungen stimmig zu erklären, während der Katechismus oder noch deutlicher der römische Katechismus aus den 30er und der Grundriß der Theologie von Ott ganz simple, aber plausible Deutungen anbieten, obwohl die genannten Erfahrungen zur Entstehungszeit der Bücher eigentlich noch nicht dieselben gewesen sein dürften.

Oder doch? Bin ich also einfach bloß ein total nonkonformistischer Mitläufer??? Jedenfalls teile ich die Auffassungen, die in meiner privaten Umgebung vertreten werden. Andererseits habe ich mir ja diese Umgebung auch (aus)gesucht, weil dort meine Auffassungen geteilt werden. Was aber wäre, wenn ich nicht auf Leute getroffen wäre, die meine Intuitionen in Worte fassen konnten? Was wäre, wenn ich nicht die Blogoezese entdeckt hätte, die ja doch recht eindeutig in eine Richtung tendiert (zumindest die Bekloppten und Konvertiten)? Was wäre, wenn ich nie aus meiner Heimatpfarrei rausgekommen wäre und mich immer noch gegen eine starke 70er-Jahre-Fraktion behaupten müßte?

Wie dem auch immer sei: Der Wunsch nach Anerkennung durch andere Menschen steckt schon irgendwie tief in mir drin. Und auch, wenn ich in der Lage bin, mich gegen Menschen zu behaupten, die nicht gerade meinen Alltag prägen, so wüßte ich doch nicht, wie ich, vor allem auf Dauer, reagieren würde, wenn meine Frau plötzlich voll von der Alt-68er-Ideologie infiziert wäre…

…um zu beweisen, daß ich kein Konvertit bin:

Anmerkung: Der Beitrag ist eigentlich nicht so abstrus, wie mein Label es behauptet. Er zeigt vielmehr, daß tatsächlich die dem Text angemessene/entsprechende Musik das Problem ist, wenn ein solcher Text als „Lounge Music“ problemlos übers landesweite Fernsehen geht und die Leute sogar noch drüber lachen… Aber es gibt ja keine Heuchelei und Verdrängung des Bösen in der Gesellschaft…

Ich kann’s nicht mehr hören! Aller Orten (exemplarisch hier und hier) wird über die Wahl von Wulff lamentiert. Vorausgesetzt, da stecken tatsächlich ernsthafte Argumente hinter und nicht nur die wohlfeile Pflege der eigenen allgemeinen Politikverdrossenheit, sei an ein ganz gewichtiges Faktum erinnert: 1999 hat Gauck selbst seine Nominierung durch die CSU abgelehnt. Wahrscheinlich wegen mangelnder Wahlaussichten. Stattdessen hat er sich jetzt von rot-grün zum Affen machen lassen. Hätte rot-grün eine ernsthafte Chance gesehen, einen eigenen Kandidaten zum Bundespräsidenten zu wählen, hätten sie ganz sicher nicht Gauck aufgestellt. Oder anders formuliert: Diese Wahl ist nicht mehr und nicht weniger (tages-)politisch bestimmt gewesen als alle anderen vorher. Das Amt mag einen überparteilichen Anspruch haben, die Wahl in dieses Amt war es nie.

Ob Wulff der beste möglich Kandidat war, sei einmal dahingestellt, mir fällt jedenfalls kaum ein politisch durchsetzbarer besserer ein. Worin ist denn Gauck bitte besser? Weil er jahrelang eine nach ihm benannte Behörde geleitet hat? Weil ihn „das Volk“ sympathischer findet? Weil Gauck kantiger daherkommt als Wulff? Also ich habe genug von Ersatzvaterfiguren in der Politik…

Es mag ja in mehr oder weniger bürgerlichen Kreisen populärer sein, sich gegen die DDR-Vergessenheit zu stellen, Wulff hingegen ist einer der wirklich wenigen Politiker, die sich mit aktuell geltendem politisch gewolltem Unrecht auseinandersetzen, nämlich der willkürlichen Nicht-Revision der Enteignungen in der SBZ vor Gründung der DDR im Zuge der Wiedervereinigung. Im Gegensatz zur Erinnerung an DDR-Unrecht würde das, wenn breit diskutiert, viel mehr Politikern, noch dazu im eigenen „Lager“, weh tun. Nein, Wulff mag zwar als der liebste aller möglichen stromlinienförmigen Schwiegersöhne erscheinen, dahinter steckt aber ein mindestens ebenso kantiger Politiker wie Gauck sich öffentlich präsentiert.

Gestern hat Ursula von der Leyen einen Artikel in der FAZ veröffentlicht: „Christian Wulff ist staatsklug“. Eigentlich habe ich den Artikel nur gelesen, um zu verstehen, was sie eigentlich mit „staatsklug“ meint. Dann hat es mich aber umgehauen, daß — ob beabsichtigt oder nicht — der Artikel sich wie eine Abrechnung mit Horst Köhler liest, der eben nicht „staatsklug“ war:

Der unerwartete Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler hat mich sehr berührt. In den Medien und der Politik hat er wenig Verständnis für seine Entscheidung gefunden – ganz anders als bei vielen Menschen, die in seinem Verhalten ihre eigene Enttäuschung über vieles im Land erkennen. Horst Köhler war damit in seinem Rücktritt auf geradezu paradoxe Weise der erste Bürger unseres Staates.

Der nächste Bundespräsident muss die Gefühlslage der Menschen kennen. Er darf ihr aber keine Stoßrichtung geben, die sich gegen unser Gemeinwesen richtet. Er muss vielmehr die Gabe haben, Brücken zu schlagen zwischen den Sorgen der Menschen und den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Hierin lag die Meisterschaft eines Richard von Weizsäcker, eines Roman Herzog und auch eines Johannes Rau. Bei allen Unterschieden im Stil und in den Botschaften ist es ihnen immer wieder gelungen, Vermittler zu sein zwischen Bürgern und unserem Staat.

Daraus schließe ich: Horst Köhler kannte die Gefühlslage der Menschen, hat ihr aber im Gegensatz zu seinen drei Vorgängern eine Stoßrichtung gegeben, sie sich gegen unser Gemeinwesen richtete. Er hat keine Brücken geschlagen zwischen den Sorgen der Menschen und den Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Mit anderen Worten: Von der Leyen suggeriert, Horst Köhler sei ein unverantwortlicher, verfassungsfeindlicher Demagoge gewesen, der eine Gefahr für unser Gemeinwesen darstellte. Wenn ich dann weiterlese:

Es geht nicht darum, die tatsächlichen und scheinbaren Widersprüche der Parteiendemokratie zu übertünchen; auch nicht darum, sie zu übertreiben. Wer das höchste Amt im Staat innehat, sollte beharrlich seine Kraft dafür einsetzen, Widersprüche und Entfremdungen zwischen Bürger und Staat aufzulösen. Diese Fähigkeit müsste in der unveröffentlichten Stellenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten ganz oben stehen. Ich finde es bezeichnend, dass die Persönlichkeiten, die nach meiner Wahrnehmung das Präsidentenamt am meisten prägten, langjährige Erfahrung im politischen Gestalten, aber auch im praktischen Umsetzen von Politik mit ins Amt brachten. Der Bundespräsident soll ein ganzes Land ohne legislative und exekutive Gewalt führen; gerade deshalb muss er mit dem Wesen politischer Prozesse vertraut sein.

[…]

Der neue Bundespräsident muss nicht nur die Größe dieser Aufgabe erkennen. Er muss auch das weit gesteckte Feld überblicken zwischen den Erwartungen der Bürger und den Mechanismen des Staates, die häufig nach außen so unverstanden wie nach innen unverzichtbar sind. Nur ein echter Vermittler kann den Wandlungsprozess – durchaus mit kritischer Distanz – integrierend und moderierend stärken.“

dann frage ich mich doch ernsthaft, wer hier die Gefahr für unser Gemeinwesen ist! Denn was ich da lese, heißt doch nichts anderes als: Der Bundespräsident ist dazu da, den plöhden Purschen[tm] zu erklären, daß die Politik es richtig macht, obwohl sie selbst nicht in der Lage ist, das den Bürgern zu erklären. Oder anders gesagt: Der Bundespräsident muß zwar die Gefühlslage der Menschen kennen, aber die ist per Definition falsch, denn das dumme Stimmvieh versteht einfach nicht, wie Politik funktioniert.

Auf die Idee, daß dann vielleicht auch die Politik falsch funktionieren könnte, kommt Frau Von der Leyen nicht einmal im Ansatz. Es sind die Wähler, die falsch funktionieren, und deshalb muß auch der Bundespräsident aus dem Politikbetrieb kommen, denn sonst könnte er womöglich — wie Köhler? — ein für die Politiker unbequemer Bundespräsident sein, der sich nicht vor ihren Karren spannen läßt.

Wenn ich jetzt mit der Kenntnis dieser Passagen nochmal die erste zitiert lese, bleibe ich plötzlich am letzten Satz hängen: Bei allen Unterschieden im Stil und in den Botschaften ist es ihnen [den Vorgängern Köhlers] immer wieder gelungen, Vermittler zu sein zwischen Bürgern und unserem Staat, und frage mich: Wer ist dieses „wir“, dem der Staat „gehört“? Wären es die Bürger, bräuchte nicht zwischen ihnen und ihrem Staat vermittelt werden, dann müßte vielleicht zwischen ihnen selbst vermittelt werden, etwa zwischen den Bürgern, die nur wählen, und jenen, die andere Bürger repräsentativ vertreten (sollen); aber der Staat, das wären wir. Nein, dieser Satz konstruiert eine Differenz zwischen „Bürgern“ und „unserem Staat“, die nur heißen kann: Der Staat gehört uns, den Politikern. Genau gegen dieses Selbstverständnis war der als dienender Beamter groß gewordene Horst Köhler der richtige Bundespräsident. In dieser Hinsicht hat der unerwartete Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler auch mich sehr berührt.

Nachbemerkung: Nicht, daß wir uns falsch verstehen, ich habe nichts gegen Wulff und würde ihn tatsächlich lieber als Bundespräsidenten sehen als Gauck. Aber dieser Artikel von Frau von der Leyen ist nun ein echtes Danaergeschenk.

Mal ganz ehrlich, bis jetzt erschien mir Pfr. Rapp als der Vernünftige im Führungstrio des BDKJ, und daß er seinen Verband gegen die Wehrpflicht positioniert, möchte ich ihm auch gar nicht verbieten, auch wenn ich froh bin, selbst „durch den Schlamm gerobbt“ zu sein. Aber das Argument, die Wehrpflicht sei „eine Einschränkung des vom Grundgesetz garantierten persönlichen Freiheitsrechts, die nur im Bedrohungsfall zu vertreten sei“, ist so ziemlich das bekloppteste, die ich je gehört habe. Und was soll das bitte bedeuten, „dass die Bundesrepublik seit Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr direkt bedroht und die Verteidigungsfähigkeit trotzdem gegeben sei“? In welcher Weise ist das ein Argument gegen die ja immer noch bestehende Wehrpflicht, ganz davon abgesehen, daß ich nicht glaube, daß Deutschland im V-Fall gegen wen auch immer (außer vielleicht Liechtenstein) wirklich verteidigungsfähig wäre?

Wer definiert denn bitte, wann ein Bedrohungsfall gegeben ist? Klar, im Kalten Krieg ging das leicht, aber der hieß ja nicht umsonst Kalter Krieg. Wann ist denn nun also unter den veränderten Gegebenheiten, in denen vom klassischen, in der Regel formal erklärten Krieg zwischen Staaten eigentlich nichts mehr übrig geblieben ist, ein solcher Bedrohungsfall gegeben?

Natürlich kann man darüber nachdenken, angesichts der veränderten Weltsicherheitslage die Bundeswehr komplett umzubauen, was wahrscheinlich eine Unmöglichkeit der Wehrpflicht nach sich zöge, und vielleicht wäre das sogar sinnvoll. Aber mit Freiheitsrechten hat das ja nun überhaupt gar nichts zu tun. *kopfschüttel*

Heute habe ich (allerdings nur aus dritter Hand) von einem Mann berichtet bekommen, der seine pädophilen Neigungen nicht ausleben wollte, aber keine Hilfe fand (das ganze soll schon vor Jahrzehnten passiert sein). Das krasseste war, daß er von einer psychiatrischen Klinik mit dem Kommentar abgewiesen worden sein soll: „Sie müssen erst straffällig werden, dann können wir Ihnen helfen.“

Gut, bei solchen Geschichten muß man immer auch vorsichtig sein, gerade wenn sie dem Mann der Putzfrau der Freundin der Schwiegermutter meines Taxifahrers widerfahren sein soll. Aber ich habe mich angesichts der ausführlichen Berichterstattung zu dem Thema gefragt: Wohin würde heute dieser Mann gehen und auf Hilfe hoffen können? In der jüngeren Berichterstattung habe ich davon ehrlichgesagt nichts gehört, aber ich konnte mich an einen älteren Bericht erinnern über ein Forschungsprojekt, das ich nun auch wiedergefunden habe.

Auf dem Hintergrund der obigen Geschichte frage ich mich aber, ob ich aus der Werbung mit „Kostenlose Beratung und Therapie für pädophile Männer“ schließen muß, daß Krankenkassen eine solche Beratung und Therapie normalerweise nicht bezahlen würden? Oder heißt das gar, daß es so eine Beratung und Therapie bisher gar nicht gibt???

Wenn mir in den letzten Wochen eins klar geworden ist: Die Kirche ist nicht das kleine Schifflein Petri, sie ist ein schwerfälliger Supertanker. Nicht daß ich Sorge um die Kirche hätte, denn das sind wir ja alle, aber in der Öffentlichkeitsarbeit kann doch die (Amts-)Kirche fast nur ein schlechtes Bild machen. Was auch immer von ihr gesagt wird, die Presse ist der Igel, der schon immer dort ist. Und würde sie mehr aktive Pressearbeit machen, ja wäre sie damit sogar erfolgreich, dann hieße es: Manipulation, Unterdrückung, Machtmißbrauch. Ganz davon abgesehen, daß Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität sich nicht „verkaufen“ lassen.

Unsere Botschaft steht nun einmal quer zu den Mechanismen, nach denen die Gesellschaft in immer weiteren Teilen funktioniert. Auch wer noch so gut weiß, wie der Hase (ähem, in meinem obigen Bild: der Igel, also die Presse, aber auch die Politik) läuft, dürfte sich mit den Themen, die die Kirche setzen müßte, gar nicht durchsetzen können. Zumal Politiker und Journalisten ja nun nicht gerade zu den angesehensten Personen in unserer Gesellschaft zählen… Was wir brauchen, sind keine super-kommunikativ-operativen PR-Manager, was wir brauchen sind Zeugen.