„Satanischer Krach“ — ist das ein Urteil über die Musik oder die Texte? Ich mach’s mal kurz: In fast allen Publikationen werden solche und ähnliche Urteile allein über die Texte sowie mitunter die Biographie der Musiker begründet. Das ärgert mich, weil es nicht nur völlig unangemessen ist, eine Musikkultur allein über ihre Texte zu beurteilen, die in vielen Fällen nicht einmal zu verstehen sind, sondern es auch in den innermetallischen Diskursen zunächst einmal um die Musik geht. Die Texte sind zwar nicht völlig unwichtig und beliebig, aber doch sekundär; sie müssen zur Musik passen.
Es gibt nur ein paar wenige Autoren, die sich in ihrer Kritik auf eine ekstatische und enthemmende Wirkung der Musik auf die Hörer berufen, aber nur einen einzigen Autor, der argumentiert und begründet, warum die Musik so wirkt und was das Problematische daran ist. Und das ist kein geringerer als — Joseph Ratzinger. Er macht aber ausdrücklich eine Voraussetzung, die nicht aus der Musik selbst stammt: den Willen der Zuhörer zur Ekstase und das dadurch angestrebte Ziel einer Identitätsauflösung. D.h. die Musik wirkt nicht automatisch ekstatisch, sondern weil die Hörer sie zum Zweck der Ekstatisierung hören. Konsequenterweise beschränkt sich Joseph Ratzinger auch nicht auf den „satanischen Krach“, der bei ihm allenfalls am Rande eine Rolle spielt, sondern verwirft (indirekt) jede Unterscheidung zwischen „bösem Metal“ und „gutem Rock & Pop“. Der Vorwurf, im moralischen Sinne schlechte Musik zu sein, trifft bei ihm die Rock- und Popmusik als ganze (wobei man korrekterweise natürlich einschränken muß: es geht, wie in allen moralischen Fragen, nicht um ein moralisches Urteil über die Musik an sich, sondern um den Umgang von zum moralischen Urteil befähigten Subjekten mit ihr). Dabei ebnet er auch nicht die musikalischen Unterschiede ein; die Wirkung von Rock und Pop unterscheide sich durchaus im Detail, aber das angestrebte Ziel bleibe dasselbe.
Diese Kritik war die einzige, die mir ernsthaft (und über Monate hinweg) zu knabbern gegeben hat. Denn die Argumentation ist nicht nur aus sich selbst heraus schlüssig, sondern wird — man höre und staune — zumindest in Bezug auf die Popmusik von Metallern nicht gerade rundheraus abgelehnt. Die Sprache ist eine andere, der Kritikpunkt — Musik nicht für das Volk, sondern für die [dumpfe] Masse, Auflösen von Individualität durch Vermassung — ist derselbe. Wissenschaftlich etwas schwierig wird die Sache aber dadurch, daß Jospeh Ratzinger an keiner der drei Stellen, an denen ich die angerissene Argumentation gefunden habe, sie durch Verweise, Zitate oder andere Belegstellen untermauert, und die Kernargumentation nirgendwo länger als anderthalb bis zwei Seiten ausmacht, aber durchaus eine gewisse Komplexität aufweist.
Um ein große Frage in möglichst blogkonformer Länge zu halten: Ich vermute hier einen Bezug auf Elias Canettis „Masse und Macht“, was die Sache wiederum nicht einfacher macht, da Bettina Roccor und Deena Weinstein in ihren Monographien über Metal Elias Canetti weitgehend zustimmend auf den Metal anwenden. Ich könnte jetzt viel über die kleinen, aber folgenreichen Verschiebungen zwischen Canettis und Ratzingers Argumentation schreiben (was ich in meiner Diss auch tue), das würde allerdings nichts daran ändern, daß die Kritik durch diese Verschiebungen zwar ein wenig die Berechtigung, sich auf Elias Canetti zu berufen, verliert, Ratzinger aber sich nicht nur nicht auf Canetti beruft, sondern gerade durch seine Verschiebungen die Kritik erst theologisch wirklich schlüssig wird.
Letzlich muß die Frage hier (zunächst?) offenbleiben. Wesentlich bleibt es Kritik am Willen zur Ekstase. Um aber herauszufinden, ob dieser in einer bestimmen Musikkultur (mehrheitlich) vorliegt, dafür geben weder Canetti noch Ratzinger ein Instrumentarium an die Hand. Dagegen sprechen beim Metal der hohe Stellenwert der Individualität sowie „metallische“ Argumentationen gegenüber der Popmusik, die der Ratzingers sehr nahe kommen. Doch es gibt auch Äußerungen, die Ratzingers Kritik bis ins Detail zu bestätigen scheinen (wobei ich eingestehen muß, daß mich deren Existenz durchaus überrascht hat). Es wäre zwar merkwürdig, aber nicht undenkbar, würde der Metal auf Konzerten ausgerechnet die Individualität aufzulösen trachten, die er ansonsten als Wert vertritt. Möglicherweise bemerken aber die starken Individualisten im Metal einfach nur nicht, wie unindividualistisch sie eigentlich sind, weil sie sich nur andere Regeln vorgeben lassen als der Durchschnittsmensch.
Jetzt bin ich von meiner eigentlichen Absicht, von der Musik selbst zu schreiben, ein paar Kapitel abgekommen und werde das auf den nächsten Post verschieben müssen. Bevor mir aber jemand vorwirft, Moment!, da gibt’s doch noch ganz gefährliche Dinge wie Rückwärtsbotschaften oder die satanischen Tritonus, werde ich auch dazu noch kurz etwas anfügen. Beides kommt in meiner Diss nur als Exkurs zur Sprache, was damit zu tun hat, daß sich zwar die Vorurteile gut in der entsprechenden Traktätchenszene halten, sie aber in keiner Weise auch nur ansatzweise wissenschaftlich anschlußfähig sind:
- Die Theorie hinter den „satanischen Rückwärtsbotschaften“, die leider meist hinter der Frage zurückstehen muß, ob es solche Botschaften überhaupt gibt (ja, es gibt sie), weist einen ganz eklatanten Mangel (neben vielen kleineren) auf. Sie setzt nämlich ein weder psychologisch noch neurologisch anschlußfähiges Bild des Gehirns und seiner Wirkweise auf, nämlich als eine Art Computer. Dieser sei in der Lage, unbewußt gehörte Rückwärtsbotschaften umzukehren und ihre Inhalte unter Umgehung des Bewußtseins verhaltensbestimmend werden zu lassen. Das ist, soweit die Theorie überhaupt empirisch überprüfbar ist, sogar widerlegt. Seit mittlerweile 26 Jahren.
- Dem Verständnis des Tritonus als „satanisches Intervall“, das womöglich sogar ungewollt den Teufel beschwören und den Beschwörenden in seine Gewalt bringen könne, liegt schlicht ein historisches Mißverständnis zugrunde. Diese Vorstellung ist erst seit dem 18. Jahrhundert nachgewiesen (und zunächst auf Italien beschränkt), während die Meidung der übermäßigen Quarte bis ins frühe Mittelalter zurückgeht (belegt ab dem 9. Jh., was übrigens nicht heißt, daß der Tritonus nicht vorgekommen wäre). Die übemäßige Quarte, ein Intervall von drei Ganztönen (Tri-tonus) war schlicht ungewöhnlich, unüblich, entsprechend schwer zu singen und brachte einiges an Hilfsmitteln beim Gesang (siehe Hexachordsystem) durcheinander. Vermutlich von hier aus entwickelte sich die Bezeichnung diabolus in musica — Durcheinanderwerfer in der Musik. In Unkenntnis des Ursprungs brauchte im 18. Jahrhundert der „diabolus in musica“ aber eine neue Erklärung…
Anzumerken wäre noch, daß der Tritonus heutzutage (und schon im genannten 18. Jh.) alles andere als ungewöhnlich ist (war), ist er doch gleich doppelter Bestandteil jedes Dominantseptakkords. Vor allem aufgrund seiner „teuflischen“ Bezeichnung und der ihm innewohnenden Spannung wurde er ab dem Barock als musikalisches Symbol für besondere Gefahren verwendet. Erst ab dieser Zeit kam überhaupt die Vorstellung auf, der Teufel hätte mit diesem Intervall mehr zu tun als nur seinen Namen dafür herzugeben. Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatte er diese Funktion im hochkulturellen Musikbetrieb jenseits seiner historischen Bedeutung längst verloren. Nicht einmal in die populäre Musik wurde er erst von Black Sabbath, die als zweites Intervall im ersten Song auf dem ersten Album und damit quasi in der Geburtsstunde des Metals gleich einen Tritonus verwendeten, eingeführt, das war bereits im Jazz erfolgt. Black Sabbath verwendeten ihn im Gegensatz zum Jazz jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach genau in der klassischen Bedeutung als Symbol für besondere Gefahr, wie sie sich im Liedtext beschrieben findet:
Du schreibst, die Meidung der übermäßigen Quarte gehe bis ins frühe Mittelalter (9. Jhd.) zurück. (Was ist mit der verminderten Quinte?) Wie kommst du zu der Zeitangabe? Mus. Ench.? Heißt das, vorher sei sie deiner Auffassung nach nicht gemieden worden? Was schreiben denn die ollen Griechen dazu? In welchen europ. Musiktraditionen taucht er denn auf (und in welchen Kontexten)?
Du schreibst, der Tritonus sei »schlicht ungewöhnlich, unüblich« und »schwer zu singen« gewesen. Zu fragen wäre aber doch, warum er unüblich gewesen. Unübliche Intervalle gibt es auch andere, aber z. B. der Microl. verwendet wohl kaum auf etwas so viel Mühe, wie auf die Ausmerzung des Tritonus. Und Guido gerät ja auch gerade dabei in so große Bedrouille und kommt zu seiner missglückten Grenztonlehre.
Schließlich könnte man noch anmerken, dass der einen Tritonus (verm. Quint, nicht überm. Quart) enthaltende Dominantseptakkord immer einer Auflösung bedarf, also immer in einen stabilen Zustand überführt werden muss. Das heißt, um seine Bedeutung zu erfassen, genügt es nicht, nur zu konstatieren, ah, hier und hier und da auch kommt ein Tritonus vor, sondern seine Stellung im Stück und die weitere Progression müssten schon mit betrachtet werden.
(Was meint du damit, dass der Tritonus im D7 »gleich doppelter Bestandteil« sei?)
(Mit grundsätzlichen Anmerkungen und Einwänden warte ich erstmal ab, bis die Serie weiter ausgebreitet ist.)
Bin, bevor ich fromm wurde und später ebenso ein eifriger Hörer und Produzierer ziemlich harter Rockmusik gewesen. In der Frommwerdphase kam es auch bei mir zu der von Dir angedeuteten allgemeinen Verunsicherung. Hab die Sache dann einigermaßen für mich klären können und weiter sowohl Musi gemacht, als auch nach Herzenslust, nicht nach intellektueller Abwägung, gehört. Wahrscheinlich gibt es gar wenige Sataniker, die sich in perverser Extase Ernst Mosch reintun. 😉
Wie immer auch, mir gibt der mittelalterliche Thomas die intelligentesten Antworten, auch in diesen Fragen. Aber meine Frage wäre: Krieg ich die Diss?
@ultramontanus: Es geht mir um die Interpretation der Bezeichnung "diabolus in musica" als Beschwörungsintervall, die es erst seit dem 18. Jh. gibt, während die Meidung des Tritonus sehr viel älter ist. Mit dem 9. Jh. bin ich da auf der sicheren Seite (denn zwischen dem 9. und 16. Jh. ist sie breit belegt), was nicht ausschließt, daß es die Meidung schon vorher gab. Allerdings trifft man im ambrosianischen Choral wohl tatsächlich häufiger (wenn auch nicht gerade regelmäßig) auf Tritonus als im gregorianischen.
Warum er unüblich war, hat mit den Hexachorden zu tun, ich vermutete allerdings eher geringeres Interesse an solche Details (außerdem sprengte das hier den Rahmen). Ein Hexachord besteht aus zwei Ganztonschritten, einem Halbtonschritt und noch einmal zwei Ganztonschritten, schließt also drei Ganztonschritte eigentlich systematisch aus. Beim Wechsel zwischen Hexachorden kann es aber unter Umständen ("mi contra fa…") doch zu einem Drei-Ganztonsprung kommen. Da normalerweise zweieinhalb oder dreieinhalb Töne und nur ausnahmsweise genau drei Töne gesprungen wird, ist es natürlich bedeutend schwieriger, den Tritonus zu singen als die reguläre Quarte oder Quinte. Dieses Intervall wirft also ein System durcheinander, woher eben die Bezeichnung "diabolus", Durcheinanderwerfer, stammen dürfte. Daß dem Intervall aufgrund der ihm innewohnenden Spannung auch nicht so recht ein Platz in der sich als himmlische Musik verstehenden Kirchenmusik eingeräumt wurde, kommt gerade für das Mittelalter noch erschwerend hinzu, ist aber für die Bezeichnung eher nebensächlich.
Was den doppelten Tritonus im Dominantseptakkord angeht: Das war eine glatte Fehlleistung. Da kommt er natürlich nur einmal vor, gedanklich war ich da schon beim verminderten Septakkord, der es dann nicht in die Endfassung des Posts gebracht hat.
Der Einwand bzgl. der Stellung im Stück geht insofern an meiner Argumentation vorbei, als es mir nicht um eine musiktheoretische Untersuchung der Bedeutung des Tritonus im Metal geht, sondern um den Vorwurf, der Tritonus könne evtl. sogar ungewollt den Teufel beschwören. Da reicht es schon, darauf hinzuweisen, daß das dann ja bei jedem Dominantseptakkord der Fall sein müßte, das Argument also nicht (allein) gegen den Metal taugt.
Ich hatte ja nach den konkreten Werken gefragt, aus denen du eine Meidung des Tritonus ableitest.
Die Hexachordlehre stammt, soweit ich weiß, von Guido, Ende des 10. Jhds., Anfang des 11. Jhds. Wieso also 9. Jhd.?
Ich bin durchaus mit dir einer Meinung, dass man die Meidung des Tritonus in Musiktraktaten bereits im 9. Jhd. erweisen kann. Da hat sie aber logischerweise noch nichts mit der Hexachordlehre zu tun.
Interessant wird das Tritonusthema vor allem dann, wenn man nicht die symphonia von nacheinander gesungenen Tönen, sondern die von gleichzeitig erklingenden voces betrachtet. In diesem Zusammenhang tauchen ja die Tritonusvermeidungskonzepte im 9. Jhd. auf.
Noch einmal: Es geht um die Bezeichnung "diabolus in musica" und ihre Deutung, damit werde ein satan(olog)isches Intervall bezeichnet. Diese Deutung ist jedoch nachweislich wesentlich jünger als die Meidung des Tritonus, die ihrerseits älter ist als die Bezeichnung "diabolus in musica". Auch der Merkspruch "Mi contra fa est diabolus in musica" ist erst in der Neuzeit nachgewiesen, es wird aber für denkbar gehalten, daß er auf mündliche Tradition ins Mittelater zurückgeht (mündliche Tradition ist naturgemäß nicht wirklich datierbar). "Mi contra fa" verweist auf das Hexachordsystem, sonst ergäbe der Satz keinen Sinn.
Da ich Theologe und nicht Musikwissenschaftler bin, mußt Du, was die Details und Begründungen angeht, die Leute fragen, die sich mit sowas auskennen und von denen ich das abgeschrieben habe (es gibt allerdings recht wenig spezifische Literatur; das MGG aus den 1990er Jahren hat, im Gegensatz zu der 30 Jahre älteren Ausgabe, nicht einmal mehr einen eigenen Eintrag für den Tritonus):
– Ruhnke, Martin: Intervall. I. Historisch (Theorie bis zum 16. Jahrhundert); in: ²MGG IV (1996), 1069–1080.
– Hammerstein, Reinhold: Diabolus in Musica. Studien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter; Bern/München: Francke, 1974 (hier ist nur die Einleitung interessant, der Rest dreht sich weniger um den Tritonus als um Zuschreibungen bestimmter Instrumente zu metaphysischen Sphären, also eben um Ikonographie).
– Reese, Gustave: Tritonus; in: MGG XIII (1966), 699–712.
– Moser, Hans Joachim: Diabolus in musica; in: Musik in Zeit und Raum. Ausgewählte Abhandlungen; Berlin: Merseburger, 1960, 262–280.
Mein spontaner Einwand zu deiner Aussage "im 9.Jh. könne die Meidung des Tritonus nichts mit der Hexachordlehre zu tun haben" wäre: Eine Lehre setzt, gerade im Mittelalter, eine vorangehende Praxis voraus. Aber wie gesagt: Es geht mir nicht um die Meidung des Tritonus an sich, sondern um seine Bezeichnung als "diabolus in musica" und deren Deutung, man könne mit dem Tritonus den Teufel beschwören.