Die spezifische Funktion eines persönlichen Blogs insbesondere mit der Möglichkeit des Feedbacks bringt uns praktisch zum Kern der ganzen Geschichte: Bloggen hat einen starken privaten Aspekt, erfolgt aber in der Öffentlichkeit. Normalerweise liest man vor allem Gleichgesinnte und wird auch von Gleichgesinnten gelesen. Ein kontroverser öffentlicher Diskurs sieht anders aus — und erfolgt auch woanders. Lange Rede, kurzer Sinn: Meines Erachtens liegt das Mißverständnis von Herrn „Meier“ darin, das Internet im allgemeinen und das Bloggen im besonderen als massenmediale Kommunikation mißzuverstehen, also als weiteres Medium neben Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen (dieses Mißversändnis hat uns ja auch die Sendezeitbeschränkungen im Internet eingebrockt…).
Tatsächlich gibt es diese Funktion des Internets, aber nicht nur haben die klassischen Medien das größte Problem, einen profitablen Internetableger zu schaffen, sondern diese Funktion des Internets ist zudem noch die jüngste in der technischen Entwicklung und eigentlich ein (technisch vorübergehend notwendiger) Irrweg. Daher ist es völliger Unfug, das Internet an massenmedialen Kriterien zu messen. Vielmehr sind die ursprünglichen Vergleichmedien das Telefon und der Brief: Abgesehen vom Datenaustausch (also rein maschineller Kommunikation) beginnt die Geschichte des Internets (nicht zu verwechseln mit dem World Wide Web) mit der E-Mail, die die Vorteile des Telefons (schnelle Erreichbarkeit des Kommunikationspartners) mit denen des Briefes (asynchrone Kommunikation: man ist nicht darauf angewiesen, daß der Kommunikationspartner zur selben Zeit zur Kommunikation bereit ist) kombiniert. Damit ist bereits der vielleicht nicht private, aber doch vertrauliche Ursprung der Kommunikation im Internet angesprochen.
Während jedoch die Telefonkonferenz nie wirklich ihr geschäftliches Habitat verlassen hat, kam es schon recht früh zu halb öffentlichen Kommunikationsarten, von der Mail mit mehrern Empfängern zu technischen „Schwarzen Brettern“ als Empfängern, von denen sich beliebige Interessierte die Nachrichten zu bestimmten Themen abholen konnten — dem Usenet. Hier ist die Geburtsstunde der eigentlichen Besonderheit des Internets und seiner eigentlichen medialen Revolution: Die Ermöglichung einer Kommunikation, die zwischen der 1:1-Kommunikation und der 1:n-Kommunikationsweise der Massenmedien liegt, nämlich der Kommunikation zwischen (theoretisch) beliebig vielen Kommunikationspartnern mit gleich starkem Sende- wie Rückkanal (n:m-Kommunikation; die Bezeichnungen 1:1, 1:n und n:m habe ich der Datenbanktheorie entlehnt, vermutlich gibt es aber ähnliche Überlegungen auch schon in der Kommunikationswissenschaft, würde mich jedenfalls wundern wenn nicht).
Diese Kommunikationsart ist vor dem Internet medial nicht (oder nur eingeschränkt, nämlich durch die genannte Telefonkonferenz) reproduzierbar, aber keineswegs neu, sondern geradezu eine klassische gesellschaftliche Situation: Der Kneipenstammtisch. (Natürlich gibt es auch noch mehr solcher Situationen, vom Spieleabend über den Workshop bis zum Gemeindecafé, oder pastoraler: vom Hauskreis bis zur PGR-Sitzung, aber der Stammtisch kommt irgendwie der Blogoezese näher…) Man trifft sich in geselliger Runde an einem mehr oder weniger öffentlichen Ort (in beiden Fällen, Stammtisch und Blogoezese, gibt es privatwirtschaftliche Anbieter, den Kneipier bzw. Google, WordPress usw., der seinen Raum zur Nutzung anbietet; rechtlich gesehen, handelt es sich nicht um einen öffentlichen Raum, der Anbieter hat hier das Hausrecht, es liegt aber in seinem Interesse, in der Regel niemanden rauszuschmeißen) und unterhält sich über dies und das, was einen gerade interessiert. Man kennt sich untereinander, stellt aber auch nicht zu viele (vor allem keine unangenehmen) Fragen. Manchmal kommen neue Leute dazu, die man erstmal freudig begrüßt, soweit sie sich nicht gleich völlig daneben benehmen, manchmal verabschieden sich welche oder kommen nicht vom Zigarettenholen zurück. Gelegentlich bleibt mal ein Unbeteiligter stehen und hört zu, ohne sich an der Diskussion zu beteiligen. Vielleicht steigt er irgendwann mit ein oder macht in Zukunft einen großen Bogen um diesen angeheiterten Tisch. (Völlig unhöflich hingegen wäre es, wenn jemand käme, die Stammtischler nach ihren Namen und ihren Berufen aushorchte und am nächsten Tag in der Zeitung der Nachbarstadt sich darüber ausließe, was Herr xy aus dem Nachbardorf, angestellt da und dort, angeblich und noch dazu aus dem Zusammenhang gerissen über seinen Chef am Stammtisch gesagt hat. Das würde zurecht als Eindringen in die Privatsphäre verstanden werden, ist aber natürlich rein hypothetisch.)
Mit anderen Worten: Das Bloggen, zumindest das Bloggen im engeren Sinn eines persönlichen, privaten Blogs, ist kein Journalismus, sondern Stammtischgeplänkel. Für die Bildung einer öffentlichen Meinung ist das natürlich nicht zu unterschätzen, gegen die Stammtische zu regieren, dürfte geradezu unmöglich sein. Gerade das Internet bietet darüber hinaus die Möglichkeit, überregionale „Stammtische“ zu schaffen, wofür man früher Vereine gründen mußte, und selbst dann hat man sich nur ein paar mal im Jahr getroffen. Durch das Internet werden solche „Stammtische“ überhaupt erst kampagnenfähig, indem eine leichte Verknüpfung mit anderen Internettools zur Selbstorganisation möglich sind. Der „Normalbetrieb“ der Blogoezese bleibt aber im Kern ein Stammtisch.
Mit anderen Worten: Das große Mißverständnis des Internets ist also, daß es sich dabei um Massenkommunikation nach altem Muster handelte. Vielmehr ist das wirklich Neue und eigentlich spannende am Internet die Schaffung einer medialen Form von n:m-Kommunikation, also einer Kommunikation zwischen vielen Sendern und Empfängern, in der zumindest theoretisch gleich starke Sende- und Rückkanäle existieren. Mit solcher Kommunikation haben sich freilich die klassischen Massenmedien nie wirklich abgegeben und stoßen nun auf eine Realität, die sie bisher arrogant ausgeblendet haben. Der Stammtisch ist geradezu der Inbegriff niveauloser Diskussion, mit der ein gebildeter Mensch nichts zu tun haben will (es wäre allerdings eine ebenso arrogantes Mißverständnis zu glauben, es gäbe keine Stammtischgespräche unter Akademikern…). Allerdings war gerade die Lufthoheit über den Stammtischen die Bastion, mit der sich die CDU in den medial doch sehr links geprägten 70er bis 90er über Wasser gehalten hat, ja sogar gegen einen Großteil der Medien Wahlen gewonnen hat. Insofern ist es richtig, wenn sich Massenmedien durch solche öffentlich wahrnehmbare Stammtische im Internet angegriffen fühlen, denn tatsächlich haben die Stammtische schon immer die Wirkung der Massenmedien begrenzt, und wenn es aus ihrem Kreis genug Leserbriefe gab, die den Journalisten kontra geben, hat sich auch schon das eine oder andere Mal der Wind der veröffentlichten Meinung gedreht. Daher kann die Blogoezese tatsächlich dazu führen, daß bisher im kirchlichen Diskurs weitgehend marginalisierte Meinungen und Perspektiven wieder zu ihrem Recht kommen können.
Doch auch unter den Lesern der Zeitungen dürften die Internetausdrucker (es gibt mittlerweile übrigens noch eine Steigerung: die Internetausdrucker und -wiedereinscanner 🙂 in der Mehrheit sein. Auch ihnen dürfte nicht klar sein, daß das Intenret eigentlich eine große Eckkneipe ist. Dadurch ist es ein Leichtes, mit stammtischfremden Kriterien den „Stammtisch“ Blogoezese in die Schmuddelecke zu drängen. Natürlich könnte man sie auch gerade als Stammtisch angreifen, denn wie gesagt ist „Stammtisch“ ja durchaus ein negativ besetztes Wort. Jedoch wäre die Wirkung auf die Leser, gerade in ländlicheren Gebieten, weniger sicher vorhersehbar, denn Stammtische und Stammtischgespräche kennen die Leute aus eigener Anschauung. Und sie wissen auch, daß dabei Tacheles, im Eifer des Gefechts auch mal unüberlegter und/oder politisch unkorrekter, gesprochen wird.
(to be continued)