Bergpredigt

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Mir hat’s letztens ziemlich die Sprache verschlagen. Obwohl die die Frage nach der Wahrhaftigkeit nur eine für den Punkt, den ich rüberbringen wollte, untergeordnete Rolle spielte, war es einem der Gesprächsteilnehmer offenbar wichtig, seine Meinung dazu (als Tatsachenbehauptung) einzubringen: „Man kann nicht immer wahrhaftig sein, man muß Kompromisse machen. So ist das im Leben, ja, das ist Leben.“

Es mag sein, daß er meinen eigentlichen Punkt nicht verstanden hatte. Der bezog sich darauf, daß apokalyptische Gefühle ihren Auslöser darin haben können, daß jemand gerade von denen, die seine eigenen Werte geprägt haben, in einem Wertekonflikt im Stich gelassen wird. D.h. daß z.B. Eltern von ihrem (inzwischen erwachsenen) Kind in einer konkreten Situation eine andere Prioritätenreihenfolge fordern, als das Kind von ihnen gelernt zu haben meint. Dabei ist es längst zu einem klaren Gewissensurteil gekommen, fühlt sich diesem verpflichtet und sucht nun bei den Eltern moralische Unterstützung – und wird im Stich gelassen. Im konkreten Beispiel ging es darum, ob eine nicht unwesentliche ungesetzliche Vorgehensweise des Vorgesetzten gegenüber dessen Vorgesetzten auch in der Probezeit anzuzeigen ist, also um Wahrheitsforderung vs. persönliche Vorteile (Stelle behalten; denn daß im Falle einer Anzeige noch während der Probezeit die Kündigung zu erwarten war, stand fest). Wie gesagt, es ging dabei nur indirekt um die Wahrheitsforderung, primär um das unbedingt verpflichtende, längst feststehende Gewissensurteil – und die Enttäuschung, gerade von denen mit der das Gewissensurteil verletzenden Handlungsforderung konfrontiert zu werden (Klappe halten!), denen man es zuletzt zugetraut hätte. Und es mag sein, daß der Gesprächsteilnehmer das so nicht verstanden hatte.

Warum mich das so sprachlos gemacht hat, hat verschiedene Gründe. Einer ist, daß ich selbst einmal in einer Situation war, in der ein Vorgesetzter eine an sich ungesetzliche Forderung stellte. Es war damals für alle Beteiligten (selbst für den durch den Vorgesetzten vertretenen Arbeitgeber) die bequemere Lösung, es ging auch nicht um wirklich schwerwiegende Materie, und konkret wurde auch der Arbeitgeber nicht geschädigt, was aber im Falle einer deutlichen Verkomplizierung der Situation hätte eintreten können. Allerdings gab es keinen anderen Anlaß, von der gesetzlichen Regelung abzuweichen, als eben die Bequemlichkeit, die bürokratischen Folgen der gesetzlichen Regelung (die allerdings die Personalabteilung hätte ausbaden müssen) zu vermeiden. Wer in einer solchen kleinen Materie aus Bequemlichkeit die Regeln bricht, der wird wohl kaum im Falle eines gewichtigen Gewissenskonflikts seinem Gewissen folgen.[1]

Was mich also letztich so sprachlos gemacht hat, war nicht die Aussage, daß man im Leben manchmal Kompromisse schließen muß, sondern die Bestimmtheit und, ja, der Zynismus, mit dem das Leben als „Kompromisse hinsichtlich der Wahrheit machen“ definiert wurde. Vielleicht ist das alles falsch verstanden, ich will der konkreten Person hier keinen Vorwurf machen, es geht mir gar nicht um diese Person. Sondern es geht mir um die ja tatsächlich weit verbreitete Einstellung, daß man ja in kleinen Dingen schonmal Kompromisse hinsichtlich der Wahrhaftigkeit eingehen kann.

Dabei will ich gar nicht bestreiten, daß eine absolute Wahrhaftigkeitsforderung in Ausnahmesituationen unmenschlich wird.[2] Aber eben als Ausnahme, nicht als Regel, und in großen Dingen, nicht in den kleinen: z.B. in Dilemmasituationen, in denen verschiedene absolute Werte miteinander kollidieren, nicht in Situationen, in denen es unbequem ist, z.B. die Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu erstellen, obwohl klar ist, daß der kleine Trick, den man da zu seinen Gunsten einbauen könnte, überhaupt nicht als fehlerhaft auffallen, geschweigedenn nachweisbar sein würde.

Sicherlich gibt es einen Unterschied zwischen der direkten Lüge und dem Verschweigen der Wahrheit. Das Verschweigen kann eher gerechtfertigt sein als die direkte Lüge, insbesondere wenn das Verschweigen der Schwäche des Gegenüber geschuldet ist, es also nicht um eigene, sondern um fremde Vorteile geht. Da mag es mitunter sogar von Vorteil sein, die ganze Wahrheit lieber in kleinen Häppchen zu servieren. Jedoch sollte man sich immer bewußt bleiben, daß es hier auch schnell wieder die eigene Bequemlichkeit sein kann, die nach Ausreden sucht: Wird das Verschweigen zur Regel, dann dürfte wohl eher die eigene Konfliktscheu als die Schwäche des Gegenübers ausschlaggebend sein. So richtig christlich ist jedenfalls beides nicht. Die direkte Lüge verbieten schon die 10 Gebote, die Bergpredigt hingegen verabsolutiert die Wahrheitsforderung: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen“ (Mt 5,37; dem griechischen Text dieses Verses ist der Blogposttitel entnommen: ναὶ ναί, οὒ οὔ = ja, ja, nein, nein).

Kurzfristig mag die Lüge oder auch nur das Unterlassen, die Wahrheit auszusprechen, Vorteile haben. Langfristig zerstört sie das Gewissen, die Fähigkeit, dem Gewissensurteil zu folgen und vor allem: Vertrauen. Natürlich ist es verlockend, mit Hilfe einer Notlüge den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und natürlich kenne ich das auch, daß ich in einer solchen Situation nicht die Kraft aufbringe, der Wahrheit Genüge zu tun. Es scheint ja nicht so schlimm zu sein; hier ein wenig die Wahrheit zu frisieren, schadet ja keinem, es ist die einfachere Lösung, man braucht sich keine Blöße zu geben und einen Fehler zuzugeben usw. usf. Aber: Genau das ist das Wesen der Versuchung! Wer aber in kleinen Dingen der Versuchung nicht standhält, der wird es erst recht nicht in großen schaffen, wenn es wirklich drauf ankommt.

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[1] Man liest immer wieder, wie wichtig es für „Gewissenstäter“ ist, in kleinen, sachlich eigentlich unbedeutenden Fragen aus Gewissensgründen Widerstand geleistet zu haben, um später ihren großen Widerstand zu leisten. Z.B. war es für den Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich völlig unerheblich, ob Franz Jägerstätter als einziger in seiner kleinen Gemeinde gegen den Anschluß stimmte, und tatsächlich wurde seine Gegenstimme auch vor Weitergabe des Abstimmungsergebnisses unterschlagen, u.a. um ihn nicht in Gefahr zu bringen; d.h. seine Nein-Stimme fiel sachlich völlig unter den Tisch und hätte ihm nur schweren Ärger bereiten können, für ihn selbst war es aber wichtig, mit Nein gestimmt zu haben: Wenngleich es eigentlich nur ein symbolischer Akt war, schärfte er sein Gewissen und vor allem seine Bereitschaft und Fähigkeit, gegen alle Ängste und das sichere Wissen um das folgende Todesurteil seinem Gewissensurteil auch zu folgen und den Kriegsdienst in Hitlers Armee zu verweigern. (hoch)
[2] Klassisches Beispiel: Bin ich verpflichtet, einem SS-Offizier, der mich fragt, ob ich einen Juden verstecke, zu sagen, daß ich tatsächlich einen Juden verstecke? Wenn das so wäre, bräuchte ich den Juden gar nicht erst zu verstecken versuchen. Hier steht freilich die Wahrheitsforderung gegen die ungerechte Verfolgung, die darauf ausgerichtet ist, das Leben des Verfolgten zu vernichten. (hoch)