Das Böse

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Mein bester Freund wurde vergewaltigt.

Mein bester Freund wurde vergewaltigt, und ich konnte nichts dagegen tun.

Mein bester Freund wurde vergewaltigt, ich stand daneben, und ich konnte nichts dagegen tun.

Mein bester Freund wurde vergewaltigt, in aller Öffentlichkeit, ich stand daneben, und ich konnte nichts dagegen tun.

Das ist jetzt über zwei Jahre her. Der Versuch, einfach weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, war schnell gescheitert. Der Versuch, darüber zu reden auch. Meine Frau hatte den Arsch in der Hose gehabt, die Vergewaltiger zur Rede stellen zu wollen. Da dachten wir noch, daß alles nur ein großes Mißverständis sei. Die eisige, unser Bemühen, mit dem Erlebten leben zu können, lächerlich machende Reaktion hätte uns eines Besseren belehren sollen. Es gibt einfach Dinge, die man sich nicht vorstellen kann, bevor man sie nicht erlebt hat.

Auch mit den anderen, die dem Geschehen beiwohnten, haben wir nicht wirklich reden können. Kaum jemand schien etwas daran auszusetzen zu haben. Höhepunkt war, nicht einmal eine Stunde später, die zynische Äußerung: „Wenn Ihn das stört, dann ist Er nicht Gott.“

Uns ging es, wie es normalerweise den Vergewaltigungsopfern, nicht den Zeugen geht: Erst wird uns nicht geglaubt, dann wird uns selbst die Schuld zugeschoben. Die Anzeige schließlich der dritten schweren Vergewaltigung brachte zwar eine schnelle Reaktion, hatte letzlich aber keine Folgen. Die Vergewaltigungen gehen weiter, wenn auch in kleinerem Maßstab.

Ein Gutes hatte das ganze: Die Verbindung zwischen Ihm und mir ist dadurch sehr vertieft worden. Gleich nach diesem ersten Erlebnis wollte ich Ihn trösten, und doch hat Er mich getröstet. Je mehr mein Schockiertsein durch Rationalisierung des Erlebten zurückging, desto deutlicher zeigte Er mir, wie falsch die bisher von mir fast unhinterfragt übernommenen Kategorien waren.

Von den wenigen, die uns verstanden haben, haben sich die meisten bald aus der Pfarrei zurückgezogen und sind in Nachbarpfarreien geflüchtet. Ob es da besser ist? Nach meinem Eindruck nur graduell. Besser verpackt, weniger offensichtlich, mit weniger Böswilligkeit, ja, aber im Grunde derselbe Menschengemeinschaftsgötzendienst. Einmal sensibilisiert, auf die ersten kleinen Schritte zu achten, die der großen Vergewaltigung vorausgingen, erkennt man die eigentlich völlig überflüssigen, weil recht verstanden an Sinn und Verständlichkeit nichts ändernden Umformulierungen im Hochgebet an allen Ecken und Enden; das Weglassen des Embolismus, die ewige Form C des Bußaktes (in der Regel ohne irgendeine Vergebungsbitte) usw. usf.

Nein, ich will mich nicht vertreiben lassen. Wohin sollte ich gehen? Nur Er hat Worte des ewigen Lebens. Ich will das Leid an-, mein Kreuz auf mich nehmen und Ihm nachfolgen – nach Golgotha. Welche Ironie: Die unblutige Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers wird zur realsten Kreuzwegerfahrung.

Mein bester Freund wurde vergewaltigt, und ich konnte nichts tun – außer es mit Ihm zu tragen, Ihm aufzuopfern und mich von Ihm trösten zu lassen.

Ἐκένωσεν.

In den letzten Wochen bin ich beim Verfassen meiner Posts immer wieder an eine Grenze gekommen, so daß die Posts nie fertig wurden und mein Vorrat an verwertbaren Entwürfen inzwischen so ziemlich gegen Null tendiert.

Die Grundidee, an der ich mich abgearbeitet habe, betrifft einige merkwürdige Phänomene, die ich in der Kirche beobachten konnte. In allen diesen Situationen und in, wie mir scheint, immer mehr weiteren (ja, ich bin paranoid), erreiche ich gedanklich einen Punkt, an dem ich merke: So kommst Du nicht weiter. Du kannst diese Phänomene zwar auf den Punkt bringen, das wird aber nichts ändern. Es läßt sich einfach nichts ändern, zumindest nicht, indem man die konkreten Probleme direkt angeht: Es handelt sich um einen „Catch 22“.

„Catch 22“ ist ursprünglich ein Anti-Kriegsroman des Amerikaners Joseph Heller. Das Buch ist, wie ich finde, ausgesprochen anstrengend zu lesen, was wohl daran liegt, daß es die Sinnlosigkeit der beschriebenen Ereignisse und Umstände auch in der literarischen Gestaltung der Erzählung zum Ausdruck bringt. Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben, ob ich es empfehlen kann, bin ich mir nicht so sicher.

Von diesem Buch ausgehend hat sich der Begriff „Catch 22“ im Englischen für Situationen, wie sie im Buch beschrieben werden, eingebürgert. Die deutsche Wikipedia nennt diese Situationen „Dilemmata“, das ist mindestens ungenau. Ein Dilemma ist eine Situation, in der ich, egal wie ich mich entscheide, etwas falsch mache. Bei einem „Catch 22“ kann ich zwar nichts richtig machen, aber das liegt nicht daran, daß ich etwas falsch mache, sondern daß die Situation so konstruiert ist, daß unabhängig von meiner Entscheidung das angestrebte Ziel schlicht nicht erreicht werden kann.

Das erste und bekannteste Beispiel für einen „Catch 22“ aus dem Buch ist eine Regelung, nach der wahnsinnige Piloten keine Angriffe fliegen dürfen, sondern von der Front abgezogen werden müssen. Einzige Voraussetzung dafür ist, daß der Pilot eine psychologische Untersuchung beantragt. Der „Catch“ dabei ist, daß die Beantragung dieser Untersuchung zeigt, daß er völlig gesund ist, denn nur ein Wahnsinniger würde Angriffe fliegen wollen. Infolgedessen kann der Gesunde nicht vorspiegeln, geisteskrank zu sein, und der Wahnsinnige kann nicht nach hause geschickt werden, weil er sich selbst ja nicht für wahnsinnig hält und entsprechend keinen Antrag stellen wird, und selbst wenn sich ein Wahnsinniger selbst für wahnsinnig hielte und einen Antrag stellte, würde ihm das als eindeutiges Zeichen geistiger Gesundheit ausgelegt.

Ein Catch 22 drückt sich also in der Unmöglichkeit aus, systemkonform ein Ziel, das das System als mögliches vorspiegelt, erreichen zu können. Ein (moralisches) Dilemma hingegen ist eine Situation, in der zwei absolute Werte miteinander konkurrieren, in der also die Güterabwägung nicht mehr funktioniert, um zu einer klaren Entscheidung zu kommen. Am ehesten vergleichbar ist ein Catch 22 daher mit dem Passierschein A38 aus „Asterix erobert Rom“ oder dem „Was?! Ihr müßt mir doch eine Chance lassen da raus zu kommen! Also gut, ich bin der Messias!“ aus dem „Leben des Brian“.

Allerdings ist der Catch 22 deutlich brutaler. Asterix kommt an den Passierschein A38, indem er den Spieß umdreht und nach Passierschein A39 fragt. Ein Catch 22 kann zwar anfangs noch solche Lücken haben, sie werden aber geschlossen werden und sind nicht systemimmanent wie bei Asterix. So auch im Buch: Ein Soldat entdeckt, daß er den schützenden Rang eines Private First Class auch nach einer Beförderung durch unerlaubtes Entfernen von der Truppe, das eine Degradierung nach sich zieht, immer wieder erreichen kann – bis eben diese Lücke als solche erkannt und geschlossen wird. Brian kann sich verbergen, die Volksmenge hat keine direkte Macht über ihn, und daß er am Ende am Kreuz endet, hat nichts mit der Messiasfrage, sondern mit der Beteiligung an einem terroristischen Akt zu tun. Beide Varianten sind bei einem Catch 22 nicht möglich. Egal was Du machst, egal wie Du Dich entscheidest, die gestellte Aufgabe ist nicht lösbar, denn es gibt nicht nur keine Möglichkeit, die gestellte Bedingung zu erfüllen, die Bedingung selbst ist vielmehr völlig unsinnig: die Bedingung, um „Ziel“ erreichen zu können, besteht in „Nicht-Ziel“.

Und so gelingt es Hauptmann Yossarian, dem Antiheld von Catch 22, schließlich eher zufällig, weiteren Angriffsflügen zu entgehen, indem er zur Strafe zum Major mit Innendienstbeschreibung befördert wird. Denn jede andere Form von Bestrafung würde ihn von der Front abziehen, und dann könnten andere Piloten auch auf die Idee kommen, sich einfach zu weigern, Angriffe zu fliegen. Klingt unlogisch, ist es auch (wie der ganze Catch 22), denn es geht ausschließlich darum, den „Rebellen“ und „Abtrünnigen“ wieder ins System zu integrieren, indem man ihm gibt, was er will, ohne es explizit zu tun. Es wird also das individuelle Interesse ausnahmsweise erfüllt, um die Moral der Truppe im ganzen aufrecht zu erhalten. Und so zeigt sich der Catch 22 in einer Situation im Buch auch als das, was er tatsächlich ist: als blanke Ausübung von Macht.

Wie aber kommt man da raus? Die Antwort lautet: gar nicht. Es gibt aus einem echten „Catch 22“ keinen Ausweg, denn ein echter „Catch 22“ besteht gerade in seiner Alternativlosigkeit. Der Catch 22 ist zunächst eine reine Illusion, die die Ausübung der Macht gleichermaßen verschleiern wie absichern soll, und funktioniert selbst dann noch, wenn man ihn als solchen durchschaut hat, da er dann die Sinnlosigkeit des Versuchs offenbart, sich gegen den Catch 22 zu wehren.

Genau an diesem Punkt kam ich einfach nicht weiter. Es kann doch nicht sein, und es darf nicht sein, daß ich da wirklich nicht rauskomme, daß ich immer verliere. Und dann kam da der heutige Tagesheilige, Papst Johannes Paul II., ins Spiel. In der zweiten Lesung der Lesehore, die seiner Ansprache zu Beginn des Pontifikats entnommen ist, heißt es:

[Die Herrschaft des Herrn hat] ihre Ursprünge nicht in den Mächten dieser Welt, sondern im Geheimnis des Todes und der Auferstehung… Die uneingeschränkte und doch milde und sanfte Herrschaft des Herrn ist die Antwort auf das Tiefste im Menschen, auf die höchsten Erwartungen seines Verstandes, seines Willens und Herzens. Sie spricht nicht die Sprache der Gewalt, sondern äußert sich in Liebe und Wahrheit. […] Habt keine Angst, Christus aufzunehmen und Seine Herrschergewalt anzuerkennen! […] Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus! […] Habt keine Angst! Christus weiß, ‚was im Innern des Menschen ist‘. Er allein weiß es! Heute weiß der Mensch oft nicht, was er in seinem Innern, in der Tiefe seiner Seele, seines Herzens trägt. Er ist deshalb oft im Ungewissen über den Sinn seines Lebens auf dieser Erde. Er ist vom Zweifel befallen, der dann in Verzweiflung umschlägt. Erlaubt also … Christus, zum Menschen zu sprechen! Nur Er hat Worte des Lebens, ja des ewigen Lebens!

Da ging mir auf: Der Catch 22 basiert auf der erbsündlichen Verfaßtheit weltlichen Denkens, auf der Angst vor dem Tod, auf dem Streben nach Ehre, Anerkennung, dem Wunsch, etwas zu gelten – und nutzt diese brutal aus. Im Buch funktioniert der Catch 22 genau deshalb, weil die Soldaten Angst vor dem Tod haben (und jeder, der keine Angst vor dem Tod hat, wird als wahnsinnig dargestellt). Die Frage aber, ob der Krieg tatsächlich gerechtfertigt, ja vielleicht sogar notwendig ist (und wir reden hier immerhin vom Zweiten Weltkrieg), auch wenn es vielleicht nicht jeder einzelne Angriff ist, und ob das ständige Heraufsetzen der Flugzahl, bevor man auf Heimaturlaub darf, vielleicht aus Personalmangel tatsächlich notwendig ist, um den Krieg führen und gewinnen zu können – das alles spielt im Buch überhaupt keine Rolle. Es beginnt bereits mit dem Versuch, aus der (vorausgesetzten) Sinnlosigkeit des Sterbens auszubrechen.

Das Sterben in Christus aber ist nicht sinnlos. Die im Buch behandelte Sinnlosigkeit findet ihre Antwort tatsächlich in Christus, der dem nach weltlichen Maßstäben sinnlosen Leben einen Sinn geben kann. Nicht im Sinne einer Vertröstung auf das Jenseits, sondern in dem Sinn, daß er die Wahrheit und Gerechtigkeit als Maßstäbe erkennen läßt, für die es sich lohnt, Leib, Leben, Anerkennung, Würdigung, Bedeutung hin- und aufzugeben, weil Er selbst sie ist. Wer in Christus stirbt, dem wird das Leben nicht entrissen, er gibt es hin; wer in Christus stirbt, dem wird das Leben nicht genommen, sondern gewandelt.

Sicherlich ergibt das alles nur Sinn, wenn ich davon ausgehe, daß die Wahrheit und die Gerechtigkeit sich letztlich durchsetzen werden. Und der einzige Garant dafür ist Jesus Christus selbst. Sich gegen all die Catches 22 zu wehren, geht nur aus der Beziehung und Liebe zu Jesus Christus. Die Wahrheit wird euch frei machen: Wer (wirklich) in Christus lebt, ist für die weltliche Macht uneinnehmbar geworden, da er weder mit Drohungen noch mit Versprechungen korrumpierbar ist – zumindest solange er sich nicht wieder dieser Macht unterwirft.

Lebe ich mit Christus, springe ich nicht mehr über jedes Stöckchen, das mir hingehalten wird, ich kümmere mich um das, was (mir) wirklich wichtig ist, und ich entziehe mich dem Zugriff der Macht auf eine Weise, die die Logik der Macht schlicht nicht verstehen kann. Zugleich führt diese Freiheit aber notwendig in Verachtung, Ausgrenzung und vielleicht sogar Verfolgung; gerade weil ihr mit der Logik der Macht nicht beizukommen ist. Und die Verachtung, Ausgrenzung und Verfolgung erfolgt besonders da, wo es mir am meisten weh tut (wie ich im letzten halben Jahr mehrfach schmerzlich feststellen mußte). So ist das Leben mit Christus kein Zuckerschlecken. Es wird erst so richtig zum Kampf, zum Kampf aus der immer schlechteren Position, immer bergauf, aber es ist ein Leben in Freiheit, vor allem auch innerer Freiheit, in Identität mit sich selbst. Leiden tut immer weh, aber Leiden mit Christus kann die Welt verändern (aber eben nicht, indem die Probleme direkt angegangen werden), vor allem aber den mit Christus Leidenden befreien.

Habt keine Angst! Öffnet die Türen für Christus!

Witze zu erklären ist so ziemlich das Blödeste, was es gibt. Vielleicht hilft es aber in diesem Fall, Metal besser zu verstehen.

Warum funktioniert dieses Stück? – Weil Musik und Inhalt im geradezu kontradiktorischen Widerspruch stehen. Man kann nicht solche Musik machen und dabei von der Schönheit der Schöpfung und der Poesie der Liebe singen. Daß J.B.O es trotzdem tun, zieht den Metal halt ein bißchen durch den Kakao und funktioniert gerade nur als die (nicht erwartete) Ausnahme zur Regel. Überzeichnet wird es noch durch den Mittelteil, der das Grundprinzip des Liedes umdreht: Zu Musik auf knapp über Schlagerniveau werden Death Metal-Texte gesungen.

So sehr das ganze darauf angelegt ist, zu unterhalten und den Metal aus der Innenperspektive auf den Arm zu nehmen, der in seiner ganzen Attitüde immer auch kurz vor der Albernheit steht, so sehr kommt dabei auch eine ernsthafte Gesellschaftskritik zum Tragen.[1] Denn tatsächlich gibt es Popmusik, die musikalisch harmlos, inhaltlich aber gewaltig gefährlich daherkommt. (Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich mal in die Verlegenheit komme, Mainstreammusikradio zu hören.) Was am Metal sehr grundlegend kritisiert wird, wird bei anderer Musik nicht einmal bemerkt.

Oder wo genau ist der Unterschied zwischen „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ zu „Wein, Weib und Gesang“ außer vielleicht in der Drastik? Sachlich ist es dasselbe. Diese Heuchelei ist es, die vom Metal angegriffen wird, nämlich das Böse immer nur bei den anderen zu sehen, den Balken im eigenen Auge aber nicht.

Auf anderer Ebene hat dieser Post schonmal dasselbe thematisiert. Im Lounge Music-Stil geht ein Text übers australische Fernsehen, was man im Original nicht mal ins Land lassen will. „The lyrics aren’t the problem, it’s the music.“

[1] Sehr treffend formulierte KingBear: „Verflixte Postmoderne, die es möglich macht, ein und dieselbe Aussage sowohl ironisch als auch ernst zu meinen!“ (hoch)

Den im engeren Sinne theologischen Teil meiner Doktorarbeit habe ich auf Anraten von verschiedenen Seiten immer weiter zusammengefaßt und gestrafft. Das war sicherlich sinnvoll, denn eine umfassende Behandlung der Frage nach dem Bösen und der Antwort des Glaubens auf sie hätte nicht nur den Rahmen gesprengt, sondern war auch gar nicht angestrebt. Dennoch sind einige Dinge auf der Strecke geblieben, um die es schade ist.

Eine der weggestrafften Stellen betrifft das Buch Hiob. Der Abschnitt ließ sich zwar gut wegkürzen, da er im wesentlichen nur eine einzige Quelle[1] paraphrasierte, und doch handelt es sich dabei meiner Meinung nach um einen in der Frage nach dem Bösen ganz wesentlichen Punkt, denn das Buch Hiob gilt als das Theodizeebuch des Alten Testaments.

Die gängige Deutung dieses Buches geht davon aus, die Antwort Gottes bestünde lediglich im Beharren auf Seiner Allmacht und darüber hinaus in Antwortverweigerung. Ich denke, Ursache dieser – wie ich meine – Fehlinterpretation ist die falsche oder zumindest eine ungenaue Fragestellung, mit der an das Buch herangegangen wird. Hiob geht es nicht um die abstrakte Frage, woher das Böse kommt und wie Gott gut sein kann, wenn es das Böse in der Welt gibt. Damit hätte Hiob überhaupt kein Problem, denn es ist die eigene Schuld, die das Leid verursacht, das als Strafe Gottes für böse Taten verstanden wird. Sondern es geht ihm um sein ganz konkretes Leiden, das ihm ungerecht scheint, da er sich sicher ist, keinerlei Schuld auf sich geladen zu haben. Im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und einer von einem allmächtigen Gott gut geordneten Welt dürfte er also kein Leid erfahren. Genau diese Vorstellung einer einseitig gut geordneten, perfekten Welt ist mit der Realitätserfahrung nicht wirklich kompatibel, und das will das Buch Hiob zeigen.

Othmar Keel nähert sich dieser Deutung von einer anderen Seite. Ihm erschien es nicht plausibel, daß die immerhin vier Kapitel umfassenden Gottesreden lediglich in einem dreistündigen Naturkundevortrag bestehen sollten. Zumal die Deutung, Gott, der einzige, der die Theodizee tatsächlich leisten könnte, spreche dem Menschen die Berechtigung ab, überhaupt die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen zu stellen, fordere daher das blinde Vertrauen des Menschen ein, und Hiob resigniere schließlich und bekenne, nicht würdig zu sein, Gottes Gerechtigkeit in Frage zu stellen, nicht erklären kann, warum Hiob sich am Ende ausgerechnet mit der bloßen Forderung nach Vertrauen auf Gott zufrieden geben sollte, die er von Anfang an vehement zurückgewiesen hatte.

Das unschuldige Leiden Hiobs stellte prinzipielle Überzeugungen in Frage, nämlich daß Gott gut und die Welt geordnet ist, daß sie auf Sinn hin befragt werden kann. Er fragte, ob die Welt in der Hand eines Verbrechers ist, und es bliebe somit nach der gängigen Deutung die Möglichkeit bestehen, daß Gott ein Sadist ist, der Freude am Leid des Menschen hat.

Hiob kann sich daher nicht mit der Forderung Gottes zufrieden geben, sich Ihm einfach vertrauensvoll zu unterwerfen, Er wisse schon, was das beste für Hiob sei. Denn das bedeutete letztlich, daß der Peiniger das Opfer dadurch ruhig stellte, daß Er ihm den Masochismus empfiehlt.

Tatsächlich sei das auch nicht der Fall, meint Keel. Vielmehr habe Hiob durch die explizite Selbstverfluchung in Kapitel 31, mit der er ausführlich seine Unschuld bezeugte, Gott gezwungen, ihn zu töten, wäre er schuldig und der geleistete Eid ein Meineid gewesen. Da Gott aber erscheint, ohne Hiob zu töten, erkenne Er Hiobs Unschuld bereits an.

Doch Gott bestreite, als „Prozeßgegner“ Hiobs im Umkehrschluß nun selbst als schuldig gelten zu müssen – mit derselben Vehemenz, mit der Hiob seine Unschuld beteuerte. Er bestreite Hiob zwar zunächst tatsächlich die Berechtigung, die Welt und ihren Schöpfer zu verurteilen – aber nicht, weil Hiob als Geschöpf nicht würdig sei, das zu tun, sondern weil es ihm an Einsicht und Möglichkeit fehle, es besser zu machen. Er, Gott, hingegen sei derjenige, der die Welt gründet, dem Chaos (Meer) Grenzen setzt, dem Bösen den Raum (die Dunkelheit) nimmt, die Wüste (den Ort des Bösen) in fruchtbares Land verwandelt, die vorbildliche Ordnung des Himmels garantiert und es so regnen läßt, daß das Kulturland nicht wieder zu Wüste wird.

Gottes erstes Argument (Hiob 38,1–38) bestehe also darin, daß der Mensch gar nicht zu dem in der Lage sei, was Er tagtäglich immer wieder neu und ohne Ende tue, nämlich die Chaosmächte in der Schöpfung zu bekämpfen und ihnen Grenzen zu setzen. (Oder einfacher gesagt: Mach’s doch besser!)

Sein zweites Argument (Hiob 38,3939,30) bestehe hingegen darin, daß Er es sei, der den wilden Tieren ihre Nahrung verschafft und ihnen Unabhägigkeit gegeben hat. Selbst wenn in der Welt Chaotisches existiere, es sei nicht das Chaos selbst, sondern von Gott geordnet.

Es gebe also Weltbereiche, die der Mensch nicht kontrollieren kann, Gott aber sehr wohl. Hiob hatte ein chaotisches Bild von der Welt gezeichnet, seine Freunde eine klare Ordnung, eine heile Welt dagegengesetzt – Gott korrigiert beide Vorstellungen:

Es fehlt in der Welt nicht an chaotischen Mächten, von eindrücklicher Wildheit und gewaltiger zerstörerischer Kraft. Aber die Welt ist doch nicht ohne Plan, ohne Ordnung. Jahwe hält das Chaos im Zaum, ohne es in langweilige, starre Ordnung zu verwandeln.

Die ersten beiden Argumente Gottes lauten also, Er sei der ständige Schöpfer, der creator continuus, der der Schöpfung ihre Ordnung gibt. Gott verweist tatsächlich auf den unendlichen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf, die Rechtfertigung besteht jedoch nicht in der Allmacht, der sich das Geschöpf unterwerfen müsse, sondern in der Schöpfungsmacht, die eine erkennbare Ordnung der Welt überhaupt erst hervorbringt. Diese Ordnung richtet sich jedoch nicht am Menschen aus, sondern berücksichtigt die ganze Schöpfung und gibt allen Geschöpfen ihren Platz in ihr – eine Fähigkeit, die der Mensch nicht hat und für die ihm die Einsicht in den Schöpfungsplan fehlt.

In Hiob 40,141,26 führe Gott ein völlig neues Argument ein. In Seiner vorangegangenen ersten Rede habe Er Sich gegen den Vorwurf verteidigt, die Welt sei chaotisch, das heißt, entweder könne oder wolle Gott keine Ordnung schaffen. Nun wehre Er Sich gegen die Anklage, Er sei ein Sadist, wolle das Böse gar. Zu diesem Zweck zeichne Er von sich das Bild des Jägers von Behemot und Leviatan, wiederum eine Tätigkeit, die der Mensch nicht zu leisten vermöge. Dabei gehe es nicht um die Jagd auf reale Tiere wie Nilpferd und Krokodil, wie die Namen verstanden werden könnten. Diese Tiere wurden auch von Menschen gejagt. Vielmehr wende Gott hier mythologische Bilder auf Sich an; so war das Nilpferd etwa in der ägyptischen Mythologie eine Gestalt Seths, und es kam Horus zu, es zu bändigen. Behemot und Leviatan werden also als Repräsentanten des Bösen angeführt. Gott erkläre somit, nicht der Urheber des Bösen und kein Sadist zu sein. Vielmehr leiste Er sogar, was der Mensch nicht kann: unablässig das Böse zu bekämpfen.

Das heißt, das Böse geht nicht aus Gott hervor. Doch es wird auch kein alternativer Ursprung angegeben. Es geht dem Buch Hiob offenbar nicht um die Frage des metaphysischen Ursprungs, der völlig offen gelassen wird. Sondern Gott stellt sich als Herr über das Böse, als Richter dar, der das Böse bekämpft.

Die Antwort des Buchs Hiob auf die Frage nach der Erfahrung des Bösen ist also:

  • Der Mensch kann weder die chaotischen Anteile der Welt noch das menschlich verursachte Böse völlig beherrschen; er kann von sich aus weder Kulturland noch Gerechtigkeit schaffen.
  • Gott aber kann beides und tut beides und zwar ständig und immer wieder neu. Was dem Menschen böse und chaotisch erscheint, ist doch von Gott geordnet. Er ist der gute Schöpfer.
  • Gott ist nicht so, wie der Mensch Ihn sich vorstellt und wünscht, und möglicherweise sind Seine Kriterien für gut und böse nicht dieselben wie die des Menschen. Es ist Seine Schöpfung.
  • Gott ist nicht der Urheber des Bösen, aber es läßt sich entgegen der Position der Freunde Hiobs auch nicht allein auf den Menschen zurückführen. Vielmehr birgt das Böse eine komplexe Problematik in sich, weil es einen relativen Eigenstand in dieser Welt hat. Auch wenn sein Ursprung im Dunkeln bleibt, gehört es zu den Konstanten der Welt, wie wir sie erfahren.

Man kann ja jetzt von Othmar Keel halten, was man will, und auch die Frage stellen, wie „up to date“ eine kleine Forschungsarbeit aus dem Jahr 1978 heute noch ist; besonders ausführlich rezipiert worden scheint sie mir nicht zu sein. Mir ist allerdings im Nachhinein bewußt geworden, wieviel von der Antwort des Glaubens auf die Erfahrung von Bösem – die beim Schöpfer anfängt und beim Vollender und Richter endet – in dieser Deutung bereits drinsteckt. Und auch ganz persönlich ergibt für mich erst so das Buch Hiob überhaupt einen Sinn.

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[1] Othmar Keel: Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund
der zeitgenössischen Bildkunst; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978; das Zitat steht auf Seite 125. (nach oben)

Das Schlimmste am Bösen ist seine völlige Sinnlosigkeit.

Der Geiselnehmer, Mörder und Selbstmörder von Karlsruhe wollte die Zwangsräumung der Wohnung seiner Lebensgefährtin verhindern. Ein grundsätzlich erst mal nachvollziehbares Motiv, das seinen Sinn aber gerade daraus bezieht, daß die Lebensgefährtin weiter in der Wohnung leben kann. Jetzt ist sie tot. Weil ihr Lebensgefährte ihr die Wohnung erhalten wollte. Weil er sie getötet hat. Und den neuen Wohnungseigentümer. Und den Gerichtsvollzieher und einen Schlüsseldienstmitarbeiter. Und sich selbst. Vom Leid der Hinterbliebenen, den Frauen, den Kindern, eines noch ungeboren, ganz zu schweigen.

Die Geiselnahme war von Anfang an ein untaugliches Mittel, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Das hätte der Geiselnehmer nicht nur wissen können, er hätte es wissen müssen. Doch wenn es ihm bewußt war, was bleibt dann als Motiv? Rache? An wem? Wofür? Jedenfalls muß ihm klar gewesen sein, daß er damit nicht durchkommt, nie durchkommen konnte. Daß es keinen Ausweg aus der Situation gibt. Außer die Schuld einzugestehen und sich dem Gericht auszuliefern. Oder sich dem irdischen Gericht zu entziehen. Und so alles noch schlimmer zu machen.

Fünf Tote. Wegen einer Wohnung. Und (vermutlich) einer insgesamt wenig befriedigenden Lebenssituation. Ein verzweifeltes Leben reißt vier andere mit in den Tod. Völlig sinnlos. Nichts erreicht. Außer Fassungslosigkeit. Und „15 minutes of fame“. Der Täter hat keinerlei Vorteil durch seine Tat. Im Gegenteil. Und er hätte es wissen müssen. Trotzdem hat er es getan.

Das Böse hat eine irritierende, rational nicht erklärbare Macht in der Welt. Eine Macht, die verführt, die täuscht, auch über sich selbst, der leicht zu widerstehen wäre, wenn man sie als das erkennte, was sie ist. Aber die Verführung, die Täuschung besteht darin, das böse Tun als etwas Gutes oder als zu etwas Gutem (und sei es nur der eigene Vorteil) Führenden erscheinen zu lassen. Obwohl das rational betrachtet überhaupt nicht nachvollziehbar ist.

Eine Macht, die als eigenständig handelnd, als planvoll vorgehend erscheint. Die mehr ist als die Macht der Sünde, als ein sich selbst verstärkender Mechanismus, der das (eigentliche) Gut nicht mehr erkennen läßt und alles dem Eigennutz unterordnet. Die in (scheinbarer) Freiheit den zerstört, der ihr in (scheinbarer?) Freiheit erliegt.

Der christliche Glaube versteht diese Machtt als personal und nennt sie den Verführer, den Verwirrer, den Durcheinanderwerfer, den Mörder von Anfang an, der eben gerade in seiner Freiheit seine Freiheit zugrundegerichtet hat. Der Glaube reißt dem Bösen die Masken herunter und nennt ihn das, was er ist.

Und zeigt den Ausweg auf, selbst in der extremsten Situation: Annahme der Schuld, Buße, Umkehr. Und Vertrauen auf die Liebe, Allmacht und Barmherzigkeit Gottes, die aus dem Zerstörten etwas Neues, sogar Besseres entstehen lassen kann. Vor allem aber das Schlimmste verhindert. Wenn man Ihn läßt.

Das ist im Kern nicht einmal eine andere Antwort als die reine Vernunft zu erkennen in der Lage ist. Aber die Menschheitsgeschichte zeigt immer wieder, daß der Mensch nicht rein vernünftig ist, geschweigedenn handelt.

Betet für die Opfer, auch die Hinterbliebenen! Und wer es kann, auch für den Täter.

Auf der Bloggertagung kam kurz vor dem Mittagessen via Twitter die Frage nach der Letzbegründung der Moral auf: Geht das ohne Gott oder nicht? Die Frage läßt sich kaum angemessen in 140 Zeichen klären (und auch nicht in einem Blogpost), denn beide Extrempositionen (ja und nein) haben ihre Berechtigung und ihre Begrenzung.

Zunächst einmal beansprucht gerade die kirchliche Tradition des Naturrechts eine Zugänglichkeit ihrer Morallehre ohne explizit christlichen Gottesglauben. Vielmehr sei jeder Mensch guten Willens in der Lage, mit Hilfe seines Gewissens und seiner Vernunft zu denselben Einsichten wie die katholische Morallehre zu kommen (bei der Dogmatik ist das etwas anders, das Wesen Gottes ist nur durch Seine Offenbarung zu erkennen).

Andererseits ist dieser Schluß nicht umkehrbar: Man kann zwar aus reinen Vernunftgründen zu derselben Moralanschauung kommen wie die Katholische Kirche, aber man muß es nicht. Denn auch wenn die Kirche beansprucht, daß ihre Morallehre der Vernunft einsichtig ist, sagt sie nicht, daß dies ohne Gott ginge. Vielmehr besagt sie (in einem für heutige Ohren ziemlich steilen Anspruch), daß der Schöpfer klar aus der Schöpfung heraus auch für den Nicht-Christen erkennbar sei:

Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest an der Lehre: der Mensch kann Gott, den Ursprung und das Endziel aller Dinge, durch das natürliche Licht seiner Vernunft aus den geschaffenen Dingen mit Gewissheit erkennen.
(Dei Filius, 11, bestätigt in Dei Verbum, 6 und Fides et Ratio, 8 u.ö.)

Das Grundproblem der diesen Post auslösenden Frage ist also ihre Voraussetzung: Welche Moral? Jeder naturrechtliche Ansatz wird der katholischen Moral relativ nahe kommen – sofern er Naturrecht nicht in einem empirischen Sinne mißversteht und aus den vorfindlichen Verhaltensweisen unmittelbar auf ihre moralische Richtigkeit, also vom So-Sein auf das So-Sein-Sollen schließt; dat nennen wir einen naturalistischen Fehlschluß. Die Deontologie (Pflichtethik) liegt noch vergleichsweise nahe – kommt aber auch nicht ganz ohne Gott als Letztbegründung aus, bei Kant hängt die gesamte praktische Moralphilosophie an seinem moralischen Gottesbeweis: die Vernunft muß Gott annehmen, sonst ergibt die Moral keinen Sinn (was man natürlich als Zirkelschluß kritisieren könnte, da ja das ganze Projekt „Moral“ nur Sinn ergibt, wenn Gott es ihm gibt, also muß es Gott geben, weil ja sonst die Moral sinnlos wäre; aber warum muß Moral überhaupt sinnvoll sein?).

Die Diskursethik braucht – als reines Verfahrensmodell ohne inhaltliche Festlegung über die Regeln des Diskurses hinaus – Gott natürlich nicht, denn hier muß nichts letztbegründet werden – die Diskursregeln haben allerdings, wenn man es böse formulieren möchte, ersatzgöttliche Qualität, sachlicher gesagt sind es systemnotwendige Axiome. Im Utilitarismus braucht es ebenfalls keinen Gott, weil er den größten Nutzen (in einigen Variationen: den größten Nutzen der größten Zahl) als höchstes Gut annimmt, also axiomatisch setzt.

Es gibt also keine ethische Letztbegründung, die keine weiteren Voraussetzungen macht. Dabei ist der Rekurs auf Gott noch vergleichsweise harmlos: Da Er außerhalb des von der menschlichen Vernunft geschaffenen Denksystems steht, entscheidet sich die Berechtigung des Rückgriffs auf Gott (uarghs, der Theologe in mir kriegt gerade das Kotzen, so kann man eigentlich nicht theologisch über Ihn reden; naja, erklären wir diesen Post mal zu theologischer Ethik – ach Mist, das steckt immer noch Theologie drin) in der Beantwortung der Frage nach seiner Existenz – und diese Antwort ist der Vernunft zugänglich. Die Voraussetzungen der Diskursethik und des Utilitarismus sind hingegen eher emotional zu begründen, haben (in meinen Augen) etwas von Münchhausen, der sich selbst aus dem Sumpf zieht. Natürlich wird das jeder Atheist auch von naturrechtlichen Argumentationen behaupten. Aber selbst wenn die Frage nach der Existenz Gottes unbeantwortet bleibt, stehen die Ansätze ohne Gott argumentativ nicht besser da.

So, jetzt habe ich viel geschrieben und hin- und herüberlegt. Je länger ich aber drüber nachdenke, umso mehr scheint mir: Ich bin am eigentlichen Knackpunkt der Frage vorbeigeschrammt. Beide eingangs genannten Ansichten haben ihre Berechtigung und ihren treffenden Punkt, die eine vor, die andere in der Diskussion mit Andersdenkenden.

Bevor wir uns in die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden begeben, müssen wir für uns klar haben, welche Morallehre wir vertreten und wie wir sie (mit unseren Voraussetzungen) begründen. Und das geht für einen Christen tatsächlich nicht ohne Gott. Denn die Pointe des christlichen Glaubens im Umgang mit gut und böse ist gerade der „hermeneutische Umweg“ (Dalferth) über Gott: Gut und böse bestimmen sich im christlichen Glauben, und damit letztlich auch in der christlichen Morallehre, von Gott her, der das summum bonum, das Höchste Gut ist. Gut handeln wir, wenn wir dabei dem Willen Gottes entsprechen, böses Handeln ist widergöttliches Handeln.

Wenn wir in die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden treten, dann können wir unseren Glauben nicht einfach voraussetzen. Und da es nach katholischer Auffassung nun einmal so ist, daß Glaube und Vernunft sich nicht widersprechen, nicht widersprechen können (siehe Dei Filius, 25), können wir unsere Positionen auch Nicht- oder Anders-Glaubenden unter Absehung von der Offenbarung erklären und begründen. Ob diese aber unsere Vernunftbegründung teilen, hängt dann doch wieder von ihren (meinst unthematisierten) Voraussetzungen ab.

So, isch ‚abe fertig und gebe ab an die Moralphilosophie. JoBo, bitte übernehmen Sie!

Die Braut des Lammes hatte recht. Das Omen ist um einiges besser als der Exorzist, zumindest der erste Teil. Mir ging es so, daß ich mich die ganze Zeit des Filmes in der Sicherheit wiegte, daß Damien der Antichrist ist und der Vater Thorn doch endlich mal die Augen für die Realität öffnen solle.

Und dann versucht er am Ende tatsächlich, seinen Sohn zu töten und wird bei diesem Versuch von der Polizei erschossen. Hat das Böse also gewonnen. Hat es das? Die nächsten vier, fünf Sätze stellen alles in Frage, was ich in den vorangehenden anderthalb Stunden für „die Wahrheit[tm]“ gehalten hatte. Vielleicht waren die ganzen Todesfälle ja tatsächlich bloß Unglücksfälle. Jeder für sich war es jedenfalls, auch wenn sie stellenweise ziemlich kuriose Umstände hatten (siehe Video, aber bitte erst ab 16 Jahren).

Vielleicht war Robert Thorn über diese ganzen Todesfälle tatsächlich wahnsinnig geworden? Wer kann „der Welt[tm]“ verdenken, daß sie genau das meint? Das einzige harte Faktum ist das Muttermal in Form der drei Sechsen, und wie genau kann man das denn auf dem Hinterkopf unter den Haaren erkennen? Vielleicht doch alles nur Täuschung? Aber dann die Schlußszene: Damien ist genau dort gelandet, wo er laut Prophezeiung herkommen soll: im Zentrum der Macht. Der US-Präsident hat sich des Kindes seines ehemaligen Botschafters angenommen.

Hier kann man wirklich etwas über das Wesen des Bösen lernen: Es versteckt sich hinter scheinbaren Zufällen, hinter Ereignissen, die jedes für sich alles andere als eindeutig sind, bedient sich vieler unwissender Handlanger, und die wissenden Handlanger sind kaum von den unwissenden oder gar den Unbeteiligten zu unterscheiden, ja, die Polizisten, die Robert Thorn in Nothilfe erschießen, sind sogar der Meinung, dadurch dem Guten zu dienen. Der Film zeigt, wie das Böse in eine scheinbare Idylle einbricht, zugleich aber fast nie unter seinem eigenen Namen erscheint und sogar den täuschen kann, der es als das erkannt zu haben meint, was es ist – in diesem Fall den Zuschauer. Eine grandiose Geschichte, die man gesehen haben muß! (Und, wo ich mir gerade das Video nochmal angeguckt habe, grandiose Bilder! Der Film braucht eigentlich kaum Text!)

Dagegen ist der zweite Teil eigentlich nicht der Rede wert. Er ist ein Splatterfilm, noch dazu ein schlechter (insbesondere, wenn man die Bilder mit dem ersten vergleicht). Ok, man kann einem Film von 1978 nicht vorwerfen, daß er nicht über die technischen Möglichkeiten von heute verfügt und die Splatterszenen heute eher ein amüsiertes Lächeln hervorrufen. Sehr wohl kann man ihm aber vorwerfen, die Szenen nur lose verbunden aneinandergereiht zu haben, ohne eine Geschichte zu erzählen, und auf der einen Seite voyeuristisch Splatter und Gore zeigen zu wollen (und dafür auf Spannung und Dramatik zu verzichten), es dann aber nicht durchzuziehen. Das eigentliche Thema des Filmes hätte das „Coming of Age“ des Antichrist sein müssen. Das spielt er aber nicht einmal ansatzweise in der psychischen Dynamik aus, die nötig gewesen wäre, um den Film fesselnd zu machen: Damien liest Offb 13, entdeckt sein Muttermal, rennt an den See, brüllt: „Why me?!“ und ist ab da der seiner selbst bewußte Antichrist, der sich als Serienkiller betätigt. Na super. Das einzig Übernatürliche an diesem Film ist, daß Damien nie Hand anlegen muß.

Was mich an beiden Filmen stört, ist die Ängstlichkeit, ja geradezu Panik, mit der diejenigen handeln, die Damien als den Antichrist erkannt haben (mit Ausnahme von Vater und Onkel Thorn sowie der Nebenrolle des Exorzisten Carl Bugenhagen). Während das im ersten Teil noch halbwegs stimmig ist, handelt es sich doch in einem Fall um einen Priester, der jahrelang dem Teufel gedient hat und sich nicht vorstellen kann, daß Christus ihm das vergeben könne, und im anderen um einen Journalisten, der christliche Symbole dann in einem magischen-abergläubigen Mißverständnis wenig erfolgreich zu seinem Schutz verwendet, aber nicht wirklich glaubt, ist das ganze im zweiten Film nur noch Klischee, dem man allenfalls zugute halten kann, daß auf diese Weise diejenigen, die Damien als den Antichristen erkannt haben, von vorne bis hinten als durchgeknallte religiöse Fanatiker erscheinen. Oh, wo ich’s jetzt genauer betrachte, ist dieses Klischee also tatsächlich die einzige Komplexität des Filmes…

Nunja, im Netz habe ich gelesen, der dritte solle noch schwächer, und der vierte eigentlich nichts mehr mit dem Original zu tun haben. Lohnt es sich wohl, sich die anzutun?

Denn die Einwohner von Jerusalem und ihre Führer haben Jesus nicht erkannt, aber sie haben die Worte der Propheten, die jeden Sabbat vorgelesen werden, erfüllt und haben Ihn verurteilt.
(Apg 13,27, aus der heutigen Lesung)

Ich habe mich immer gewundert, warum Matthäus nach dem Ende des Judas (3 Verse) noch so viel über das Blutgeld (5 Verse) schreibt (Mt. 27,3-10). Die Verwunderung wird nicht unbedingt geringer dadurch, daß es auch eine — abweichende — lukanische Variante aus dem Munde Petri gibt (Apg 1,16-20). Auffällig ist aber an beiden Stellen, daß sie auf ein Schriftzitat zulaufen. Es geht also nicht so sehr um Judas als um eine theologische Aussage, die sich im Schriftzitat zuspitzt. Das ist bei der Apostelgeschichte recht einfach: Über „sein Gehöft soll veröden“ (Ps 69,26) kommt Petrus zu „sein Amt soll ein anderer erhalten“ (Ps 109,8).

Ok, das ist für heutige Zitierstandards etwas schwach begründet, mal eben 40 Psalmen weiterzuspringen. Allerdings war das damals etwas anders. Es handelt sich eben nicht um Steinbruchexegese, sondern es ist immer auch der ganze Psalm gemeint. Und dann paßt es in der Petrusrede doch halbwegs zusammen, wenn auch eher assoziativ: Beide Psalmen lassen sich auf das Verhältnis Judas — Jesus hin lesen, wobei Ps 69 eher die jesuanische Perspektive und Ps 109 die des Judas in den Vordergrund stellt.

Tja, und von dieser Erkenntnis ausgehend, habe ich mich dann mal dem Schriftzitat in Mt 27,9f. gewidmet. In der gedruckten Fassung sind die Schriftzitate ja convenient in kursiv hervorgehoben und die Quellen am Ende des Abschnitts angegeben.

Erste Überraschung: Was da von Matthäus etwas leichtfertig Jeremia zugeschrieben wird, entpuppt sich als „freie Verbindung von Stellen aus Sacharja, Jeremia und Exodus“ (Fn. zu 27,9), genauer: Sach 11,12f., Jer 18,2f., 32,8f. und Ex 9,12 in der griechischen Übersetzung der Septuaginta.

Zweite Überraschung: Das Zitat ist bei genauerer Betrachtung mit Hilfe der EÜ nirgendwo zu finden. Es handelt sich eher um Assoziationen (siehe die Petrusrede in Apg) als um Belegstellen:

Mt 27,9f. Sach 11,12-13 Jer 18,2f. Jer 32,8f. Ex 9,12
9So erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Sie nahmen die dreißig Silberstückedas ist der Preis, den Er den Israeliten wert war10und kauften für das Geld den Töpferacker, wie mir der HErr befohlen hatte. 12Ich sagte zu ihnen: Wenn es euch recht scheint, so bringt mir meinen Lohn; wenn nicht, so laßt es! Doch sie wogen mir meinen Lohn ab, dreißig Silberstücke. 13Da sagte der HErr zu mir: Wirf ihn dem Schmelzer hin! Hoch ist der Preis, den Ich ihnen wert bin. Und ich nahm die dreißig Silberstücke und warf sie im Haus des HErrn dem Schmelzer [andere übersetzungsmöglichkeit: ins Schatzhaus] hin. 2Mach dich auf und geh zum Haus des Töpfers hinab! Dort will Ich dir Meine Worte mitteilen. 3So ging ich zum Haus des Töpfers hinab. Er arbeitete gerade mit der Töpferscheibe. 8Tatsächlich kam Hanamel, der Sohn meines Onkels, dem Wort des HErrn gemäß zu mir in den Wachhof und sagte zu mir: Kauf doch meinen Acker in Anatot [im Land Benjamin]; denn du hast das Erwerbs- und Einlösungsrecht. Kauf ihn dir! Da erkannte ich, daß es das Wort des HErrn war. 9So kaufte ich von Hanamel, dem Sohn meines Onkels, den Acker in Anatot und wog ihm das Geld ab; siebzehn Silberschekel betrug die Summe. 12Aber der HErr verhärtete das Herz des Pharao, so daß er nicht auf sie hörte. So hatte es der HErr dem Mose vorausgesagt.
Ich habe die Parallelen großzügig farblich hinterlegt, also nicht kleinkarriert leichte grammatikalische Abweichungen unberücksichtigt gelassen. Bei der Ex-Stelle ist Übereinstimmung im Griechischen allerdings tatsächlich 100%. Mit farbigem Text habe ich die weiteren Parallelen zu der Judas-Perikope markiert.

Es wird sehr deutlich, daß die Bezüge zu Jeremia eher marginal sind, die zum Sacharja-Text aber sehr groß. Hat Matthäus also Jeremia und Sacharja verwechselt und den Rest dazufabuliert? Eher unwahrscheinlich. Denn der Sacharjatext liegt der ganzen Vorpassionsgeschichte zugrunde. Bis auf den Teil mit dem Kauf des Töpferackers findet man die gesamte Judas-Perikope bei Sacharja, und auf die dreißig Silberstücke legte Matthäus bereits im Kapitel zuvor großen Wert. Er wird also schon gewußt haben, daß er hier Sacharja zitiert und nicht Jeremia.

Wahrscheinlicher scheint mir, daß er wegen der eher marginalen Bezüge ausdrücklich auf Jeremia hingewiesen hat. Denn die Bezüge kann man leicht übersehen, handelt es sich doch im wesentlichen nur um den Namen „Töpferacker“. Die damit angesprochenen Stellen bei Jeremia sind aber wichtige prophetische Reden (Töpfergleichnis) bzw. Taten (prophetischer Ackerkauf)! Im Gegensatz zum Exodus-Bezug, der wirklich eher marginal (obgleich es sich um eine zentrale Stelle handelt) ist, können sie kein Zufall sein, denn der Name „Töpferacker“ spielt sonst nirgendwo eine Rolle.

Hinzu kommt noch, daß es sich hier — abgesehen von Ps 22, der als Subtext die gesamte Passion bestimmt — um das letzte Schriftzitat bei Matthäus handelt. Die Schriftzitate bei Matthäus sind bekanntlich zentral. Sie sollen Jesus als die Erfüllung der alttestamentlichen Prophetien erweisen, insbesondere in der Form des Reflexionszitats, das häufig mit „damit sich erfüllte“ oder wie hier „so erfüllte sich“ eingeleitet wird. Darauf verzichtet Matthäus in der Passion. Obwohl er dort auf Schritt und Tritt die Kreuzigung als Erfüllung des Psalms 22 deutet, überläßt er es Johannes (19,24), auf das Loswerfen um das Gewand als Schrifterfüllung hinzuweisen.

Man merkt wohl, worauf ich hinaus will: Die Perikope um das Ende des Judas und vor allem die Geschichte um das Blutgeld sind nach meinem Eindruck die matthäische (Voraus-)Deutung des Kreuzesopfers. Und die hat es in sich, wenn man die Bezugstellen des Reflexionszitats genauer und vor allem in ihrem Kontext unter die Lupe nimmt:

Sacharja 11
Hier ist die Rede von schlechten Hirten, deren prächtige Weiden zerstört sind, von Mächtigen, die vernichtet wurden. Von Käufern, die die gekauften Schafe ohne Strafe schlachten, und Verkäufern, die sich über ihren Reichtum freuen, aber keinerlei Mitleid mit den Schafen haben. So verkündet dann der HErr:

„Wahrhaftig, Ich habe kein Mitleid mehr mit den Bewohnern des Landes – Spruch des HErrn. Seht, jeden Menschen liefere ich seinem Nächsten aus und seinem König. Sie zerschlagen das Land und Ich rette es nicht aus ihrer Hand.“

Als ob das, angewandt auf Judas oder vielmehr die Hohenpriester, nicht schon kraß genug wäre — die Hohenpriester zerschlagen durch ihr Handeln das Land –, kommt das dicke Ende noch, nämlich in Sacharjas prophetischer Handlung. Er nimmt sich zwei Ruten, nennt sie „Freundlichkeit“ und „Verbindung“ und hütet damit die Herde. Die anderen Hirten werden seiner überdrüssig, was auf Gegenseitigkeit beruht, und er sagt:

Ich hüte euch nicht. Was im Sterben liegt, soll sterben; was sich verloren hat, sei verloren; und von den Übriggebliebenen soll einer des andern Fleisch fressen. Dann nahm ich meine Rute Noam [Freundlichkeit] und hieb sie in Stücke, um Meinen Bund zu zerbrechen, den Ich mit allen Völkern geschlossen hatte. So wurde er an diesem Tag zerbrochen.

Auf die fragliche Matthäusstelle angewendet kann das nichts andere bedeuten als: Im Kreuz beendet GOTT den Alten Bund!

Aber halt! Folgt nicht erst jetzt die Stelle mit dem Geld, die Matthäus tatsächlich zitiert? Oh ja, aber es wird nicht besser, im Gegenteil:

Danach hieb ich meine zweite Rute, Hobelim [Verbindung], in Stücke, um den brüderlichen Bund zwischen Juda und Israel zu zerbrechen. Der HErr sagte zu mir: Nimm nochmals das Gerät des nichtsnutzigen Hirten! Denn Ich lasse einen Hirten im Land auftreten. Um das Vermißte kümmert er sich nicht, das Verlorene sucht er nicht, das Gebrochene heilt er nicht, das Gesunde versorgt er nicht. Stattdessen ißt er das Fleisch der gemästeten Schafe und reißt ihnen die Klauen ab. Weh Meinem nichtsnutzigen Hirten, der die Herde im Stich läßt. Das Schwert über seinen Arm und über sein rechtes Auge! Sein Arm soll völlig verdorren, sein rechtes Auge soll gänzlich erblinden.

Hier ist nur noch von einem Hirten die Rede, und was hier zerbrochen wird, ist der Bund zwischen Israel (dem Gottesstreiter, also auf die Mt-Stelle bezogen wohl Jesus) und Judas.

Kraß, krasser, am krassesten. Aber noch lange nicht genug. Denn es geht weiter:

Töpfergleichnis
Jeremia beobachtet einen Töpfer:

Mißriet das Gefäß, das er in Arbeit hatte, wie es beim Ton in der Hand des Töpfers vorkommen kann, so machte der Töpfer daraus wieder ein anderes Gefäß, ganz wie es ihm gefiel. Da erging an mich das Wort des HErrn: Kann Ich nicht mit euch verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? Spruch des HErrn. Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in Meiner Hand, Haus Israel.

Auch hier kündigt Gott dem Volk Israel an, daß Er jedes Volk oder Reich auch ausreißen und vernichten könne, darauf aber verzichtet, wenn es auf Seine Drohung hin umkehrt. Doch auch umgekehrt reue Ihn das Gute, das Er einem Volk getan habe, wenn es tut, was Ihm mißfällt.

Daher schickt Er Jeremia zum Volk Juda und den Einwohnern Jerusalems mit einer Unheilsbotschaft, die Er nicht auszuführen gedenkt, wenn sie umkehrten. Doch Er weiß bereits, daß sie nicht umkehren werden. Und dann wird’s wieder kraß:

Deshalb spricht der HErr: Fragt unter den Völkern, wer je Ähnliches gehört hat. Ganz Abscheuliches hat die Jungfrau Israel getan. […] Mein Volk aber hat Mich vergessen; nichtigen Götzen bringt es Opfer dar. Doch Ich lasse sie straucheln auf ihren Wegen, den altgewohnten Bahnen, so daß sie auf ungebahnten Pfaden gehen müssen. Ich will ihr Land zu einem Ort des Entsetzens machen, zum Gespött für immer. Jeder, der dort vorbeikommt, wird sich entsetzen und den Kopf schütteln. Wie der Ostwind zerstreue Ich sie vor dem Feind. Ich zeige ihnen den Rücken und nicht das Gesicht am Tag ihres Verderbens.

Das Töpfergleichnis bestätigt die Interpretation des Sacharjabezuges: Auch hier kündigt Gott an, Seinen Bund mit dem Volk zu beenden. Und zwar nicht, weil Er untreu geworden wäre, sondern weil die Menschen Ihm untreu geworden sind. Weil das Volk den Bund gebrochen hat, ist auch Er nicht mehr an Seinen Bund gebunden. (Soviel zur Argumentation, der Alte Bund sei für die Juden immer noch Heilsweg, weil Gottes Treue gegen einen Bruch dieses Bundes stehe. Um es mit Luther [der in diesem Punkt, es ging um die Realpräsenz, ja tatsächlich recht hatte] zu sagen: Streicht mir die Stellen, die das Gegenteil belegen, aus der Bibel, und wir können über alles reden…)

Wie zu erwarten macht das für Jeremia bloß alles noch schlimmer, so daß er sich in seiner Verzweiflung mit einer Art Fluchpsalm an Gott wendet:

Gib du, HErr, Acht auf mich und höre das Gerede meiner Widersacher! Darf man denn Gutes mit Bösem vergelten? Denn sie haben (mir) eine Grube gegraben. Denk daran, wie ich vor Dir stand, um zu ihren Gunsten zu sprechen und Deinen Zorn von ihnen abzuwenden. Darum gib ihre Kinder dem Hunger preis und liefere sie der Gewalt des Schwertes aus! Ihre Frauen sollen der Kinder beraubt und zu Witwen werden, ihre Männer töte die Pest, ihre jungen Männer erschlage das Schwert in der Schlacht. Geschrei soll man hören aus ihren Häusern, wenn Du plötzlich plündernde Horden über sie kommen läßt. Denn sie haben (mir) eine Grube gegraben, um mich zu fangen; meinen Füßen haben sie Schlingen gelegt. Du aber, HErr, Du kennst all ihre Mordpläne gegen mich. Nimm für ihre Schuld keine Sühne an, lösch bei Dir ihre Sünde nicht aus! Laß sie zu Fall kommen vor Deinen Augen, handle an ihnen zur Zeit Deines Zorns!

Diese Stelle auch noch auf die Kreuzigung Jesu zu beziehen, machte zwar deren Gerichtscharakter deutlich, ließe aber keinerlei Hoffnung mehr auf ein gutes Ende. Dann bedeutete der Tod Jesu tatsächlich ein Scheitern Gottes im Werben um den Menschen. Dann wäre der Mensch unrettbar verdammt und dem Herrn dieser Welt ausgeliefert.

Vielleicht ist es diese Überlegung, die Matthäus dazu bewogen hat, vom Töpferacker zu reden, also nicht nur auf das unheilvolle Töpfergleichnis zu verweisen, sondern im selben Atemzug auch auf Jeremias prophetischen Ackerkauf. (Zumal ja auch die Apg von einem Ackerkauf weiß, wenn auch durch Judas selbst.)

Ackerkauf
Die Ausgangslage ist düster: Nebukadnezar belagert Jerusalem, das angekündigte Unheil ist also eingetreten, und Jeremia selbst ist Gefangener des Königs Zidkija. Entsprechend der Vorhersage Gottes kommt in genau dieser düsteren Situation, in der sich alles Unheil verwirklicht, das Jeremia angekündigt hat, ein Cousin Jeremias namens Hanamel und will seinen Acker verkaufen. Hintergrund ist, wie durch den Bezug auf das „Einlösungsrecht“ deutlich wird, daß Hanamel in einer Notlage war (was auf dem Hintergrund des Krieges mit den Babyloniern wohl nicht nur bei ihm so war). Gerade in dieser Situation, in der eigentlich weder für das Land im allgemeinen noch für Jeremia im besonderen eine realistische Hoffnung auf Besserung bestand, kaufte Jeremia dennoch den Acker auf das Wort des HErrn hin — und zwar in aller Öffentlichkeit. Er läßt die Kaufurkunden in Tonkrüge stecken, damit sie lange Zeit erhalten blieben, mit der Begründung:

Denn so spricht der HErr der Heere, der Gott Israels: Man wird wieder Häuser, Äcker und Weinberge kaufen in diesem Land.

Dieser Ackerkauf steht zudem an einer Scharnierstelle im Buch Jeremia: Es ist der Übergang von den unzähligen Unheilsprophetien Jeremias zu den (vergleichsweise wenigen, aber kräftigen) Heilsworten Gottes. Der Ackerkauf bringt als prophetische Handlung zum Ausdruck, was in den folgenden Texten ausdrücklich gesagt wird: Es wird eine Zukunft für das Land und seine Bewohner im allgemeinen sowie Jeremia im besonderen geben.

Siehe, Ich bin der HErr, der Gott aller Sterblichen. Ist Mir denn irgendetwas unmöglich? Darum – so spricht der HErr: Ich gebe diese Stadt in die Hand der Chaldäer und in die Hand Nebukadnezzars, des Königs von Babel, und er wird sie einnehmen. Die Chaldäer, die gegen diese Stadt ankämpfen, werden eindringen, die Stadt in Brand stecken und einäschern samt den Häusern, auf deren Dächern man dem Baal Rauchopfer und fremden Göttern Trankopfer dargebracht hat, um Mich zu erzürnen. Denn die Leute von Israel und Juda haben von Jugend an immer nur das getan, was Mir mißfiel, ja, die Leute von Israel haben Mich durch ihr Verhalten stets nur erzürnt – Spruch des HErrn. In der Tat, diese Stadt hat seit ihrer Gründung bis zum heutigen Tag Meinen Zorn und Grimm erregt, so daß Ich sie von Meinem Angesicht verstoßen muß wegen all des Bösen, das die Leute von Israel und Juda verübt haben, um Mich zu erzürnen, sie, ihre Könige, ihre Beamten, ihre Priester und ihre Propheten, die Leute von Juda und die Einwohner Jerusalems. Sie haben Mir den Rücken zugewandt und nicht das Gesicht. […] Jetzt aber – so spricht der HErr, der Gott Israels, über diese Stadt, von der ihr sagt, sie sei durch Schwert, Hunger und Pest dem König von Babel preisgegeben: Seht, ich sammle sie aus allen Ländern, wohin ich sie in Meinem Zorn und Grimm und in großem Groll versprengt habe. Ich bringe sie wieder zurück an diesen Ort und lasse sie in Sicherheit wohnen. Sie werden Mein Volk sein und Ich werde ihr Gott sein. Ich bringe sie dazu, nur eines im Sinn zu haben und nur eines zu erstreben: Mich alle Tage zu fürchten, ihnen und ihren Nachkommen zum Heil. Ich schließe mit ihnen einen ewigen Bund, daß Ich Mich nicht von ihnen abwenden will, sondern ihnen Gutes erweise. Ich lege ihnen die Furcht vor Mir ins Herz, damit sie nicht von Mir weichen. Ich werde Mich über sie freuen, wenn Ich ihnen Gutes erweise. In Meiner Treue pflanze Ich sie ein in diesem Land, aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele. Denn so spricht der HErr: Wie Ich über dieses Volk all das große Unheil gebracht habe, so bringe Ich über sie all das Gute, das Ich ihnen verspreche. Man wird wieder Felder kaufen in diesem Land, von dem ihr sagt: Es ist eine Wüste, ohne Mensch und Vieh, der Hand der Chaldäer preisgegeben. Äcker wird man wieder kaufen für Geld, Kaufurkunden ausstellen und versiegeln und Zeugen hinzunehmen im Land Benjamin, in der Umgebung Jerusalems, in den Städten Judas und des Gebirges, in den Städten der Schefela und des Negeb. Denn Ich wende ihr Geschick – Spruch des HErrn. (Jer 32, 27-33.36-44)

Gott kündigt also an, daß er das Unheil vollstrecken, den Bund als beendet ansehen wird, wie im Töpfergleichnis und anderswo angekündigt (man beachte den Verweis auf Rücken und Gesicht — ius talionis…). Aber Er kündigt zugleich einen neuen, ewigen Bund an, den Er schließen wird und in dem Er die Menschen mit allen Mitteln ausstatten wird, die sie brauchen, um gottesfürchtig zu sein und zu bleiben.

Der knappe Jeremiabezug in der Perikope vom Ende des Judas bei Matthäus deutet also in großer Tiefe die bevorstehende Passion, und es sind gerade diejenigen, die die Schuld an Jesu Kreuzestod haben, die in ihren Handlungen unwissentlich prophetisch deuten, was im folgenden auf einer tieferen, geistigen und metaphysischen Ebene passieren wird.

In dieser Interpretation erscheint dann der Bezug auf die Exodusstelle auch nicht mehr allein als zufällig. Es könnte durchaus sein, daß Matthäus auch an die Plagen in Ägypten dachte, an das Unheil, das der verstockte Pharao als Führer über sein Volk brachte (wie die Hohenpriester über ihr Volk), die zugleich die Voraussetzung für die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft waren. Nicht umsonst ist der Durchzug durchs Rote Meer die einzige Lesung der Osternacht, die niemals und unter keinen Umständen entfallen darf. (Was leider nicht heißt, daß man sich auch daran hielte. Mir erklärte ein emeritierter Theologieprofessor mal, angesichts des Nahostkonflikts könne er diese Lesung gerade in der Osternacht nicht ertragen und habe daher in seiner Gemeinde durchgesetzt, daß sie nicht gelesen werde. *facepalm*)

Diese unscheinbare und in ihrer Ausführlichkeit geradezu irritierende, störende Stelle hat es theologisch also in sich.

Und, wie Dorothea es so treffend auf den Punkt brachte, „da man schließlich so etwas heute einzeln erklären muß„: Matthäus ist selbst Jude und er schreibt, so der weitgehende Konsens der Exegeten, für eine judenchristliche Gemeinde. Es geht hier also nicht darum, antijüdische Gefühle zu wecken und sie pauschal zu Gottesmördern zu erklären. Nein, es geht um viel mehr, wie schon die Rede von Völkern und Reichen bei Jeremia und vom „Bund, den ich mit allen Völkern geschlossen hatte“ bei Sacharja zum Ausdruck bringen. Es geht darum, daß der Mensch von sich aus selbst im Alten Bund nicht in der Lage war, Gott (dauerhaft) zu fürchten und seinen Gesetzen entsprechend zu leben. Der Alte Bund, das Gesetz konnte nur die Sünde als Sünde offenbar machen, wie Paulus schreibt (Röm 2-8, v.a. Röm 7). Das jüdische Volk steht also erkennbar pars pro toto für die Menschheit.