Bis jetzt war ich durchaus milde gestimmt und versuchte nach den anfänglich erfreulich wenig nervigen Erlebnissen einen positiven Blick auf den ÖKT zu entwickeln. Nun war ich aber gerade auf eine Veranstaltung über Mystik im Netz. Da ging es erstmal eine Dreiviertelstunde lang um Mystik ohne einen wirklich relevanten Bezug zum Netz. Dann kamen ein katholischer und ein „evangelische Kirchensteuer zahlender“ (Zitat) Professor aufs Podium und begannen tatsächlich mal übers Netz zu reden und Beispiele von „Mystik“ im Netz zu schildern.
Was sie tatsächlich beschrieben hatte relativ wenig mit echter Mystik zu tun, ja nicht einmal „Spiritualität“, sondern es ging um religiös aufgemotzte, tw. auch überhöhte Internetseiten, -communitys und -foren. Auch ein interessantes Thema, aber nicht das, was ich erwartet hatte. Ich hatte die Frage erwartet, wie Mystik im Netz präsentiert werden kann und ob es möglich ist, über das Netz (als Medium) mystische Erfahrungen zu vermitteln. Die Ansätze, die es dazu gab, gingen jedoch sofot dazu über, das Medium als die Message zu betrachten: Das Netz ist mystisch, denn es ermöglicht eine vom Körper und der materiellen Realität gelöste Erfahrung. Holy Moses!
Klar kann man auch darüber diskutieren, und wenn man das auf vernünftigem Niveau täte, wäre das auch sicher interessant. Aber von den technischen Hintergründen, dem Stellenwert der als Beleg angeführten Internetphilosophen und den seit mindestens 9/11 deutlich ins Dunkel getauchten frühen Internetutopien (die, wie Florian Rötzer, Chefredakteur von Telepolis, auf einer gestrigen Veranstaltung feststellte, zwar nicht völlig obsolet sind, aber doch einen ganz anderen Schwung gefunden haben, nämlich statt das Real Life ins Netz aufzulösen, das Netz per augmented reality ins Real Life zu integrieren) hatten die offenbar keinen blassen Schimmer. Daß kein einziges Beispiel aus dem Web 2.0 auftauchte, daß jegliche Multimedialität unter den Tisch viel (der Evangele: „Fernsehen ist katholisch, das Internet evangelisch, denn katholisch = Bilder und Angst vor dem Wort, evangelisch = Wortzentriert“) paßt da super ins Bild.
Als der Katholik ganz vorsichtig darauf hinwies, daß in der Literatur auch die entgegengesetzte Auffassung vertreten wird (Vielfalst, ja Heterogenität des Netzes => Vielfalt der Frömmigkeit, gerade auch der Volksfrömmigkeit, d.h. Vielfalt der Gotteszugänge im katholischen Glauben) wurde der Kirchensteuerprotestant plötzlich polemisch und zog über die hierarchische Kirchenstruktur her, die man ins Netz nie reinkriegen könnte. Was ist denn bitte noch hierarchischer als das Internet? Jede URL ist hierarchisch aufgebaut, die Verwaltungsstruktur ist hierarchisch (wahrscheinlich hätte der Kerl die ICANN für einen Treinkgefäßeproduzenten gehalten), selbst mit der DENIC ist (mit Ausnahme der paar Privilegierten) nur über Zwischenhändler Kommunikation möglich. Das einzige, was im Netz tatsächlich „anarchisch“ ist, das ist die Vielfalt der Seiten, jeder Hansel kann seine eigene Seite ins Netz stellen, seine eigene Religion gründen (ob er damit aber auch wahrgenommen wird, ist aber eine andere Frage, die der Typ auch nicht thematisierte).
Er selbst spach von einem Individualisierungsschub, was ja zweifellos nicht ganz falsch ist. Die aber einseitig mit dem Protestantismus in Verbindung zu bringen, implizit der katholischen Kirche Vermassung vorzuwerfen, ist doch hahnebüchener Unsinn (auch wenn das Heike Schmoll in der FAZ auf etwas höherem Niveau auch regelmäßig tut). Der soll mal das eine oder andere Buch unseres Papstes lesen: Nichts ist für ihn schlimmer als die Vermassung. Aber er sieht eben auch das andere Extrem: die Vereinzeilung. Was nutzt dem Individuum seine Individualität, wenn sie zu totaler Einsamkeit führt? Jeder Mensch sucht (auch) die Gemeinschaft, sei es in der Blogoeszese, Facebook oder auf dem ÖKT (jedem wie’s beliebt). Da spiegelt das Netz tatsächlich eher Katholizität: Die (hierarchische) Struktur ist das eine, und sie ist notwendig. Aber sie ist nichts, wenn sie nicht gefüllt wird! Und gefüllt wird sie nicht durch lauter prästabilierte Monaden, sondern durch Gemeinschaft! Wollen wir hoffen, daß „Communio und Community“ morgen besser wird!