Postmoderne

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Im letzten Post schrieb ich, dass Er mir zeigte, „wie falsch die bisher von mir fast unhinterfragt übernommenen Kategorien waren“, ohne dass ich erklärt hätte, was ich damit meinte. Ich wollte den Post nicht überfrachten. Es ist aber die eigentliche Erkenntnis aus der geschilderten Erfahrung, und sie verändert nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Entschiedenheit.

Bisher bewegte sich mein Denken über die gegenwärtige kirchliche Situation – wie gesagt, unhinterfragt – in den üblichen, in der Regel digitalen Kategorien: „konservativ“ vs. „progressiv“, „vor-“ und „nachkonziliar“, „Traditionalisten“ und „Modernisten“. So richtig hilfreich waren diese Kategorien nicht, um die Gegenwart zu verstehen. Es blieb immer ein viel zu großer Überschuß nicht damit erklärbarer Umstände, was wesentlich daran liegen dürfte, daß es sich um (kirchen-)politische Kategorien handelt, die als solche von der Wahrheitsfrage absehen. Hilfreicher war da das Verständnis als Deutungsmusterkonflikt mit einer dritten Kategorie (noch dazu weniger aggressiv benamst): „traditional“, „modern“, „post-modern“ (M. Widl), wobei das moderne Deutungsmuster das älteste war und das traditionale erst Anfang der 1980er und das postmoderne in den 1990ern wahrnehmbar wurde. Trotzdem konnte ich mich dort nicht recht verorten; ästhetisch war/bin ich nix davon. Auch fühlte ich mich mit dem einfachen Ausweg des „dritten“ Weges „postmodern“ nicht wohl; das wäre zu einfach (und klingt zu dialektisch – These, Antithese, Synthese).

Was mir die Ereignisse der letzten zwei Jahre gezeigt haben, ist, dass diese Kategorien völlig an der Sache vorbei gehen. Es ist kein Deutungsmusterkonflikt, er ist kein Konflikt zwischen Vor- und Rückwärtsgewandten. Es gibt nur zwei ernst zu nehmende Kategorien: Christussucher und Nicht-Christussucher – und die gibt es in jedweder Ausprägung, modern, traditional, postmodern. Die Skala ist hier sicherlich breit und man kann die Kategorien weiter aufsplitten, etwa in Gläubige (Sich-Vergöttlichung-Schenken-Lassende), Suchende, Indifferente und Satanisten (Selbst-Vergöttlicher) (vgl. S. 89f. meiner Diss). Aber es bleibt bei der grundlegenden Entscheidung: Suchst Du Christus – oder nur Dein eigenes Wohlergehen?

Was landauf, landab abgeht, hat nichts mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil oder gar seiner Liturgiereform zu tun, nicht einmal mit dem Konzil der Medien und schon gar nicht mit irgendeinem obskuren Geist des Konzils. Es ist Folge eines steifen, unveränderlichen, christusfernen Traditionalismus, der sich in agnostischer Unentschiedenheit schließlich von der letzten Ehrfurcht vor Gott und der Gottesverehrung frei gemacht hat.

Spannenderweise ist der von der Kirche im 19. Jahrhundert verurteilte Traditionalismus ein direkter Vorläufer des Modernismus, und seine Vertreter, insbesondere die erste Tübinger Schule aus den 1830er und 1840er Jahren, feierten Mitte des 20. Jahrhunderts fröhlich Urständ, und die bis heute gemeinsame Wurzel ist – Agnostizismus: Glaubst Du das wirklich? Kann man das überhaupt glauben? Wie kannst Du Dir so sicher sein? Das ist mir zu dogmatisch! Zweifel gehören zum erwachsenen Glauben. – Alles falsch: „Zehntausend Schwierigkeiten machen noch nicht einen Zweifel“ (Seliger John Henry Newman).

Weitläufig erleben wir noch heute, im Jahr 2019, die vorkonziliare Bet-Sing-Messe: mit nur einer Lesung, den Kurzfassungsliedern anstelle der Ordinariumsgebete (was vorkonziliar liturgisch sogar noch einigermaßen Sinn ergab, aber in den Messen in der außerordentlichen Form, die ich jemals besucht habe – was zugegebenermaßen so viele nicht sind –, war viel mehr von Sacrosantum Concilium zu spüren als in einem durchschnittlichen deutschen Gemeindegottesdienst), dem „Zwischengesang“ anstelle des Antwortpsalms und derselben Lieblosigkeit und Schluderigkeit, mit der viele altehrwürdige Meßfeiern verunstaltet wurden („ich schaffe eine gültige Messe in 9 Minuten!“) – es hat sich nur das Meßbuch geändert, das mißachtet wird. Dafür ist der Mensch in den Mittelpunkt des „Gottes“dienstes getreten, und die Gemeinschaft unter den „Gläubigen“ geht über alles. Oder anders gesagt: Die Liturgiereform ist in Deutschland noch überhaupt nicht angekommen! (Disclaimer: Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, aber deren Zelebranten sind dann entweder 75+ oder <45 Jahre alt und/oder sind schon lange in der Schublade "konservativ" gelandet.)

Oder genauer: in der meistens zu erlebenden deutschsprachigen Liturgie. Egal ob bei den Kroaten, den Portugiesen oder den Amerikanern – in jeder, wirklich in jeder Liturgie für Fremdsprachler, die ich in den letzten beiden Jahren besucht habe, konnte offenbar jeder ganz selbstverständlich das Ordinarium auswendig sprechen, also inklusive Gloria und Großem (!) Glaubensbekenntnis. Psalm und Halleluja sind hier völlig normal, bevor man sie durch ein Lied ersetzt, spricht man sie, und es scheinen keine ach so pastoralen Gründe für das Weglassen einer Lesung zu existieren (wenn man den ganzen unliturgischen Killefitt zwischendrin weglässt, dauert es mit zwei Lesungen auch nicht länger…). Absolut entlarvender Höhepunkt war die Formulierung des englischen Zelebranten, mit der er die Erklärung einleitete, warum man sich heute ausnahmsweise mit Stuhl-Ellipse um Altar und Ambo inmitten des Kirchenschiffs anstatt im (riesigen!) Altarraum mit Hochaltar befinde, weil das Licht dort oben heute nicht funktioniere: „We are in the german section of the church today…“

Ich habe es so satt, irgendwelche „politischen“ oder „pastoralen“ Rücksichten zu nehmen, die letztlich zu nichts anderem als einer Schere im Kopf führen, die aus „Rücksicht“ nicht sagt, was wahr ist, sondern selbst dort schweigt, wo Reden notwendig ist, ja sogar die Wahrheit zum Schweigen zu bringen versucht, wo sie gesagt wird. Dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn überhaupt keiner versteht, was an so einer Vergewaltigung schlimm sein soll: „Das ist doch ganz normal, das machen wir doch immer so.“ – Natürlich macht der Ton die Musik und man soll die Wahrheit nicht wie ein nasses Handtuch den Leuten um die Ohren schlagen, aber dieser Einwand zeigt doch nur exakt die Schere im Kopf: Die Wahrheit zu sagen könne doch nur in der Form des nassen Handtuchs geschehen, also lieber sie verschweigen als irgendjemand irgendetwas zumuten. Das ist schlimmer als jede Häresie – das ist laaaangweilig!

Erst jetzt, wo allmählich rauskommt, dass auch andere Mißbrauchsfälle keine versehentlichen Unfälle waren, sondern dass dahinter mitunter äußerst böswillige und zerstörerische Absicht, ja manchmal sogar System steckte, und dass dieses System von Verantwortlichen gedeckt wurde, wird mir klar, dass das alles nichts mit mir zu tun hatte, dass ich niemals irgendetwas dagegen hätte tun können und dass es an vielen Orten und in großer Zahl ständig und immer wieder passiert(e). Dass hinter vielen dieser Berichte nicht nur Versehen, Unwissen oder „gut gemeint“ steckte – sondern Böswilligkeit, Glaubensabfall und Zerstörungswut: Wenn ihr Mich liebtet, hieltet ihr Meine Gebote!

Und dass meine Hilflosigkeit kein Unvermögen meinerseits, sondern Methode ist: Wenn diejenigen, die für die Menschen zum Dienst am Herrn geweiht sind, die ersten sind, die Ihn vergewaltigen, dann müssen die Menschen, die auf ihren Dienst angewiesen sind, notwendig hilflos sein. Was sollen sie denn tun? Sich die Situation „schöntrinken“ und mit vergewaltigen? Sich in ihr Schicksal ergeben und in jeder Heiligen Messe erneut erleben, wir ihr Herr und ihr geistliches Verlangen mit Füßen getreten werden? Μὴ γένοιτο! Im einen wie im anderen Falle läuft es auf Dauer darauf hinaus, sich an das Undenkbare zu gewöhnen und geistlich abzustumpfen, letztlich also zu verweltlichen. Was wohl genau das ist, was angestrebt ist.

Hier stehe ich, ich kann nicht anders. ¡Viva Cristo Rey!

Der Post-Titel ist der Schlachtruf der Edain des Nordens im Kampf gegen Morgoth. Tolkien selbst übersetzt: „Flame, light! Flee, night!“ Folgt man den Nerds und Geeks, die sich ernsthaft mit dem Sindarin auseinandergesetzt haben, müsste es soviel heißen wie: Möge Licht aufstrahlen! Möge Dunkelheit fliehen! – Wer weiß, wer Morgoth ist und was die Licht-Dunkelheit/Nacht-Dichotomie in diesem Kontext meint, kann vielleicht nachvollziehen, warum dieser Titel der einzig passende für diesen Post war!

Und überhaupt: The scale might be wide but there’s no need to be blind – between black and white there is no room for two.

Da ich mich ja nicht mehr aufregen will, muß ich mir andere Themen zum Bloggen suchen. Zugleich fehlt mir aber (noch?) die Zeit, das ursprünglich hinter der Namenswahl des Blogs stehende Anliegen wieder auszugraben. Daher ziehe ich mich erstmal auf bereits Durchdachtes zurück, das ich mehr oder weniger aus dem Ärmel schütteln kann. In der nächsten Zeit wird es, soweit ich dazu komme, also eine kleine Serie über meine Metal-Leidenschaft geben.

Den Auftakt macht, zwangsläufig, mein persönlicher Zugang, denn das ist die Brille, durch die all das Folgende (vor allem auch kritisch!) zu lesen sein wird. Natürlich gibt es Abstoßendes, Blasphemisches, Satanistisches im Metal, das auch zuerst ins Auge springt. Aber wer beim ersten Blick stehen bleibt, sich nicht darüber hinausgehend mit der Musik und der sie deutenden sozialen Praxis auseinandersetzt und auf dieser Grundlage den Metal als bestenfalls belanglos, vielleicht sogar gefährlich abtut, bleibt auf der bewußt provozierenden und irritierenden Oberfläche stehen und wird dem Metal nicht gerecht. Ist natürlich jedermans gutes Recht, auch wenn man das als selbstverschuldete Unmündigkeit kritisieren könnte und eventuell daraus resultierende Äußerungen über den Metal aller Wahrscheinlichkeit nur die Vorurteile unter Metallern bestätigen, Christen seien oberflächlich und dumm, weil sie autoritätshörig anderen für sich das Denken überlassen. (Allerdings vertrete ich die Auffassung, daß der Metal solche Leute braucht, um „gefährlich“ zu wirken. Das Schlimmste wäre, wenn ihn alle gut und toll fänden, denn dann wäre er tatsächlich belanglos, aber das nur am Rande.)

Wie auch immer, ich bin nicht neutral gegenüber dem Metal eingestellt, ganz im Gegenteil, denn er hat nicht nur wesentliche Bedeutung für meinen Lebens-, sondern auch und vor allem für meinen Glaubensweg erlangt. Ein Bekannter äußerte letztens, in unserem Alter gäbe es doch keine Gläubigen, die keine grundstürzende Bekehrung hinter sich hätten, oder kennte ich denn einen, der durch die normale Pastoral gläubig geworden sei? Nunja, im ersten Moment mußte ich widersprechen, da ich selbst eigentlich kein besonderes Bekehrungserlebnis zum Glauben hatte, es war ein langer Prozeß, der zumindest nach außen hin doch recht geradlinig wirken dürfte; jedenfalls blieb er ohne einen echten Bruch.

Bei genauerer Betrachtung war aber mein Erstkontakt mit dem Metal eine Art Bekehrung. Vorher habe ich alle Vorurteile über den Metal, die man sich nur vorstellen kann, geteilt. Satanistischer Krach ohne jeden musikalischen Anspruch. Tja, die schärfsten Kritiker der Elche waren eben früher selber welche. Dummerweise spukten (vor allem Schlagzeug-) Riffs in meinem Kopf umher, die ich noch nirgendwo in der (Mainstream-) Musik wiedergefunden hatte. Insofern war ich also auf der Suche. Ich kann mich noch erinnern, wie während einer Messe, in der ich ministrierte, ausgerechnet während der Wandlung plötzlich ein solches Riff mein Hirn durchzuckte. Was ich damals mit schlechtem Gewissen als Unaufmerksamkeit deutete, erscheint mir heute eher als göttliche Eingebung in Vorbereitung späterer Ereignisse.

Jedenfalls stieß ich dann (noch dazu ausgerechnet im schulischen Musikunterricht 🙂 völlig unvorbereitet auf Metal ohne zu wissen, daß es sich um selbigen handelte, namentlich auf „Enter Sandman“ von Metallica. Und war völlig weggeblasen. Damals kannte ich zwar den Begriff noch nicht, aber das war ein Kairos. Das war die Musik, die mir schon immer im Kopf rumspukte, ohne daß ich sie jemals (bewußt) gehört hätte (keine Ahnung, ob da meine älteren Geschwister unbewußte Grundlagen gelegt haben; ist nicht auszuschließen, und es kam mir noch Jahre später so vor, als ob ich manche Musik nicht zum ersten Mal hörte, obwohl ich sie mir gerade erst gekauft hatte). Die Schöhnheit und Erhabenheit dieser Musik war so endg**l, daß das Verlangen nach ihr stärker war als die Vorbehalte. Selbige zerstreuten sich auch zunehmend, denn wer bei Metallica oder Blind Guardian (die ich als zweites ins Herz schloß) antichristliche oder blasphemische Texte findet, sage mir bitte Bescheid. (Ok, und dann unterhalten wir uns über James Hetfields Hintergrund, nämlich daß seine Eltern Christian Scientists waren, die durch ihre Ablehnung medizinischer Behandlung qualvolle Tode starben und entsprechende Eindrücke bei Hetfield hinterließen, deren Verarbeitung Songtexte wie „The God that Failed“ hervorbrachten. Und ja, Blind Guardian hießen mal Lucifer’s Heritage, aber das war’s auch schon. Keinerlei Einfluß auf das weitere Wirken, und — kleiner Vorgriff — einen solchen Bandnamen kann man ja auch so oder so verstehen… Jedenfalls sind sich Metaller der conditio humana in der Regel sehr bewußt.)

Aber ich schweife ab. Ohne dieses „Bekehrungserlebnis“ stünde ich heute nicht dort, wo ich stehe. Was ich nun definitiv vom Metal gelernt habe, ist für die eigenen Ansichten auch einzustehen, selbst wenn sie noch so unpopulär sind. Ich habe zwar nie die Anliegen des Kirchenvolksbegehrens geteilt, war aber von entsprechender Denke zumindest so weit infiziert, als ich lieber die Klappe gehalten oder gar mit den Wölfen geheult habe, als anzuecken. Zudem ging mein immer tieferer Einstieg in den Metal mit einem ziemlichen Wachstum im Glauben einher (und das nicht nur wegen des parallelen Theologiestudiums). Metal und Glaube warfen Fragen auf, die eine Lösung brauchten, sich gegenseitig verstärken und so zu einem tieferen Eindringen in beides führten. Auch weiß ich nicht, wie ich den Kontakt mit Hardcore-Freikirchlern verkraftet hätte, die ganz offen den Papst für den Antichristen hielten, Katholiken für Teufelsanbeter usw. Dort für eine klare Position einzustehen, war jedenfalls von Vorteil.

Schließlich kamen noch eine erkleckliche Anzahl Priesteramtskandidaten hinzu, die ebenfalls Metal hörten. Und das waren nicht gerade die liberalsten. Einer davon ist inzwischen Kartäuser. Lange Rede, kurzer Sinn: Bei all den bleibenden Schwierigkeiten mit gewissen Erscheinungsformen, insbesondere in den extremeren Subgenres, verdichtete sich in mir der Eindruck, daß es ein verbindendes Band zwischen Metal und Christentum gibt, und zwar gerade mit dem eher konservativen, aus dem die größten Kritiker des Metals stammen.

Dieser Frage nachzugehen ergab sich dann die Möglichkeit nach meinem Diplom in Form einer Doktorarbeit (die, so Gott will, nächstes Jahr auch endlich gedruckt vorliegt). Die weiteren Beiträge werden im wesentlichen auf selbiger beruhen und infolgedessen auch etwas objektiver daherkommen. Ein kleiner Vorgriff (weil ich mich erstmal der Musik widmen will und nicht weiß, wie weit ich komme): Die Verbindung liegt in der Frage nach dem Bösen, genauer in der Frage nach dem praktischen Umgang mit Erfahrungen des Bösen, sowohl aus Täter als auch aus Opfersicht. Und die Antwort(tendenz) des Metals geht nicht gerade in Richtung „wir müssen uns nur einfach alle lieb haben, und Gott leidet ja mit uns“…

Gendering: Das treibt bei uns ja die tollsten Blüten. Während man sich ja an die sprachliche Umständlichkeiten a la „liebe Studierenden“ mehr oder weniger schulterzuckend gewöhnt hat, scheint es mittlerweile einen verstärkten Trend zu geben, auch bei Worten, die nun definitiv nicht mal mehr ein generisches Maskulinum sind, geschlechterunterscheidende Endungen anzufügen. Als ich letztens mit „Heiliginnen“ malträtiert wurde, dachte ich ja noch, mich verhört zu haben, und vielleicht hatte sich da ja tatsächlich jemand nur verhaspelt. Den Vogel abgeschossen hat allerdings eindeutig MDR info bei den heutigen Fernsehtips. Hört’s euch selbst an, das glaubt mir ja sonst eh keiner: hier bei 2:31.

Kinners, dat muß man sich auf der Zunge zergehen lassen:

N[orbert] K[ebekus]: Memorandum und Petition haben ja nicht nur eigene Websites. Diskussionen über die beiden Texte spielen sich in sozialen Netzwerken und in Blogs ab. Wie wichtig ist das “Social Web” für Ihre Anliegen und darüber hinaus für die Dialoginitiative?

Franca Spies, Peter Hohler [Memorandum]: Die Funktion des Internets erleben wir als ambivalent. Polemische Beiträge zeigen uns, dass sich das Internet für tiefere Diskussionen, die ein emotionales Thema behandeln, nicht eignet. Hier werden Diskussionen nicht auf angemessenem Niveau und in der gebotenen Sachlichkeit geführt. Grund dafür scheint zu sein, dass Anonymisierung und ein fehlendes Gegenüber, das direkt wahrnehmbare Reaktionen auch auf emotionaler Ebene zeigt, die Hemmschwelle für Polemik und Beleidigung senken. Als Medium, über das Information verteilt und ein Bildungsauftrag erfüllt werden kann, halten wir das Internet hingegen für sehr geeignet.

Peter Winnemöller (Petition): Im „Social-Web“ sehe ich ein große Chance, einen Meinungsbildungsprozess auch unabhängig von etablierten Medien zu betreiben. In den katholischen Weblogs wird z.B. regelmäßig sowohl über die Petition als auch über das Memorandum berichtet. Natürlich werden hier Meinungen viel dezidierter vertreten, als in den Medien der großen Verlagshäuser, doch das darf und soll auch so sein.

Die Vernetzung untereinander bewirkt auch, dass es Berührungspunkte mit Vertretern anderer Meinungen gibt. Dabei zeigt sich oft, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Es gibt punktuelle Zustimmung und punktuelle Ablehnung, dies kann uns vor Lagerbildung bewahren, die wie ein Damoklesschwert über dem angestrebten Dialog schwebt. Auch wenn ich selber im Augenblick kaum dazu komme, mit dem einen oder anderen in eine Diskussion zu treten, so nehme ich genau das bei vielen, mit denen ich vernetzt bin, deutlich wahr. Beeindruckend empfinde ich die völlig undiplomatische Ehrlichkeit, mit der die Positionen vertreten werden.

[…]

N.K.: Bei Facebook vernetzen sich jeweils die Memorandum-Unterstützer und die Petition-Befürworter. Die beiden “Lager” bleiben aber weitgehend unter sich. Es wird eher nicht mit den anderen geredet, sondern übereinander. Welche Orte des Dialoges sehen Sie im Internet? Oder: welche Orte müssten noch geschaffen werden?

Franca Spies, Peter Hohler: Das Internet dient unserer Ansicht nach in erster Linie der Informationsverbreitung und ist ein ungeeignetes Medium für Diskussionen. Solange Emotionen nur sehr eingeschränkt und nicht in Echtzeit übermittelt werden, kann im Internet kein Ersatz für echte zwischenmenschliche Diskussion geschaffen werden.

Peter Winnemöller: Ich sehe eigentlich nicht, dass die „Lager“ so streng getrennt sind. Jedenfalls habe ich niemanden aus meiner Facebook-Freundesliste gekegelt, weil er das Memorandum unterstützt. Sicher kommunizieren die einzelnen Gruppen nicht miteinander. Aber das tun ja schließlich die Fangruppen von Borussia Dortmund und FC Schalke auch nicht. Orte des Dialoges im Internet sind dann eher die eigenen Profilseiten, Internetforen und Kommentarbereiche von Weblogs.

Social Media als „Informationsverbreitungsinstrument“? Wofür steht denn wohl das „social“ in „social media“? Für Massenkommunikation? Argbl, kein Wunder, daß aneinandervorbei dialogisiert wird.

In der heutigen FAZ gibt es in der Beilage Bilder und Zeiten einen interessanten Artikel von Mercedes Bunz (ja, sie heißt wohl wirklich so, auch wenn mir Google das nicht glauben wollte…) über die Folgen der „digitalen Revolution“ für das menschliche Denken (Artikel online nur für Geld). Diese Frage ist ja schon vor einem Jahr etwas ausführlicher diskutiert worden, wenngleich auf sehr unterschiedlichem Niveau.

Bei Frau Bunz habe ich allerdings einen Gedanken gefunden, den ich bisher so nicht gelesen hatte, nämlich zur Funktion des Experten. Den mache das Internet nämlich keineswegs überflüssig, aber es verändere seine Funktion. Bisher zeichnete sich ein Experte dadurch aus, daß er auf einem bestimmten Gebiet mehr wußte als andere. Mit dem Internet und vor allem seiner leichten Durchsuchbarkeit mittels Google und Konsorten ist das bloße Wissen aber kein Vorteil mehr. Das kann nämlich jeder ohne große Anstrengung erlangen, wenn er nur weiß, was er sucht. Es reicht aber nicht, die bloßen Fakten zu finden, man muß sie auch einordnen und bewerten können. Genau das sei in Zukunft die Legitimation des Experten, schreibt Frau Bunz, nämlich im Informationsüberfluß den strukturellen Überblick zu behalten. Er kann sich also nicht mehr durch bloßes Faktenwissen (bösartiger gesagt: durch Herrschaftswissen) legitimieren, sondern ist der ständigen Überprüfung ausgesetzt, was sowohl die behaupteten Fakten als auch die daraus abgeleitete Plausibilität seiner Strukturierung derselben angeht.

Dieser Gedanke birgt für mich eine unmittelbare Plausibilität (oder anders gesagt: mir fallen sofort genug Fakten ein, die ich bereits weiß, die in diese Strukturierung von Wirklichkeit nahtlos einzupassen sind und zugleich durch die Struktur in einer Weise widerspruchsfrei erklärt werden können, daß aus dieser Struktur ein tatsächlicher Wissenszugewinn hervorgeht, der mehr ist als das Zusammenführen an sich bereits bekannter Daten [was in dem Artikel als der nächste Schritt der Digitalisierung dargestellt wird: Suchmaschinen, die intelligent auf Anfragen reagieren und nicht einfach auf schon vorhandene Seiten verweisen, sondern aus als verläßlich bekannten Daten durch Kombination neues „Wissen“ {ich habe einen anderen Wissensbegriff als Frau Bunz} generieren, manchem vielleicht schon unter der Chiffre „Semantisches Web“ oder im Kontext von Überlegungen zum „Web 3.0“ über den Weg gelaufen] — aber ich schweife ab). Unmittelbarste Bestätigung dieser Veränderung ist das Erlebnis, wie ein Redner noch während seines Vortrags per Twitterwall „auseinandergenommen“ wurde und de facto der Lüge (natürlich hatte er die Wahrheit nur ein wenig „gedehnt“ und andere Fakten verschwiegen) überführt wurde.

Bei genauerer Betrachtung birgt diese soziologische Struktur(ierung) aber auch einen Erklärungsansatz für das, was sich in unserer Kirche in den letzten zehn, fünfzehn Jahren entwickelt hat, im allgemeinen und die Blogoezese im besonderen. Als Experten werden im Artikel Journalisten, Ärzte, Lehrer und Ingenieure aufgezählt, wenn man hier die Ärzte durch Priester und die Ingenieure durch Theolog(ieprofessor)en ersetzt, hat man gleich die Lieblingsthemen der blogoezesanen und postmodernen (mitunter meinetwegen auch „traditionalistisch“ angehauchten) „Kirchenkritiker“ erfaßt: Journalisten, die Fakten in einer Weise darstellen, die es ihnen im Gegensatz zu den Fakten selbst ermöglicht, etwas gegen den Papst und die nicht-angepaßten Bestandteile der Kirche zu schreiben; Priester, die ihren eigenen liturgischen Vogel als den Heiligen Geist der Liturgiereform ausgeben; ein Religionsunterricht, in dem man alles mögliche über die Weltreligionen, aber nicht viel Substantielles über Jesus Christus (ge)lernt (hat); und Theologieprofessoren, die vor lauter Detailwissen dermaßen in ihren persönlichen Elfenbeinturm abgedriftet sind, daß natürlich alle anderen daran Schuld sind, daß ihre Vorstellungen nicht wirklichkeitskompatibel sind.

Oder anders gesagt: Das Internet könnte tatsächlich die Quelle für das Erstarken, ich sage mal vorsichtig, des papsttreuen Katholizismus in unseren Landen sein. Weil es eben prinzipiell jedem ohne großen Aufwand möglich ist, die kirchenpolitisch relevanten Grundlagentexte im Wortlaut einzusehen und somit in der Meinungsbildung nicht mehr abhängig von den Experten zu sein, die mitunter die Darstellung der Fakten an ihre vorgefertigte Struktur anpassen. Die Experten haben auch in der Kirche ihre „Gatekeeperfunktion“ verloren, das bloße Wissen ist jedem zugänglich, und entscheidend ist nicht mehr, möglichst detailliert Fakten zu kennen und den Gesprächspartner durch solches Herrschaftswissen zu unterwerfen (ok, das ist jetzt zu böse formuliert, an sich will ich niemandem bewußte böse Absicht unterstellen, aber die braucht es gar nicht, bloßer Irrtum reicht vollkommen zur Erklärung aus), sondern eine dem Gegenüber plausible Deutung und Strukturierung dieses Einzelwissens anzubieten. Das aggressive Reagieren auf die „Verweigerung der Gefolgschaft“, wie sie sich insbesondere in der Blogoezese manifestiert, in Form des persönliche Angriff, der Schubladisierung und des als ewig gestrig Verächtlichmachens läßt sich folglich mit dem Statusverlust erklären, der einen Experten trifft, der nur Fakten, aber keine Strukturierung anzubieten hat, und dabei gar nicht versteht bzw. verstehen kann, warum er plötzlich mit Widerspruch konfrontiert wird, wo er doch der Experte ist, der die Fakten kennt.

Leider scheint in der Theologie wie auch in den kirchlichen Strukturen noch voll das alte Expertentum zu herrschen. Ich hatte einen Professor, der aus dem Stand bis in die Details hinein das Denken eines bestimmten Theologen in einer bestimmten Monographie reproduzieren konnte, aber nicht in der Lage war, seine Vorlesungen so zu strukturieren, daß sich bei seinen Studenten aus diesen vielen Einzelaspekten eine Gesamtkonzeption hätte entwickeln können. Genauso, wenn auch nicht ganz so extrem, ging’s mir übrigens mit dem „Handbuch der Dogmatik“. Da stand für micht ganz viel Blabla drin, mitunter durchaus interessante Details, aber mir fehlte die Struktur, in die ich diese Details hätte einpassen können. Ganz anders in Otts angeblich nachkonziliar einfach nicht mehr zu gebrauchendem „Grundriß der Dogmatik“. Hier gab es knallharte Fakten, mitunter sehr sehr knapp und gedrängt, dafür war das ganze Buch nichts anderes als Druckerschwärze gewordene Struktur; die wichtigsten Seiten dieses Buches sind die mit dem Inhaltsverzeichnis. Noch extremer übrigens in der Summa Theologiae von Thomas von Aquin, den ich genau dafür liebe, in einem einzigen Artikel soviel geballte Details abzuarbeiten, daß man über jeden Satz eine eigene Doktorarbeit schreiben könnte, aber zugleich immer die Gesamtkonzeption im Blick zu haben.

Daß mir zur Schreibweise des Thomas in seinen Summen gerade der Begriff des „Hypertextes“ — egal, wo man anfängt zu lesen, man kommt immer irgendwie zu allem, muß das Werk also nicht in der Linerarität lesen, in der es geschrieben wurde (obwohl es manchmal hülfe 😉 — einfiel, macht es für mich nur noch plausibler, die Grundlage des Wandels im Internet zu sehen.

Nachtrag: Noch mehr Hyptertext ist der Weltkatechismus — und gerade das ist, warum ich ihn dem deutschen Katechismus vorziehe. Beide habe ich noch nie von Deckel zu Deckel gelesen, im Weltkatechismus kann ich aber auf eine konkrete Frage schnell eine knappe Antwort finden, im deutschen würde ich mich dumm und dämlich suchen. Übrigens ist die Frage-Antwort-Form der früheren Katechismen auch eindeutig das Vorbild für die FAQs. 🙂

Daß die Blogoezese eine Art Stammtisch ist, zeigt sich im Übrigen gerade an der Pseudonymität. Dazu habe ich meine 200 Feed-Abonnements ausgewertet, von denen etwa 72% kirchlichem Bezug haben.

Bei den von mir als privat eingestuften Blogs bloggten gerade einemal 9,72% der Blogger unter Realnamen (d.h. hatten ihren Realnamen auf dem Profil stehen). Darüber hinaus waren weitere 43,52% sicher identifizierbar (entweder durch E-Mail-Adressen, Hinweise in den gebloggten Texten oder auf anderen Blogs oder durch sehr spezifische persönliche Marotten, die mit Google eine leichte Identifikation wahrscheinlich erscheinen lassen). Nur 22,22% der Blogger würde ich eine weitgehende Verschleierung ihrer Identität zuschreiben, der Rest (24,54%) liegt dazwischen.

Zwischen den Blogs mit kirchlichem Bezug (Blogoezese) und denen ohne gab es hier kaum Unterschiede. Die kirchlichen Blogs liegen was die Kaum-Identifizierbarkeit (21,54%) und „den Rest“ (24,1%) angeht sogar knapp drunter. Bezieht man aber die Blogs von Priestern und Ordensangehörigen mit ein, bei denen der Status (privat/beruflich) naturgemäß unklar ist, dann sieht das ganze nochmal deutlich weniger „anonym“ aus: Ganze 4,35% aus dieser Gruppe sind nach meiner Einschätzung nicht leicht identifizierbar und nur 21,74% bilden den „unklaren Rest“.

Im Gegensatz dazu liegen offizielle und kommerzielle Blogs sowie Blog von „Selbstverkäufern“ wie freien Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern, die ein offenkundiges Interesse daran haben, sich als Person unter Ihren richtigen Namen bekannt zu machen, bei der „Anonymität“ nahe Null (ein wenig baff war ich ja, daß auf Elsas Blog, deren Realnamen wohl jeder in der Blogoezese kennen dürfte, selbiger nicht zu finden war — hattest Du den nicht mal da stehen, noch dazu mit einem Foto, anhand dessen ich Dich aber nie erkannt hätte? :-). Nur schwer identifizierbar ist hier niemand, eine auf den ersten Blick unklare Identität haben hier 10%, und das ausschließlich bei den offiziellen, nicht-kommerziellen Blogs; kirchliche Blogs dieser Kategorie sogar nur zu 1,9%.

Darin sehe ich a) eine Bestätigung, daß private Blogs eine andere Funktion haben als die offiziellen Blogs und deutlich näher an der Privatsphäre sind, und b) daß sogar weniger Blogoezesane ein aktives Interesse an Verschleierung ihrer Identität haben als die Betreiber von Blogs ohne kirchlichen Bezug.

Natürlich könnte man mir hier den einen oder anderen Zirkelschluß unterstellen (immerhin sind die Einteilungen privat, offiziell, kommerziell und „Selbstdarsteller“ bereits von der zu bestätigenden Theorie her gebildet) und vor allem eine nicht ausreichende Datenbasis (200 Blogs sind zwar ok, aber nicht der extrem hohe Anteil kirchlicher Blogs, da dadurch die Vergleichbarkeit zu den nichtkirchlichen Blogs nicht wirklich gegeben ist). Aber dafür ist das hier ein Blogeintrag und kein wissenschaftlicher Artikel 🙂

(The End)

Die spezifische Funktion eines persönlichen Blogs insbesondere mit der Möglichkeit des Feedbacks bringt uns praktisch zum Kern der ganzen Geschichte: Bloggen hat einen starken privaten Aspekt, erfolgt aber in der Öffentlichkeit. Normalerweise liest man vor allem Gleichgesinnte und wird auch von Gleichgesinnten gelesen. Ein kontroverser öffentlicher Diskurs sieht anders aus — und erfolgt auch woanders. Lange Rede, kurzer Sinn: Meines Erachtens liegt das Mißverständnis von Herrn „Meier“ darin, das Internet im allgemeinen und das Bloggen im besonderen als massenmediale Kommunikation mißzuverstehen, also als weiteres Medium neben Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen (dieses Mißversändnis hat uns ja auch die Sendezeitbeschränkungen im Internet eingebrockt…).

Tatsächlich gibt es diese Funktion des Internets, aber nicht nur haben die klassischen Medien das größte Problem, einen profitablen Internetableger zu schaffen, sondern diese Funktion des Internets ist zudem noch die jüngste in der technischen Entwicklung und eigentlich ein (technisch vorübergehend notwendiger) Irrweg. Daher ist es völliger Unfug, das Internet an massenmedialen Kriterien zu messen. Vielmehr sind die ursprünglichen Vergleichmedien das Telefon und der Brief: Abgesehen vom Datenaustausch (also rein maschineller Kommunikation) beginnt die Geschichte des Internets (nicht zu verwechseln mit dem World Wide Web) mit der E-Mail, die die Vorteile des Telefons (schnelle Erreichbarkeit des Kommunikationspartners) mit denen des Briefes (asynchrone Kommunikation: man ist nicht darauf angewiesen, daß der Kommunikationspartner zur selben Zeit zur Kommunikation bereit ist) kombiniert. Damit ist bereits der vielleicht nicht private, aber doch vertrauliche Ursprung der Kommunikation im Internet angesprochen.

Während jedoch die Telefonkonferenz nie wirklich ihr geschäftliches Habitat verlassen hat, kam es schon recht früh zu halb öffentlichen Kommunikationsarten, von der Mail mit mehrern Empfängern zu technischen „Schwarzen Brettern“ als Empfängern, von denen sich beliebige Interessierte die Nachrichten zu bestimmten Themen abholen konnten — dem Usenet. Hier ist die Geburtsstunde der eigentlichen Besonderheit des Internets und seiner eigentlichen medialen Revolution: Die Ermöglichung einer Kommunikation, die zwischen der 1:1-Kommunikation und der 1:n-Kommunikationsweise der Massenmedien liegt, nämlich der Kommunikation zwischen (theoretisch) beliebig vielen Kommunikationspartnern mit gleich starkem Sende- wie Rückkanal (n:m-Kommunikation; die Bezeichnungen 1:1, 1:n und n:m habe ich der Datenbanktheorie entlehnt, vermutlich gibt es aber ähnliche Überlegungen auch schon in der Kommunikationswissenschaft, würde mich jedenfalls wundern wenn nicht).

Diese Kommunikationsart ist vor dem Internet medial nicht (oder nur eingeschränkt, nämlich durch die genannte Telefonkonferenz) reproduzierbar, aber keineswegs neu, sondern geradezu eine klassische gesellschaftliche Situation: Der Kneipenstammtisch. (Natürlich gibt es auch noch mehr solcher Situationen, vom Spieleabend über den Workshop bis zum Gemeindecafé, oder pastoraler: vom Hauskreis bis zur PGR-Sitzung, aber der Stammtisch kommt irgendwie der Blogoezese näher…) Man trifft sich in geselliger Runde an einem mehr oder weniger öffentlichen Ort (in beiden Fällen, Stammtisch und Blogoezese, gibt es privatwirtschaftliche Anbieter, den Kneipier bzw. Google, WordPress usw., der seinen Raum zur Nutzung anbietet; rechtlich gesehen, handelt es sich nicht um einen öffentlichen Raum, der Anbieter hat hier das Hausrecht, es liegt aber in seinem Interesse, in der Regel niemanden rauszuschmeißen) und unterhält sich über dies und das, was einen gerade interessiert. Man kennt sich untereinander, stellt aber auch nicht zu viele (vor allem keine unangenehmen) Fragen. Manchmal kommen neue Leute dazu, die man erstmal freudig begrüßt, soweit sie sich nicht gleich völlig daneben benehmen, manchmal verabschieden sich welche oder kommen nicht vom Zigarettenholen zurück. Gelegentlich bleibt mal ein Unbeteiligter stehen und hört zu, ohne sich an der Diskussion zu beteiligen. Vielleicht steigt er irgendwann mit ein oder macht in Zukunft einen großen Bogen um diesen angeheiterten Tisch. (Völlig unhöflich hingegen wäre es, wenn jemand käme, die Stammtischler nach ihren Namen und ihren Berufen aushorchte und am nächsten Tag in der Zeitung der Nachbarstadt sich darüber ausließe, was Herr xy aus dem Nachbardorf, angestellt da und dort, angeblich und noch dazu aus dem Zusammenhang gerissen über seinen Chef am Stammtisch gesagt hat. Das würde zurecht als Eindringen in die Privatsphäre verstanden werden, ist aber natürlich rein hypothetisch.)

Mit anderen Worten: Das Bloggen, zumindest das Bloggen im engeren Sinn eines persönlichen, privaten Blogs, ist kein Journalismus, sondern Stammtischgeplänkel. Für die Bildung einer öffentlichen Meinung ist das natürlich nicht zu unterschätzen, gegen die Stammtische zu regieren, dürfte geradezu unmöglich sein. Gerade das Internet bietet darüber hinaus die Möglichkeit, überregionale „Stammtische“ zu schaffen, wofür man früher Vereine gründen mußte, und selbst dann hat man sich nur ein paar mal im Jahr getroffen. Durch das Internet werden solche „Stammtische“ überhaupt erst kampagnenfähig, indem eine leichte Verknüpfung mit anderen Internettools zur Selbstorganisation möglich sind. Der „Normalbetrieb“ der Blogoezese bleibt aber im Kern ein Stammtisch.

Mit anderen Worten: Das große Mißverständnis des Internets ist also, daß es sich dabei um Massenkommunikation nach altem Muster handelte. Vielmehr ist das wirklich Neue und eigentlich spannende am Internet die Schaffung einer medialen Form von n:m-Kommunikation, also einer Kommunikation zwischen vielen Sendern und Empfängern, in der zumindest theoretisch gleich starke Sende- und Rückkanäle existieren. Mit solcher Kommunikation haben sich freilich die klassischen Massenmedien nie wirklich abgegeben und stoßen nun auf eine Realität, die sie bisher arrogant ausgeblendet haben. Der Stammtisch ist geradezu der Inbegriff niveauloser Diskussion, mit der ein gebildeter Mensch nichts zu tun haben will (es wäre allerdings eine ebenso arrogantes Mißverständnis zu glauben, es gäbe keine Stammtischgespräche unter Akademikern…). Allerdings war gerade die Lufthoheit über den Stammtischen die Bastion, mit der sich die CDU in den medial doch sehr links geprägten 70er bis 90er über Wasser gehalten hat, ja sogar gegen einen Großteil der Medien Wahlen gewonnen hat. Insofern ist es richtig, wenn sich Massenmedien durch solche öffentlich wahrnehmbare Stammtische im Internet angegriffen fühlen, denn tatsächlich haben die Stammtische schon immer die Wirkung der Massenmedien begrenzt, und wenn es aus ihrem Kreis genug Leserbriefe gab, die den Journalisten kontra geben, hat sich auch schon das eine oder andere Mal der Wind der veröffentlichten Meinung gedreht. Daher kann die Blogoezese tatsächlich dazu führen, daß bisher im kirchlichen Diskurs weitgehend marginalisierte Meinungen und Perspektiven wieder zu ihrem Recht kommen können.

Doch auch unter den Lesern der Zeitungen dürften die Internetausdrucker (es gibt mittlerweile übrigens noch eine Steigerung: die Internetausdrucker und -wiedereinscanner 🙂 in der Mehrheit sein. Auch ihnen dürfte nicht klar sein, daß das Intenret eigentlich eine große Eckkneipe ist. Dadurch ist es ein Leichtes, mit stammtischfremden Kriterien den „Stammtisch“ Blogoezese in die Schmuddelecke zu drängen. Natürlich könnte man sie auch gerade als Stammtisch angreifen, denn wie gesagt ist „Stammtisch“ ja durchaus ein negativ besetztes Wort. Jedoch wäre die Wirkung auf die Leser, gerade in ländlicheren Gebieten, weniger sicher vorhersehbar, denn Stammtische und Stammtischgespräche kennen die Leute aus eigener Anschauung. Und sie wissen auch, daß dabei Tacheles, im Eifer des Gefechts auch mal unüberlegter und/oder politisch unkorrekter, gesprochen wird.

(to be continued)

Ein weiterer Grund für Nicknames resultiert aus der spezifischen Funktion eines Blogs. Bekanntlich handelt es sich um die Abkürzung von „Weblog“, also frei übersetzt: Internet-Tagebuch. In ein Tagebuch schreibt man jedoch andere Gedanken als etwa in einen Leserbrief, schon alleine deshalb, weil man eine ganz andere Zielgruppe und Zielrichtung hat. Hinzu kommt, daß Leserbriefe oder andere Veröffentlichungen normalerweise noch mindestens durch eine Lektoratsphase gehen. Ein Leserbrief steht fast immer (wenn er nicht als Kuriosum abgedruckt wird) repräsentativ für eine nennenswerte Anzahl von Einsendungen, auf jeden Fall hat er die Hürde des „Gatekeepers“ Redaktion genommen, und ein (seriöser) Verlag wird nur die Bücher veröffentlichen, hinter denen er (oder ein Herausgeber) auch stehen kann.

Im Gegensatz dazu muß ein Blogposting keinen „Gatekeeper“ überwinden, sondern kann alle — ausgereiften und unausgereiften — Gedanken seines Betreibers enthalten. Zumindest für mich kann ich sagen: Die Blogeinträge sind vergleichsweise unausgereift, selbst die längsten haben nicht einmal annähernd die Zeit gekostet, die ich in andere Veröffentlichungen stecken würde, selbst Leserbriefe müssen durchdachter sein. Für mich erfüllt mein Blog eher eine „Pensieve“-Funktion („Denkarium, für die, die Harry Potter nur auf deutsch kennen): Eine Abladestelle für meine Gedanken, die noch reifen müssen, die ich jederzeit wieder ausbuddeln und weiterführen kann (wobei das Reifen meist schon im Schreibprozess stattfindet und das eine oder andere Posting nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, zumindest nicht als Blogeintrag), und damit hat ein Blog für seinen Betreiber (zumindest für mich) auch eine psychohygienische Wirkung.

Im Gegensatz zu einem Tagebuch (das ja eine ähnliche Funktion wie ein Pensieve erfüllt) haben Blogpostings aber den Vorteil, Feedback zu bekommen, angenehmerweise meist auch von solchen Leuten, die eine ähnliche Meinung vertreten, also nicht jede Argumentationsschwäche gnadenlos ausnutzen, sondern konstruktiv kritisieren können. (Na gut, ein bißchen stimmt das mit der Lobhudelei ja auch, manchmal könnten die Kommentare schon kritischer sein…) So oder so macht man sich mit dem Betreiben eines Blogs angreifbar, zumindest wenn man ihn als persönliches Blog betreibt und nicht zu journalistischen Zwecken oder zur Öffentlichkeitsarbeit betreibt — wobei auch der persönlichste Blog immer noch nicht die gesamte Persönlichkeit seines Autors wiederspiegelt. Im Gegenteil: Im besten Fall hat er ein klares Profil, und dazu braucht es auch einen klaren Avatar.

(to be continued)

Auch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Bloggen einerseits und Leserbriefen oder Face-to-Face-Kontakten im RL andererseits, nämlich eine kommunikative Asymmetrie. Begegne ich jemandem im RL, weiß ich in der Regel genausoviel von ihm wie er von mir, und wenn nicht, dann kann ich ihn sofort fragen, woher er mich kennt, so daß wir auf einen ähnlichen Stand kommen. (Um nochmal die Schreckensvisionen zu Wort kommen zu lassen: Längst ist die Gesichtserkennung via Smartphone möglich, nur ist sie weitgehend nicht freigeschaltet; wäre sie es, wäre diese kommunikative Asymmetrie dank AR auch im RL angekommen…)

So oder so wird er nicht meine gesamte Lebensgeschichte kennen, selbst wenn er sich meinen Namen merkt oder meine Karte bekommt. Dann weiß er, wo und für wen ich was arbeite und wie er mich dort erreichen kann. Davon ausgehend kann er zwar auch eine ganze Reihe von privaten Daten finden und zusammenführen, in der Regel wird er aber den Aufwand scheuen — und ich kann umgekehrt dasselbe mit ihm treiben; Waffengleichheit. So besteht immer eine (zumindest mögliche) kommunikative Symmetrie und ist ein „Dialog auf Augenhöhe“ möglich.

Anders im Internet: Bekanntlich sind etwa 90% der Leser nur Leser, weitere neun Prozent kommentieren hier und dort, doch nur das letzte Prozent macht sich durchs Selbst-Produzieren (also etwa Bloggen) „nackt“ (diese 1-9-90-Regel auf die Blogoezese angewendet bedeutet übrigens, daß wir noch ein sehr, sehr großes Wachstumspotential haben, denn im Augenblick scheint sie mir noch zu 70–80% aus dem einen Prozent der Produzenten zu bestehen, aber das nur am Rande). Von all den stillen Lesern weiß ich nicht viel: ihren Browser, ihr Betriebssystem und teilweise die Addons, mit Hilfe von Google Analytics auch ihren Provider — aber selbst der sagt nicht viel über den Leser aus, wenn er T-Online oder Arcor heißt (und selbst „Bistum Essen“ kann ich nicht mit einer Person verknüpfen, etwas besser noch bei „frankfurter allgemeine zeitung“ [ja, da liest tatsächlich ab und zu jemand meinen Blog :-)]).

Würde ich überall im Netz unter Klarnamen unterwegs sein (ein weiterer Grund gegen einen Facebookaccount), könnte jeder sofort meine halbe Lebensgeschichte aus dem Internet fischen, mit Usenetpostings und Zeitungsleserbriefen, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Publikationen, Ämtern, Hobbies und Interessen verknüpfen — und mich damit noch vor unserem ersten Kontakt besser kennen, als ich ihn, ja sogar als ich ihn jemals mit denselben Mitteln kennenlernen könnte, etwa bei Herrn „Meier“, der nur mäßige und relativ unspezifische Datenspuren im Internet hinterlassen zu haben scheint.

(to be continued)