Nach dem gestrigen Post darf ich mich ja eigentlich nicht beschweren, aber diejenigen, über die ich mich beschweren will, dürften den Post gar nicht gelesen haben, also heul ich jetzt doch mal rum.
Ich wurde jetzt schon mehrfach mehr oder weniger direkt gefragt, ob ich Traditionalist bin. Und nein, ich bin kein Traditionalist; zumindest verstehe ich mich selbst nicht als solcher. Was ist denn eigentlich ein Traditionalist?
Wolfgang Beinert hat vor gut 15 Jahren mal folgende Differenzierung vorgeschlagen, der ich mich im wesentlichen anschließen würde. Demnach gebe es zwei Pole, zwischen denen sich die Kirche immer bewegen müsse, nämlich Identität und Relevanz (man könnte auch sagen: Tradition und Gegenwart). Denn nicht alles, was zur (vermeintlichen) Identität gehört (also zu den Traditionen), ist tatsächlich relevant (auch für die Identität!). Als Beispiel wäre etwa der Kirchenstaat zu nennen, dessen drohender Untergang Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Großteil der Theologen als unmöglich verleugnet wurde, da der Kirchenstaat dogmatisch notwendig sei. Untergegangen ist der Kirchenstaat trotzdem, ohne daß das Ende der Welt eingetreten wäre. Auf der anderen Seite gehört die Relevanz zur Identität: Der christliche Glaube ist per se relevant, wenn er also nicht mehr als relevant erscheint, muß irgendwo ein Fehler im System sein. So korrigieren sich die Pole Relevanz und Identität, Gegenwart und Tradition gegenseitig.
Entsprechend kann, darf und muß es immer „polarisierte“ Gläubige geben. Die einen betonen mehr die Relevanz, die anderen mehr die Identiät. Erstere bezeichnet Beinert als modern, letztere als traditional (wenn ich mich recht erinnere).
Problematisch werde es jedoch, wenn Gläubige die Berechtigung des anderen Pols leugnen, wenn also um der Relevanz willen die Identität aufgegeben wird oder die Identität so erstarrt, daß sie sich nicht mehr von der Relevanz in Frage stellen läßt. Gläubige, die den ersten Weg gehen, bezeichnet Beinert als Modernisten (vielleicht verwendete er auch einen etwas weniger belasteten Begriff, aber der Sache nach stand das so da), letztere als Traditionalisten.
Folglich müßte ich die Berechtigung des Relevanz-Pols leugnen, um Traditionalist zu sein. Das tue ich aber keineswegs. Vielmehr greife ich gerade deshalb gerne auf die Tradition zurück, weil die übermäßige Relevanzbetonung der letzten Jahrzehnte nicht gerade zu faktischer Relevanz des Glaubens in der Gesellschaft geführt hat. Wer das leugnet muß reichlich blind sein. Es ist also gerade die Relevanz der Identität, um die es mir geht. Wie kann ich dem Atheisten von nebenan klarmachen, daß es durchaus hilfreich ist zu glauben? Das schaffe ich ganz sicher nicht, indem ich als erstes sage, alles was aus Rom kommt, ist eh scheiße.
Nun erwarte ich nicht großes Jubelgeschrei vom durchschnittlichen Theologen, wenn ich diese Position vertrete. Gegen eine sachliche Auseinandersetzung habe ich nichts; sollte der andere gute Argumente haben, bin ich gerne bereit, meine Ansicht zu vertiefen. Aber was mich ernsthaft verletzt, ist die arrogante Überzeugung, man könne gar nicht anders denken als der theologische Mainstream, die in der Frage, ob ich Traditionalist sei, zum Ausdruck kommt.
Diese selbst bei vielen gleichaltrigen Theologen selbstverständliche Annahme, die (ich nenne es mal:) Verkonservatisierung der jüngeren Generation sei einfach nur ihrer Unreife geschuldet, dieser überheblich Hochmut, der darin zum Ausdruck kommt, die praktisch damit verbundene Verunmöglichung, eine abweichende Auffassung zu formulieren – das alles kotzt mich, gelinde gesagt, an.