Es gab eine ganze Menge Leute, die die Predigt des Papstes in Erfurt für schwach hielten. Im wesentlichen hätte er geschichtliche Fakten aufgezählt. Das ist zwar nicht falsch, und es gibt tatsächlich einige Passagen der Predigt, die man wohl getrost überspringen kann, wenn man nicht gerade wissen will, wie die Jugendhäuser der Bistums Erfurt heißen. Dennoch war ich schon damals der Meinung und bin es, nachdem ich die Predigt nochmal gelesen habe, heute umso mehr, daß der Papst in diesen geschichtlichen Fakten und vor allem in der Auswahl der Fakten eine deutlich aufs Hier und Heute gerichtete Botschaft vermitteln wollte.
Papst Benedikt hat eine ernstgemeint freundliche, werbende Sprache und versucht die Situation ausgewogen zu würdigen, auf einer tieferen Ebene aber gibt er sehr wohl deutlich zu erkennen, in welche Richtung es seiner Meinung nach gehen müßte. Schon im September habe ich geschrieben: „Nicht nur sind [seine Predigten und Botschaften] punktgenau auf den jeweiligen Ort und Anlaß geschrieben, sondern sie haben auch jeweils eine klare Kernaussage.“ Der Impuls in und für Erfurt paßte wie die Faust aufs Auge.
Der Einstieg erfolgt über die zwei Diktaturen, die über die thüringer Lande hinweggerollt sind und bis heute Spätfolgen zeitigen. 1989 war zwar ein großer Aufbruch in neue Freiheit, aber hat er uns mehr an Glauben gebracht? Ich erlaube mir, die rhetorische Frage mit Blick auf die hiesige Situation zu beantworten: Nein, und daran leiden hier gerade die Älteren, denen das Festhalten am Glauben zu DDR-Zeiten zum Teil große Opfer abverlangt hat, wie der Papst hervorhebt.
Dagegen ermutigt er: Gott ist Zukunft, und diese Zukunft beschreibt er anhand der Vergangenheit. Die heilige Elisabeth
„führte ein intensives Leben des Gebets, verbunden mit dem Geist der Buße und der Armut des Evangeliums. […] Ihr Leben auf dieser Erde war nur kurz – sie wurde nur vierundzwanzig Jahre alt –, aber die Frucht ihrer Heiligkeit reicht über die Jahrhunderte hin.“
Damit verweist er noch einmal auf den einleitenden Abschnitt: Wer hätte im Elisabethjahr 1981 ahnen können, daß die Mauer acht Jahre später fällt? Wer 1941, daß vier Jahre später das „Tausendjährige Reich“ in Schutt und Asche versinken würde? Wir wissen nicht, was sich in vier oder acht Jahren an Rahmenbedingungen geändert haben wird, wir wissen nicht, wer in dieser Zeit vielleicht den Unterschied machen wird. Und ich erlaube mir, meinen eigenen Eindruck hinzuzufügen: Wir haben hier in Erfurt alle Voraussetzungen für einen großen Aufbruch, wenn wir nicht sogar schon mittendrin sind.
Und noch einen weiteren Verweis hat er bei Elisabeth eingebaut, indem er die Fülle des Glaubens, seine Schönheit, seine Tiefe und seine verwandelnde und reinigende Kraft erwähnt. Später nämlich sagt er:
„Wenn wir uns dem ganzen Glauben in der ganzen Geschichte und dessen Bezeugung in der ganzen Kirche öffnen, dann hat der katholische Glaube auch als öffentliche Kraft in Deutschland Zukunft.“
Quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est. 🙂
Dafür steht auch Bonifatius, der
„in wesentlicher Einheit und in enger Einheit mit dem Bischof von Rom, dem Nachfolger des heiligen Pertrus wirkte; er wußte, daß die Kirche eins sein muß um Petrus herum.“
Damit hat der Papst nicht nur das wesentliche Charisma von Bonifatius auf den Punkt gebracht, sondern wiederum auf Späteres in der Predigt verwiesen, wo es heißt, niemand könne alleine für sich glauben, und „das große Miteinander der Glaubenden aller Zeiten, […] ohne das es keinen persönlichen Glauben geben kann, ist die Kirche“. Auch hier, denke ich, haben wir in Erfurt die besten Voraussetzungen, zumindest wesentlich bessere als „drüben“. Bei allen kleingeistigen Querelen, die es auch hier gibt, erstaunt mich die Einheit der Kirche im Bistum (zumindest im Vergleich), die mit Sicherheit auch mit der Überschaubarkeit des Bistums zu tun hat.
Am Ende kommt er noch einmal auf die Ausgangsfrage nach der gewonnenen Freiheit und dem Mehr an Glauben zurück. Die Motivation, zu DDR-Zeiten am Glauben festzuhalten und dafür Nachteile auf sich zu nehmen, verortet er in der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Dieses Zeugnis mache uns zusammen mit dem Zeugnis der Heiligen Mut, die neue Situation zu nuten und die gewonnene Freiheit verantwortlich zu nutzen:
„Wir wollen, wie die Heiligen Kilian, Bonifatius, Adelar, Eoban und Elisabeth von Thüringen als Christen auf unsere Mitbürger zugehen und sie einladen, mit uns die Fülle der Frohen Botschaft, ihre Gegenwart und ihre Lebenskraft und Schönheit zu entdecken.“
Betrachtet man, wo sich die aufeinander bezogenen Stellen finden, ergibt sich, daß sie keinesfalls zufällig sind, sondern daß sie in einer Art Chiasmus in der Mitte der Predigt gespiegelt sind:
Geschichte | ↔ | Gegenwart |
Einstieg: Kirche in der DDR | ↔ | heutige Gefahr: Glaube als Privatsache |
↓ | ↑ | |
Elisabeth: aus der Fülle des Glaubens viel bewirkt in kurzer Zeit | ↔ | ganzer Glauben, ganze Geschichte, ganze Kirche; dann haben Glaube und Kirche Zukunft |
↓ | ↑ | |
Bonifatius: Einheit mit dem Papst | ↔ | Glauben ist wesentlich Mitglauben (der einzelne ist von Gott gerufen durch und in der Kirche) |
↓ | ↑ | |
Zur Radikalität der Heiligen ist jeder einzelne direkt von Gott her berufen | ||
⇓ | In der Radikalität der Heiligen die Fülle des Evangeliums verkünden und einladen, ihre Gegenwart und ihre Lebenskraft und Schönheit für den einzelnen in der Gemeinschaft der Kirche zu entdecken. |
Es handelte sich also mitnichten um eine langweilige Predigt, die historische Fakten aufzählte und nur sagte, was an diesem Ort unbedingt zu erwarten war. Das war sie auch, aber sie war eben viel mehr. Selbst die drögen historischen Fakten hat der Papst kunstvoll strukturiert zu einer klaren und geistlich tiefen Aussage aufgepimpt.
Nein, die Erfurter Predigt war inhaltlich durchaus besser und aussagekräftiger, als viele im Nachhinein gemeint haben. Allerdings war der Papst physisch an einem Tiefpunkt angelangt (wer hat das in dem Alter nicht?), daß dabei Formulierungen wie „Elisabeth von Tübingen“ herausgerutscht sind, die dann auch noch als ständige O-Töne in den Nachrichten liefen.
Auch der Abend vorher mit den Mißbrauchsopfern wird wohl nicht einfach gewesen sein, zumal der von seiner Regenerationszeit abging. Aber was wäre die Rede ohne „Elisabeth von Tübingen“? 😉