Theologie

Neben den letzte Woche vorgestellten Kausalitätsprinzipien ist in der klassischen Schöpfungslehre noch eine weitere Unterscheidung wichtig, die den eigentlichen Grund darstellt, warum die Evolution nicht mit dem Schöpfungsglauben in Konflikt gerät. Diese besteht zwischen der (einen) Erstursache (causa prima) und den (vielen) Zweitursachen (causae secundae).

Alle innerweltlichen Kausalitäten werden durch Geschaffenes verursacht. Da jedes Geschaffene seinerseits sich dem andauernden Schöpfungsakt Gottes verdankt (siehe letzte Woche), verdankt sich auch jedwede innerweltliche Kausalität dem einen (andauernden) Schöpfungsakt Gottes. Auf den (andauernden) Schöpfungsakt ist somit jede innerweltliche Kausalkette zurückzuführen, sei sie eine Kausalkette der ersten (einmalige Verursachung) oder der zweiten Art (andauernde Verursachung).

Daraus resultiert die Unterscheidung in die eine, allem anderen zugrundeliegende Erstursache, nämlich dem göttlichen Schöpfungsakt, und den vielen, diese Erstursache bereits voraussetzenden Zweitursachen. In unserer Erfahrung sind wir natürlich nur mit den Zweitursachen konfrontiert. Somit kann jegliche auf Erfahrung basierende Wissenschaft nur Aussagen über Zweitursachen treffen. Denn die Erstursache liegt auf einer ganz anderen Ebene.

Die Zweitursachen haben zwar ihren gewissen Eigenstand, das heißt, sie sind tatsächlich selbstwirkende Ursachen (und nicht nur Marionetten des Schöpfers durch die Er Seinen Willen vollzieht). Doch während jede innerweltliche Zweitursache eine andere sie begründende innerweltliche Zweiursache voraussetzt und zugleich die eine Erstursache, der sie ihre Existenz verdankt, bleibt die Erstursache immer die eine und einzige außerweltliche Ursache alles Seins, die selbst keine Ursache hat, sondern sich selbst Ursache ist.

Der wesentliche Punkt daran ist also, daß die Erstursache keine Ursache wie alle anderen (innerweltlichen) Ursachen ist, also nicht einfach nur der Punkt, an dem jede Kausalkette abbricht, sondern daß sie vielmehr über das System „Welt“ hinausgeht. Sie ist nicht eine Kausalität unter vielen, sondern die eine (und einzige), die das System „Welt“ überhaupt begründet.

Infolgedessen ist es überhaupt kein Problem, den Schöpfungsglauben mit der Evolutionstheorie zusammenzudenken: Die Evolutionstheorie macht Aussagen über Zweitursachen, der Schöpfungsglaube über die Erstursache. Auch die Evolution (als innerweltliche Kausalkette) setzt die eine und einzige Erstursache, den andauernden göttlichen Schöpfungsakt voraus (oder streng genommen: muß ihn aus wissenschaftstheoretischen Gründen als nicht-empirisch ausblenden).

Wer also einen Widerspruch zwischen Schöpfung und Evolution meint voraussetzen zu müssen, sei er Wissenschaftler oder Christ, übersieht, daß beide auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen. Er behandelt also den göttlichen Schöpfungsakt als eine weitere Zweitursache und zieht die eine Ursache, die allen innerweltlichen Ursachen zugrundeliegt in das System „Welt“ herunter. Dort ergibt sie aber keinen Sinn und erscheint überflüssig. Nur unter dieser Voraussetzung, läßt sich ein Widerspruch zwischen Schöpfung und Evolution annehmen.

Weiterführende Lektüre:

Es gibt eine einzige Form von Museen, in die ich gerne gehe: Naturkundemuseen. Bei meinem letzten Besuch ist mir allerdings was sauer aufgestoßen. Nämlich wurde dort unterschwellig ein Widerspruch der Evolutionstheorie zum Schöpfungsglauben suggeriert. Ok, man muß vielleicht vorbelastet sein, um sich von Formulierungen wie „obwohl er als gläubiger Christ an die Unveränderlichkeit der Arten glaubte, hat er Großes für die Naturforschung geleistet“ (über Carl von Linné, eigene Hervorhebung) angepiekst zu fühlen. Wahrscheinlich ist das nicht mal böswillig gemeint, sondern schlicht Unwissenheit. Denn die Katechese hört in Sachen Schöpfung praktisch bei der Arche Noah als „Gottes schwimmendem Zoo“ auf.

Doch gerade von der klassischen Theologie[1] her gibt es überhaupt kein Problem zwischen Schöpfungsglauben[2] und Evolution. Das Problem ist lediglich, daß heutzutage unterschwellig ein deistisches Verständnis der Schöpfung vorherrscht, das aber gerade nicht christlich ist. Mal Hand aufs Herz: Wer versteht die Glaubensaussage, daß Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat, nicht dergestalt, daß Gott am Anfang Himmel und Erde schuf? Und zwar in dem Sinne, daß Gott nur am Anfang Himmel und Erde schuf? Steht doch genau so in Gen 1…

Das wörtliche Verständnis von Gen 1 ist aber gerade nicht das Schöpfungsverständnis, wie es die Tradition überliefert. Oder genau genommen: „wörtliches Verständnis“ meint eigentlich nicht, was der Text im Wortsinne bedeutet, sondern was die Mehrheit der gegenwärtigen Leser aufgrund ihres Vorverständnisses von der Welt als Wortsinn des Textes annimmt. Ob das bei einem mehrere tausend Jahre alten Text die ursprüngliche, geschweigedenn einzige Bedeutung darstellt, darf man ruhig in Frage stellen.

Wie dem auch immer sei: Der Schöpfungsglaube erschöpft sich nicht in der „Schöpfung aus dem Nichts“ (creatio ex nihilo), als ob Gott die Welt einmal „angestoßen“ hätte, danach aber nichts mehr mit ihr zu tun hat (das ist das deistische Mißverständnis). Vielmehr umfaßt er auch die „fortdauernde Erhaltung der Welt“ (creatio continua). Ja, tatsächlich ist die creatio ex nihilo von der creatio continua her zu verstehen!

Aber fangen wir mal von vorne an: Die Erschaffung der Welt aus dem Nichts bedeutet erstmal nichts anderes, als das alles, was ist, sich dem Sein des Schöpfers verdankt, an dem es Anteil hat. Freilich nicht im Sinne eines pantheistischen „Alles ist Gott“, als ob Gott die Summe aller Dinge wäre. Das ist wieder so ein neuzeitliches Mißverständnis, das aus dem quantitativen Denken entsteht. Vielmehr ist qualitativ zu denken: Gott hat nicht sein Sein, sondern Er ist sein Sein und die Fülle des Seins. Alles Geschaffene hingegen hat sein Sein als graduellen Anteil am Sein Gottes. Oder anders gesagt: Während bei Gott Sein, Wesen, Existenz und Dasein in eins fallen, also miteinander identisch sind, fällt es bei allem Geschaffenen auseinander. Gottes Dasein gründet in ihm selbst, das Dasein des Geschaffenen verdankt sich Gott. Das ist, was „Schöpfung aus dem Nichts“ bedeutet.

Genau damit sind wir aber bei der creatio continua: Das Dasein des Geschaffenen verdankt sich nicht nur im Ursprung einem Schöpfungsakt Gottes, von dem es sich dann emanzipieren könnte. Sondern das Geschaffene verdankt sich in jedem einzelnen Augenblick dem Schöpfungsakt Gottes, und würde Er jemals Seinen Schöpfungsakt abbrechen, würde das Geschaffene sofort wieder ins Nichts fallen.

Um das verständlicher zu machen, zeigt die klassische Theologie den Unterschied zwischen verschiedenen Kausalitätsketten auf:

  1. Selbstverständlich braucht es für einen Enkel zunächst einen Vater, der wiederum Sohn eines Großvaters ist. Ohne Großvater kein Enkel. Jedoch ist bereits der Vater ab der Zeugung vom Großvater unabhängig, umso mehr der Enkel. Er muß zwar einen Großvater gehabt haben, der Großvater kann aber schon lange vor seiner Zeugung verstorben sein.

    Hier stößt also ein kausaler Verursacher einmalig ein anderes Ereignis an, das wiederum weitere Ereignisse verursachen kann. Für diese weiteren Verursachungen braucht es aber den ersten Verursacher nicht mehr. Eine Kausalkette dieser Art kann prinzipiell ohne Anfang und ohne Ende, also ewig sein, und weil das so ist, könnte die Welt auch ewig sein, weshalb es der Offenbarung bedarf, um Gott als Schöpfer und die Welt als Schöpfung zu sehen.

  1. Von anderer Art ist jedoch z.B. die Elektrizität. Das größte Problem mit der Elektrizität ist ihre Speicherung, um sie abrufen zu können, wenn man sie braucht. Denn sobald die Elektrizitätsquelle ausfällt, fällt auch die Wirkung der Elektrizität aus. Ohne eine gegenwärtig wirkende Elektrizitätsquelle könnte ich gerade diesen Text nicht in den Computer hacken. Fällt „die Steckdose“ aus, geht gar nichts mehr.[3] Wobei „die Steckdose“ für eine Vielzahl von voneinander abhängigen Wirkungen steht: Es beginnt bei der Stromerzeugung im Kraftwerk, geht über Umspannwerke und Stromleitungen, die „den Strom“ zu mir nach hause transportieren, bis hin zum Adapter/Trafo des Laptopkabels und zu den elektrischen Leitungen des Laptops selbst. Fällt auch nur eine dieser Ursachen aus, fällt die gesamte Ursachenkette zusammen und der Laptop funktioniert nicht mehr.[4]

    Hier also braucht es den ersten Verursacher, damit am Ende der Kette eine Wirkung zustande kommt. Er kann nicht entfallen, ohne daß zugleich seine Wirkung entfällt. Diese Art von Kausalität ist bei der Schöpfung gemeint.

Das heißt: creatio ex nihilo sagt nur etwas über das „woraus“ aus, aber nichts über das „wann“, die creatio continua hingegen sagt etwas über das „wann“ (nämlich „immer und jederzeit“) aus und schließt die Erschaffung aus dem Nichts mit ein.

So, ich denke, das reicht erstmal für heute, nächste Woche geht’s weiter.

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[1] Mit „klassischer Theologie“ meine ich im Einklang mit dem II. Vaticanum im wesentlichen Thomas von Aquin (Optatam Totius Nr. 16). (hoch)
[2] Daß die Welt erschaffen wurde und nicht ewig ist, ist nach Thomas von Aquin ein Glaubenssatz (vgl. STh I q. 46, a. 2, c.a.). (hoch)
[3] Natürlich könnte man einwenden, daß bei einem Stromausfall der Akku meines Laptops einspringen würde. Das ändert aber nichts daran, daß ich eine gegenwärtig wirkende Elektrizitätsquelle brauche, nur daß hier der Akku als Elektrizitätsquelle einspringt. Ist auch er verbraucht, ist Schicht im Schacht. (hoch)
[4] Praktischerweise sind die meisten Bestandteile dieser Ursachenkette redundant aufgebaut: Fällt ein Kraftwerk aus, übernimmt ein anderes seine Last, fällt ein Umspannwerk aus, kommt der Strom über ein anderes doch noch an usw., so daß wir relativ selten tatsächlich im Dunkeln sitzen. Die Redundanz ist aber gerade deswegen nötig, weil sonst die Kausalkette bei einer einzigen Fehlfunktion an einem einzigen Kausalkettenglied zusammenbräche. (hoch)

Es könnte jetzt jemand die Frage stellen: Wen interessiert’s, ob der Jurisdiktionsprimat von Anfang an bestand oder nicht, ist doch nur eine strukturelle und eine Machtfrage. Das sollte im christlichen Glauben doch nicht im Vordergrund stehen! Aber ist der Jurisdiktionsprimat damit richtig eingeordnet?

Wenn ich schon so frage, ist das natürlich nicht der Fall:

  1. Das 1. Vatikanische Konzil hat es für heilsnotwendig erklärt, den Jurisdiktionsprimat als von Gott eingesetzt und geoffenbart anzuerkennen.
    Das heißt: Wenn der Jurisdiktionsprimat nicht von Anfang an bestand, sondern erst später erfunden wurde, dann kann er nicht heilsnotwendig sein (wobei die Frage zu klären wäre, in welcher Form er von Anfang an existieren musste, damit die weitere Entwicklung eine legitime Entwicklung ist). Denn dann hätte es eine Zeit gegeben, in der er nicht wenigstens einschlussweise geglaubt wurde, und wäre es heilnotwendig, ihn zu glauben, dann hätten die ersten Christen nicht zum Heil gelangen können, was offenkundig unsinnig ist.
  2. Hat es den Jurisdiktionsprimat nicht von Anfang an gegeben (in welcher Form auch immer), hätte sich das 1. Vatikanische Konzil in einer den Glauben betreffenden Frage fundamental geirrt. Es hätte ein falsches Dogma verkündet. Hat sich das kirchliche Lehramt aber in dieser Frage geirrt, hat es sich notwendigerweise auch in der Lehre von der Unfehlbarkeit des höchsten Lehramtes geirrt und kann sich infolgedessen in jeder anderen Frage ebenso irren.
    Daraus folgte: Ich könnte dem kirchlichen Lehramt in Fragen des Glaubens nicht mehr trauen, es könnte sich ja in jeder Frage auch geirrt haben; folglich könnte ich nur das verantwortet glauben, was ich nach ausführlichem Studium selbst eingesehen habe, aber auf gar keinen Fall etwas, das mir zwar das Lehramt als zu glauben vorlegt, das ich aber nicht einsehe oder gar für falsch halte. Damit wäre der Glaube rein subjektiv geworden, und es könnte kein allgemein verbindliches Glaubensbekenntnis oder überhaupt überindividuellen Glauben geben. Infolgedessen könnte es auch keine Kirche geben, was wiederum offenkundig unsinnig ist.
  3. Nun könnte einer argumentieren, uns verbinde doch das gemeinsame Glaubensbekenntnis, und in diesem sei der Jurisdiktionsprimat nicht enthalten. Tatsächlich steht der Jursdiktionsprimat nicht explizit im Glaubensbekenntnis, er ist aber direkt aus ihm ableitbar, nämlich aus dem Bekenntnis zur „einen, heiligen katholischen und apostolischen Kirche“.

Um den letzten Punkt verständlich zu machen, komme ich um die Frage, was der Jurisdiktionsprimat eigentlich ist, nicht mehr rum:

Kurz gesagt bedeutet der Jurisdiktionsprimat, daß der Papst die oberste rechtliche Instanz in der Kirche ist, sowohl in der Gesetzgebung (Legislative), als auch der Gesetzesdurchführung (Exekutive) als auch der Rechtsprechung (Judikative). Er hat unmittelbare rechtliche Gewalt über die ganze Kirche und jeden einzelnen Gläubigen.

Ist es also doch eine Machtfrage? – Das erste und das zweite Vaticanum, das in dieser Frage überhaupt nicht vom ersten abweicht, sondern vielmehr das erste nur hinsichtlich der Apostolizität ergänzt, führen ganz andere Punkte an:

  1. Einheit: Der Papst als Nachfolger des Apostel Petrus ist Zeichen und Garant der Einheit (eine … Kirche).
  2. Apostolizität: Die eine, heilige, katholische Kirche muss zugleich apostolisch sein, das heißt zumindest dem Kern nach mit der frühen Kirche unter der Leitung der Apostel identisch sein (d.h. Wachstum, tiefere Erkenntnis usw. nicht ausgeschlossen, aber im Kern schon alles dagewesen und geglaubt). Alle Bischöfe sind Nachfolger der Apostel, es gibt eine ungebrochene Linie der Weitergabe der Apostolischen Sendung (= „apostolische Sukzession“). Wie das Apostelkollegium in Petrus seinen Vorsteher hatte, haben ihre Nachfolger, das Bischofskollegium, ihr Haupt im Petrusnachfolger, dem Papst (apostolische Kirche).
  3. Die Katholizität (= Allumfassenheit) der Kirche kann nur zugleich mit der Einheit gedacht werden, ohne Einheit keine Katholizität. Wer nicht in der Einheit mit dem Papst steht, mag zwar auf Christus hingeordnet sein, kann aber nicht Seinem Leib angehören (katholische … Kirche), was im Übrigen ebenso heilsnotwendig ist.
  4. Da der Papst die Sakramentenverwaltung und die Verkündigung des Evangeliums (Lehre) für die ganze Kirche verbindlich regelt, ist auch die Heiligkeit der Kirche (die nicht darin besteht, dass alle Gläubigen persönlich heilig sind, sondern darin, dass die Kirche alle Mittel zur Heiligung, d.h. eben Sakramente und Lehre, besitzt) vom Jurisdiktionsprimat abhängig; sonst könnte jeder Sakramente spenden, wie er lustig ist, aber der Empfänger hätte keine Garantie, dass die Sakramente auch gültig gespendet werden (heilige … Kirche).

Freilich besteht der Jurisdiktionsprimat nicht darin, dass „alle kirchliche Gewalt vom Papste ausgeht“. Vielmehr haben alle Bischöfe Teil an der Leitungsgewalt Christi. Christus ist die Quelle aller Leitungsgewalt. Jedoch hat der Papst die Fülle aller bischöflichen Leitungsgewalt. D.h., während „alle Gewalt von Christus ausgeht“ und jeder Bischof in seiner Diözese die höchste Leitungsgewalt innehat, hat für die ganze Kirche der Papst die höchste Leitungsgewalt, die sich nicht so sehr dem Grade nach unterscheidet (wie es bei den Priestern ist, die ebenfalls Anteil an der Leitungsgewalt haben, aber nicht an der vollen Leitungsgewalt partizipieren, sondern von ihrem Bischof abhängig sind), sondern vielmehr territorial. Erst in der päpstlichen Leitungsgewalt wird die kirchliche Leitungsgewalt wahrhaft katholisch, nämlich die ganze Kirche umfassend.

Wie gesagt, das bedeutet nicht, daß die Bischöfe reine Weisungsempfänger des Papstes sind und nur das ausführen könnten und dürften, was der Papst ihnen vorschreibt. Vielmehr haben sie, wie alle Apostel ihre je eigene Berufung erfuhren, eine eigene Würde und das Recht, für ihre Diözese verbindlich zu entscheiden. Wie aber Petrus eine besondere, zusätzliche Berufung erfuhr, kann der Papst zur Wahrung der Einheit der ganzen Kirche Entscheidungen von anderen Bischöfen aufheben und allgemeine Vorschriften für die ganze Kirche erlassen, und jeder Gläubige, der sich durch eine Entscheidung seines Bischofs beschwert fühlt, kann sich an den Papst wenden, während eine Entscheidung des Papstes nicht mehr anfechtbar ist. Das heißt, der besondere Dienst des Papstes besteht darin, die Einheit in der Vielfalt der regionalen Besonderheiten zu wahren.

Damit zeigt sich, wie unmittelbar der Jurisdiktionsprimat mit dem Verständnis der Kirche zusammenhängt. Im Dogma vom Jurisdiktionsprimat ist zugleich mitbesagt, daß die Kirche nicht nur geistlich verstanden eine ist, sondern real-realistisch, ausgedrückt in der durchaus auch rechtlich verstandenen Einheit mit dem Nachfolger Petri, und daß sie hierarchisch gegliedert ist und von oben, von Christus her gebildet ist.

Der Jurisdiktionsprimat ist daher alles andere als unwichtig. Er ist vielmehr ein ganz entscheidender Ausdruck des rechten Verständnisses von der Kirche. Und es kommt nicht von ungefähr, daß genau an dieser Stelle jeglicher ökumenischer Fortschritt zum Stillstand kommt. Ist der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden oder nicht? Oder nochmal tiefer gefragt: Herrschen (zum Scheitern verdammte) menschliche Wunschträume oder herrscht Christus?

Es lebe Christus, der König!

Als ich mich über den Artikel vom letzten Post aufregte, fing ich erstmal am anderen geschichtlichen Ende zu suchen an. Vom Studium hatte ich im Hinterkopf, daß es vor 1871 keine Definition des Jurisdiktionsprimates gab. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie unser Kirchengeschichtler einen Kommilitonen zurechtwies, der im Kontext des „Hexenhammers“ fragte, wie sich der Bischof von Innsbruck über eine päpstliche Vorschrift hinwegsetzen und Heinrich Institoris
aus seinem Bistum vertreiben konnte: Wann wurde der Jurisdiktionsprimat definiert?

Ich hatte das damals so verstanden, als wäre der Jurisdiktionsprimat mehr oder weniger eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Wenngleich er seine Grundlage sehr wohl schon im Neuen Testament habe, sei er über die Jahrhunderte entwickelt und erst im 19. Jahrhundert voll entfaltet worden.

Aber wie so üblich bewahrt Quellenstudium vor solchen Neuentdeckungen. Denn wenn man sich „Pastor Aeternus“, die dogmatische Konstitution des 1. Vaticanums, in der der Jurisdiktionsprimat als verbindliche Glaubenswahrheit vorgelegt wird, anguckt, stellt man plötzlich fest, daß dort sinngemäß steht: „Wir schreiben als verbindlich zu glauben vor, was bereits das Konzil von Florenz definiert hat.“

Das Konzil von Florenz aber fand aber im späten Mittelalter statt – und gut dreißig Jahre vor dem Erscheinen des Hexenhammers übrigens! Im „Dekret für die Griechen“ (DH 1307) heißt es:

Ebenso bestimmen wir, daß der heilige Apostolische Stuhl und der Römische Bischof den Primat über den gesamten Erdkreis innehat und der Römische Bischof selbst der Nachfolger des seligen Apostelfürsten Petrus und der wahre Stellvertreter Christi, das Haupt der ganzen Kirche und der Vater und Lehrer aller Christen ist; und ihm ist von unserem Herrn Jesus Christus im seligen Petrus die volle Gewalt übertragen worden, die gesamte Kirche zu weiden, zu leiten und zu lenken, wie es auch in den Akten der ökumenischen Konzilien und in den heiligen Kanones festgehalten wird.

Im Anschluß wird noch einmal die Rangordnung der Patriarchate bestätigt: Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem. Datum dieses Dekrete: 6. Juli 1439! Das einzige, was da noch nicht so explizit steht wie in Pastor Aeternus, ist die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte. Der komplette Umfang des Jurisdiktionsprimates ist dort bereits enthalten, und das Konzil behauptet wiederum, nur die bereits bestehende und von vorangegangenen Konzilien bestätigte Lehre zu wiederholen.

Den Verweisen im Denzinger folgend landete ich erstmal beim Glaubensbekenntnis des [byzantinischen] Kaisers Michael Palaiologos auf dem 2. Konzil von Lyon (DH 861), dem Unionskonzil mit den Griechen im Jahre 1274 (das ist das Konzil, zu dem Thomas von Aquin unterwegs war, als er starb):

Eben diese heilige Römische Kirche hat auch den höchsten und vollen Primat und die Herrschaft über die gesamte katholische Kirche inne; sie ist sich in Wahrheit und Demut bewußt, daß sie diesen vom Herrn selbst im seligen Petrus, dem Fürst bzw. Haupt der Apostel, dessen Nachfolger der Römische Bischof ist, zusammen mit der Fülle der Macht empfangen hat.

Desweiteren bestätigt er bereits das, was im Konzil von Florenz noch zu fehlen scheint: Die definitive Letztentscheidung des Papstes in Fragen des Glaubens:

Und wie sie vor den anderen gehalten ist, die Wahrheit des Glaubens zu verteidigen, so müssen auch eventuell auftauchende Fragen bezüglich des Glaubens durch Urteil entschieden werden [definiri(!)].

Ausdrücklich bestätigt der griechische Kaiser den Papst als Appellationsinstanz in allen rechtlichen Fragen und seinen Vorrang gegenüber Konzilien.

Also: Im Hochmittelalter bestätigt ein hoher Vertreter der orthodoxer Christenheit den Vorrang Roms in jeglicher Hinsicht. Natürlich könnte man einwenden, daß das byzantinische Kaiserreich sich seit Jahrhunderten des vordringenden Islams erwehren mußte und im Hochmittelalter entsprechend schwach war, daß überhaupt die Unionsbemühungen hier ihren Ursprung hätten und der Papst dem Kaiser diktieren konnte, was er wollte. Und vor allem, daß die orthodoxen Gläubigen die Union schließlich ablehnten. Das alles relativiert aber nicht, daß bereits hier der Anspruch Roms auf den Jurisdiktionsprimat über die ganze Kirche inklusive der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensfragen klar und deutlich formuliert ist. Im Jahre 1274!

Allerdings ist das keineswegs das Ende der Verweise. Ein weiterer führte zum 4. Konzil von Konstantinopel im Jahre 869. Dieser Verweis ist allerdings ohne Fundstelle im Denzinger-Hünermann. Der Grund dafür ist, daß nämlicher Beschluß eine Vorgeschichte von mehreren hundert Jahren hat und sich sein Wortlaut mit geringen Abweichungen bis ins Jahr 515 zurückverfolgen läßt, nämlich zum Glaubensbekenntnis „Libellus Fidei“ von Papst Hormisdas (DH 363–365) das zur Beendigung des Akazianischen Schismas führte. Dort heißt es unter anderem:

Der Anfang des Heiles ist, die Regel des rechten Glaubens zu beachten und keinesfalls von den Bestimmungen der Väter abzuweichen. Und weil der Spruch unseres Herrn Jesus Christus nicht übergangen werden kann, der sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“, wird das, was gesagt wurde, durch die tatsächlichen Wirkungen erwiesen; denn beim Apostolischen Stuhl wurde stets die katholische Religion unversehrt bewahrt. […] Wie wir vorher sagten, folgen wir in allem dem Apostolischen Stuhl und verkünden alle seine Bestimmungen; deshalb hoffe ich, daß ich in der einen Gemeinschaft mit Euch, die der Apostolische Stuhl verkündet, zu sein verdiene, in der die unversehrte und wahre Festigkeit der christlichen Religion ist. Ich verspreche, daß die Namen derer, die von der Gemeinschaft mit der katholischen Kirche getrennt sind, das heißt, nicht mit dem Apostolischen Stuhl übereinstimmen, während der heiligen Geheimnisse nicht verlesen werden.

Diese Formel beendete das von Rom verkündete Schisma mit Konstantinopel, nachdem Konstantinopel die Beschlüsse des Konzils von Chalzedon relativieren wollte, um die Einheit mit den Monophysiten zu ermöglichen. Konstantinopel, vertreten durch den Patriarchen und den Kaiser, schlossen sich voll und ganz der römischen Position an! Hier ist auch keinerlei äußerer Druck durch den (noch nicht existierenden) Islam oder ähnliches zu erkennen. Allenfalls die Germanen, die allerdings noch dazu Arianer waren, könnte man hier anführen. Die haben allerdings mehr Druck auf Rom als auf Konstantinopel ausgeübt. Mit anderen Worten: Wir haben hier, im Jahre 515/19 (nochmals durch Patriarch und Kaiser bestätigt 535) eine eindeutige und freie Zustimmung Konstantinopels zum Jurisdiktionsprimats Roms!

Damit aber immer noch nicht genug. Bereits im Jahre 343 ging es auf der Synode von Serdika um jurisdiktionelle Zuständigkeiten und Appelationsrechte bei Rechtsverfahren gegen Bischöfe (DH 133–136). Serdika liegt bei Sofia, also im Patriarchatsgebiet von Konstantinopel. Hier beschloß man, daß zunächst die Bischöfe der Kirchenprovinz über ihren Mitbruder Gericht halten sollten. Die Appellationsinstanz gegen ihr Urteil ist aber nicht etwa der Patriarch von Konstantinopel, sondern – unter ausdrücklicher Berufung auf das „Haupt“, d.h. den „Stuhl des Apostels Petrus“ – Rom!

Kurz zuvor hatte Papst Julius I. diese Frage ebenfalls ins Spiel gebracht, als er den Antiochenern in einem Brief (DH 132) vorwarf, den Rechtsweg nicht eingehalten zu haben:

Weswegen aber wurde uns vor allem wegen der Kirche von Alexandrien nicht geschrieben? Oder wißt ihr nicht, daß dies Brauch war, daß zuerst uns geschrieben wird und so von hier aus entschieden wird, was gerecht ist? Wenn nun freilich ein derartiger Verdacht gegen den dortigen Bischof volag, hätte man an die hiesige Kirche schreiben müssen.

Papst Julius beansprucht also, der einzige Richter in Streitigkeiten zwischen Patriarchatssitzen zu sein – nichts anderes also als den Jurisdiktionsprimat!

Gehen wir zurück in die frühe Kirche, also vor die Legalisierung des Christentums durch Kaiser Konstantin, werden die Quellen zwar dünner, aber es gibt sie, und sie ziehen sich durch die Jahrhunderte. So hat sich z.B. Papst Stephan im Jahr 256 in einem nur fragmentarisch überlieferten Brief an die Bischöfe Kleinasiens ausdrücklich auf die Kathedra Petri berufen, und Polykrates von Ephesus scheint, wie aus seinem ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenen Brief an die Kirche von Rom (ca. 185–195) hervorgeht, auf Aufforderung Roms eine kleinasiatische Bischofssynode einberufen zu haben. Wie gesagt, diese Quellen sind dünn, wie überhaupt die Gesamtquellenlage vor dem Konzil von Nicäa 325 recht dürftig ist.

Jedoch sind noch drei frühe Quellen zu nennen, die bereits im apologetischen Teil auftauchten, zu nennen, die deutlich und sehr früh den Jurisdiktionsprimat bezeugen:

  • Irenäus, Adv. Haeresis III, 3, n. 2 (ca. 175–185): „Weil es aber zu weitläufig wäre, in einem Werke wie dem vorliegenden die apostolische Nachfolge aller Kirchen aufzuzählen, so werden wir nur die apostolische Tradition und Glaubenspredigt der größten und ältesten und allbekannten Kirche, die von den beiden ruhmreichen Aposteln Petrus und Paulus zu Rom gegründet und gebaut ist, darlegen, wie sie durch die Nachfolge ihrer Bischöfe bis auf unsere Tage gekommen ist. So widerlegen wir alle, die wie auch immer aus Eigenliebe oder Ruhmsucht oder Blindheit oder Mißverstand Konventikel gründen. Mit der römischen Kirche nämlich muß wegen ihres besonderen Vorranges jede Kirche übereinstimmen, d. h. die Gläubigen von allerwärts, denn in ihr ist immer die apostolische Tradition bewahrt von denen, die von allen Seiten kommen.“
  • In seinem Brief an die Römer redet der heilige Ignatius von Antiochien die römische Kirche als „die den Vorrang führt in der Liebe“ an, was er im übrigen klar von „die den Vorsitz führt im Gebiet der Römer“ unterscheidet. Die Briefe des heiligen Ignatius (ca. 107) sind nach dem Ersten Clemensbrief das überhaupt erst zweite Zeugnis der frühen Kirche nach den biblischen Quellen. Es sei noch angemerkt, auch wenn das ein Argument e silentio ist, daß keiner der anderen Ignatiusbriefe solche Formulierungen auch nur im Ansatz kennt.
  • Der Jurisdiktionsprimat besagt ja im wesentlichen, daß der Papst unmittelbar in jede Ortskirche hineinregieren kann. Der Anlaß des aus Rom kommenden Ersten Clemensbriefes ist die (unrechtmäßige) Absetzung von Priestern in Korinth. Die römische Kirche beansprucht in diesem Brief, unmittelbar in die Kirche von Korinth hineinregieren zu können (vgl. insbes. 1 Clem 57–59). Der Erste Clemensbrief ist also als ganzes ein einziges Zeugnis für den Jurisdiktionsprimat.

Überraschenderweise ist der Jurisdiktionsprimat und seine Ausübung durch den römischen Bischof ausgesprochen gut und von frühester Zeit belegt. Man könnte sogar behaupten, daß abgesehen von der Göttlichkeit Jesu kein Abstraktum der kirchlichen Lehre so gut belegt ist wie der Jurisdiktionsprimat. Und so erklärt sich auch, warum die Protestanten auf so nebensächliche Dinge wie „war Petrus überhaupt in Rom“ abheben. Denn das ist das einzige Glied in der ganzen Lehre vom Jurisdiktionsprimat, das nicht überdeutlich belegt ist – was nicht ganz unnormal ist für Einzelereignisse im Leben eines von der Welt damals für nicht sonderlich bedeutsam gehaltenen Menschen…

Im Juni gab es in unserem Pfarrblatt einen Artikel über den Jurisdiktionsprimat. Wie kurzes Googlen ergabt, erschien dieser Artikel, der einer Zeitschrift entstammt, die als Hilfe bei der Erstellung von Pfarrbriefen erscheint, auch in vielen anderen Juniausgaben von Pfarrblättern. Ist ja auch naheliegend, zumindest wenn man noch nicht vergessen hat, daß am 29. Juni das Hochfest Peter und Paul gefeiert wird.

Der Artikel selbst ist jedoch einigermaßen schauerhaft. Ok, man muß einräumen, daß es aus Perspektive des Autors, der evangelischer Kirchengeschichtler ist, sicherlich ein gelungener Text ist, denn er steht voll und ganz in „guter“ protestantischer Tradition. Aus katholischer Perspektive ist dazu jedoch zu sagen, daß dieser Artikel selbst in der vorsichtigsten Interpretation „eine beharrliche Leugnung“ oder zumindest „einen beharrlichen Zweifel einer kraft göttlichen und katholischen Glaubens zu glaubenden Wahrheit“ (Can. 751 CIC i.V.m. Pastor Aeternus) darstellt, oder einfacher gesagt: Häresie. Wie dieser Text unkommentiert in die katholische Ausgabe nämlicher Zeitschrift kommen konnte… naja, wundert mich irgendwie nicht so wirklich, skandalös ist es (insbesondere im eigentlichen Sinne des Wortes) trotzdem.

Das Schlimmste an dem Artikel ist, daß die dargestellten Fakten gar nicht so falsch sind, aber sehr wohl fehlerhaft eingeordnet werden:

  • Behauptung: „Erst der erste Clemensbrief deutet um die Jahrhundertwende 90/100 n.Chr. einen Märtyrertod des Paulus und Petrus in Rom an…“
    Richtig ist: Der Erste Clemensbrief ist unbestritten die älteste halbwegs sicher datierbare nachbiblische Quelle.[1] Wie man es dreht und wendet, das „erst“ ergibt keinen Sinn. Geht man von Frühdatierungen der biblischen Schriften aus, sind die meisten vor 64-67 (den vermuteten Jahren des Martyriums Petri) entstanden, dann ist der etwa 90-100 entstandende Erste Clemensbrief die erste Quelle, in der man ernsthaft etwas vom Martyrium Petri zu erfahren erwarten darf. Geht man hingegen von Spätdatierungen aus, dann ist das „erst“ geradezu lachhaft, denn dann wäre ein Großteil der biblischen Schriften sogar noch jünger als der Erste Clemensbrief.
  • Behauptung: „…später berichtet Irenäus von Lyon (gest. 202), dass Petrus der erste Bischof der Gemeinde in Rom gewesen sei.“
    Richtig ist: 1. Irenäus von Lyon ist zwar um 202 gestorben. Seine hier maßgeblichen Schriften lassen sich jedoch recht sicher auf die 170er Jahre datieren, als sein Lehrer Polykarp gerade mal zwanzig Jahre tot war. Polykarp aber war ein direkter Schüler des Apostel Johannes. Irenäus selbst, geboren um 120, gehört also erst zur Generation der „Apostelenkel“. Er ist daher als Quelle keineswegs als „spät“ einzustufen.
    2. Irenäus berichtet nicht etwa beiläufig über Petrus als Bischof von Rom, sondern er ist der Systematiker der Apostolischen Sukzession als Kriterium der Rechtgläubigkeit! M.a.W.: Er erfindet nicht mal eben aus lauter Jux und Dollerei die Apostolische Sukzession, sondern auf der Suche nach einem Kriterium, wo die rechte Lehre zu finden ist, greift er auf die apostolische Sukzession, d.h. die Weitergabe der apostolischen Sendung von Bischof zu Bischof zurück. Infolgedessen muß der Gedanke der apostolischen Sukzession (von der Praxis ganz zu schweigen) bereits klar und deutlich vorgelegen haben, als er ihn aufgegriffen hat. Und das ist auch alles andere als unwahrscheinlich, findet sich doch die Einsetzung von Gemeindeleitern durch die Apostel (z.T. mit Handauflegung) bereits in den biblischen Quellen.
  • Behauptung: Mt 16,18 sei das „Wort auf das die katholische Tradition die Vorrangstellung des Apostels zurückführt“.
    Richtig ist: 1. Die katholische Tradition führt darauf keineswegs die Vorrangstellung des Apostels Petrus zurück, sondern den Jurisdiktionsprimat des Papstes!
    2. Die katholische Tradition führt darauf den Jurisdiktionsprimat nicht zurück, sondern verwendet Mt 16,18 als Schriftbeweis für ihn. D.h. in einer bestimmten theologischen Methodik wird die deutlichste Stelle als biblische Grundlage einer kirchlichen Lehre angeführt – als pars pro toto!, d.h. in dieser Stelle kommt am deutlichsten die klare Überlieferung der Heiligen Schrift zum Ausdruck. Die Stelle ist aber sehr wohl im Kontext aller Schriften zu betrachten, und da fällt doch deutlich der Vorrang Petri ins Auge. Obwohl er nicht annähernd so charismatisch wie Johannes und Paulus ist, die ungefähr genauso häufig erwähnt werden wie Petrus (alle anderen Apostel sind weit, weit, weit abgeschlagen), hat er sowohl vorösterlich als auch nachösterlich die Rolle der entscheidenden Autorität im Apostelkollegium inne. Das zeigt sich auch darin, daß sowohl Johannes als auch Paulus den Vorrang des Petrus ausdrücklich bestätigen.

Zwei Aussagen sind allerdings nur schlicht und ergreifend falsch zu nennen:

  • Falsch ist: Die „biblischen Quellen […] wissen […] von einem Romaufenthalt des Petrus nichts“.
    Richtig ist vielmehr: Die biblischen Quellen geben als Abfassungsort des Ersten Petrusbriefes Rom an.[2]
  • Falsch ist: „Aus diesen Notizen ist erst Jahrhunderte später eine Vorrangstellung des römischen Bischofs abgeleitet worden…“
    Richtig ist vielmehr: 1. Sowohl der Erste Clemensbrief als auch die Schriften von Irenäus sind zentrale, maßgebliche und noch dazu gut überlieferte Quellen über die frühe Kirche. Sie trotz ihrer breiten Bezeugung des Jurisdiktionsprimates als „Notizen“ zu bezeichnen, ist, als würde man behaupten, die Evangelien und die Paulusbriefe enthielten einige Notizen über einen Handwerker aus Galiläa, aus denen Jahrhunderte später die Vorrangstellung Jesu Christi in der Kirche abgeleitet wurde![3]
    2. Diese und weitere, unterschlagene Quellen sind nicht Ursprung, sondern bereits Zeugnis des Jurisdiktionsprimats.[4]
  • Falsch ist: „…anfangs gab es neben Rom weitere Patriarchate in Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel.“
    Richtig ist vielmehr: 1. Jerusalem als Patriarchatssitz gibt es erst seit 451 (Konzil von Chalkedon), und auch Konstantinopel wird erst 325 (Konzil von Nicäa) den „von alters her“ bestehenden Patriarchaten Rom, Antiochien und Alexandrien hinzugefügt. Soviel zum Thema „Jahrhunderte später“… Zudem stehen die Patriarchate überhaupt nicht in Konkurrenz zum Jurisdiktionsprimat, wie es auch alles andere als zufällig oder willkürlich ist, daß Rom hier als erstes genannt wird.
    2. Am Jurisdiktionsprimat hat der Verfasser (man ist fast geneigt zu sagen: nur) zu bemängeln, daß es keine biblische Quelle für Petri Aufenthalt in Rom gebe.[5] Für die Patriarchate als einheitsstifendes Moment oder gar Inhaber der höchsten kirchlichen Gewalt gibt es in der Bibel nicht den leisesten Anhalt. Ihr Ursprung liegt auch weitgehend im Dunkeln. Selbst die Konzilien haben mehr biblische Grundlage als die Patriarchate, vom Jurisdiktionsprimat ganz zu schweigen.

Soviel (reine Apologetik) für heute. Nächste Woche soll es nochmal von der anderen Seite aus weitergehen. Denn die Deutlichkeit, mit der der Jurisdiktionsprimat sich durch die Jahrhunderte zieht, hat mich selbst überrascht.

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[1] Je nach Datierung könnten die Didache und der Barnabasbrief älter sein. Sie weisen jedoch Datierungsabweichungen von einem halben bis dreiviertel Jahrhundert auf, können also auch deutlich jünger als der Erste Clemensbrief sein. (hoch)

[2] 1 Petr 5,13 lautet: „Es grüßt euch aus Babylon die Gemeinde, die mit euch auserwählt ist, und mein Sohn Markus.“ Babylon ist eine frühchristliche Chiffre für Rom (siehe z.B. in der Offb). Man könnte zwar argumentieren, der 1 Petr sei pseudepigraphisch, wobei man sich dabei gegen den gegenwärtigen Trend der Forschung stellte, jedoch ändert das nichts daran, daß 1 Petr als biblische Quelle sehr wohl die Anwesenheit Petri in Rom voraussetzt. (hoch)

[3] Ja, auch diese Auffassung gibt es tatsächlich. Aber man muß ja nicht jeden Schwachsinn diskutieren. Die Evangelien zu lesen, sollte ausreichen, um zu merken, daß in ihnen nichts so deutlich ist wie der Anspruch Jesu Christi, Gott zu sein. (hoch)

[4] Ok, ich gestehe zu, daß wir hier bereits in der Quelleninterpretation sind. Man kann natürlich jede einzelne Quelle für sich wegdiskutieren, und das ist eine beliebte Methode. Dennoch kann die Breite und die Vielzahl der Zeugnisse für den Jurisdiktionsprimat, die man da jeweils einzeln wegdiskutieren muß, nur erstaunen. (hoch)

[5] „Nur“ deshalb, weil dieser Einwand nicht die Lehre vom Jurisdiktionsprimat als solche angreift, sondern lediglich den Anspruch des Papstes, ihn als Nachfolger Petri ausüben zu können. Selbst wenn nachgewiesen werden könnte, daß Petrus nie in Rom war, folgte daraus also nicht, daß der Jurisdiktionsprimat falsch ist, sondern die Frage, wer ihn stattdessen ausüben müßte. Dafür gibt es aber überhaupt keine Kandidaten, wie eben auch der Aufenthalt und das Martyrium Petri in Rom bis zur Neuzeit niemals und von niemandem bestritten wurde. (hoch)

Die zwei Straßengräben des Umgangs mit geistlicher Bibellektüre sind „Willkür“ und „das ist historisch gar nicht passiert“. Im ersten Straßengraben wirft man die von Anfang an bei den Kirchenvätern beliebte allegorische Auslegung komplett über Bord und reduziert die Schrift auf ihren historischen Sinn, in dem man dann nach Informationen über Gott oder geistlich wertvollen Erkenntnissen sucht. Im anderen Straßengraben sucht man nach der Bedeutung hinter der Bedeutung, liest die Bibeltexte als Allegorien und narrative Psychologie, läßt aber den historischen Sinn fallen. In beiden Straßengräben kommt man zu wertvollen Erkenntnissen, doch in keinem von beiden kommt man der Fülle des biblischen Inhalts auch nur nahe.

Vielmehr setzt die geistliche Lektüre den historischen Sinn voraus. Nur weil es geschehen ist, hat es überhaupt einen geistlichen Sinn, der wirklich geistlich ist und tatsächlich im Geschehen steckt. Oder wie es der heilige Augustinus in einer Predigt über den heiligen Johannes den Täufer ausdrückte: „Bedenke, was alles geschehen ist, weil es im Bild die wahre Wirklichkeit darstellte.“[1] Das heißt, auch allegorische Auslegung ist niemals willkürlich. Auch wenn es verschiedene legitime Interpretationsansätze geben kann, so schließen diese sich nicht aus, sondern ein. Und sie müssen auch mit dem Kontext des historischen Geschehens passen.

Das ganze will ich an einem Beispiel illustrieren, das letzten Endes sogar ziemlich deutlich ist, nämlich der Speisung der 5.000 und der Speisung der 4.000 und der Auslegung, die sich auf dem Blog von Gregorius Braun findet.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß es sich bei diesen beiden Speisewundern nicht um zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses handeln kann, auch wenn die Unterschiede auf den ersten Blick nur gering sind und das grobe Geschehen sogar identisch scheint. Jedenfalls kommt man mit dieser Erklärung nicht weit, wenn man bedenkt, daß bei Markus und Matthäus beide Speisewunder in enger Nachbarschaft stehen. Lukas und Johannes hingegen lassen die Speisung der 4.000 weg. Solange man Markus und Matthäus nicht eine Buchhaltermentalität unterstellt, in der zwei verschiedene Traditionen desselben Ereignisses aufgrund der Nichtharmonisierbarkeit zu zwei verschiedenen Ereignissen werden (anstatt sich für eine der Traditionen zu entscheiden), müssen sie sich etwas gedacht haben, als sie beide Wunder in ihr Evangelium aufnahmen. Auch an späterer Stelle wird auf beide Wunder als getrennte Ereignisse verwiesen. In den eher unscheinbar liegenden Abweichungen müssen sie also einen tieferen Sinn gesehen haben.

An dieser Stelle setzt Gregorius Braun im Rückgriff auf Kirchenväterauslegungen an. Um sein Posting kurz zusammenzufassen: Die erste Speisung, die der 5.000, richtet sich an das Volk Israel (5 Brote = 5 Bücher der Torah, 2 Fische = die 2 Ämter des Königs und des Hohepriesters), die zweite Speisung, die der 4.000, hingegen an die Heiden (die weder Torah noch die Ämter haben, wohl aber 7 Brote haben = die 7 Tugenden kennen und ein paar Fische = ein paar große Denker wie Sokrates und Platon, die das Christentum erahnt haben). Es bleiben 12 Körbe beim Volk Israel übrig (für jeden der Zwölf einer = apostolische Tradition) und 7 Körbe bei den Heiden (= 7 Gaben des Heiligen Geistes), mithin also gibt in diesen beiden Wundern Christus seiner Kirche das Fundament.

Damit erscheinen beide Wunder als mehr als „nur“ übernatürliche Belege der Göttlichkeit Jesu. Vielmehr handelt es sich um prophetische Zeichen, und so wirft Er sowohl Seinem engeren Jüngerkreis (Mt 16par) als auch dem Volk, das Ihm folgt, vor, nicht verstanden zu haben, was diese Zeichenhandlungen bedeuteten. (Letzteres freilich nur bei Johannes, der nur die Speisung der 5.000 kennt, statt der Speisung der 4.000 hat er hingegen die Brotrede, in der sich der Vorwurf an das Volk findet. Wäre auch nochmal spannend zu betrachten, sprengt aber hier den Rahmen.)

Daß diese Auslegung alles andere als willkürlich ist, obwohl sie auf den ersten Blick so wirken könnte, zeigt sich, wenn man sie in ihrem Kontext betrachtet und insbesondere beachtet, was zwischen den beiden Speisewundern passiert (ich folge hier im wesentlichen Matthäus):

Voraus geht der Bericht über die Enthauptung Johannes des Täufers. Nachdem sich Jesus schon zuvor durch Sein Verhalten und Seine Lehre mit den Autoritäten des Volkes Israel angelegt hatte, zeigt sich hier besonders deutlich, welches Schicksal Ihn erwartet. Wenn die Führer des Volkes den, der das Volk Israel auf seinen Erlöser vorbereiten sollte, hinrichten lassen, werden sie auch Jesus ablehnen und hinrichten lassen. Deutlich ist also, daß Seine Mission, das Volk Israel als Volk zu erlösen, zum Scheitern verurteilt ist.

In dieser Situation erfolgt die Speisung der 5.000. In der allegorischen Auslegung (s.o.) wird hier das Volk Israel, bzw. diejenigen Juden guten Willens, in die Kirche überführt. Spannend übrigens, daß dieses Wunder bei Johannes in Verbindung mit der Brotrede quasi die Einsetzung der Eucharistie darstellt. Johannes versteht also die Speisung der 5.000 nicht nur konkret als Begründung der apostolischen Tradition, sondern sieht hier – naheliegenderweise! – auch die Gabe ihrer geistlichen Quelle, der Eucharistie.

In den folgenden Perikopen spitzt sich die Aufforderung zur Entscheidung zu. Als Jesus über das Wasser zu den Jüngern im Boot geht, kann auch Petrus auf dem Wasser gehen, solange er auf Jesus Christus vertraut und an Ihn glaubt. In dem Moment, wo er das Vertrauen verliert, beginnt er unterzugehen, doch selbst hier noch rettet ihn sein Glaube: „Herr, rette mich!“ Und so kulminiert die Perikope bei Matthäus im eindeutigen Bekenntnis der Jünger „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!“ – während Markus deutlich macht, daß sie nach wie vor nicht verstehen, was die Speisung der 5.000 bedeutete.

Die folgenden drei Verse könnten zwar leicht als „Link“ zwischen zwei größeren Abschnitten untergehen, sind aber geistlich alles andere als unbedeutend. Wenn Jesus alle zu Ihm gebrachten Kranken heilt, so stellen diese Wunder wieder mehr als bloße Belege Seiner göttlichen Autorität dar. Vielmehr ist auch dies ein prophetisches Zeichen dafür, daß in Ihm das Heil anbricht – wie Er schon dem Täufer antwortete: „Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (vgl. Ps 146, Jes 42 u.ö.)

Entsprechend Seiner Antwort an Johannes, die mit: „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt“, endet, folgt nun ein längerer Abschnitt, in dem es zum deutlichen Zerwürfnis mit den Pharisäern über die Reinheitsvorschriften kommt. Nicht von außen, sondern aus dem Innern komme die Unreinheit, die Sünde, die Pharisäer hingegen spricht Er als: „Ihr Heuchler“ an. Die Pharisäer sind entsprechend empört, und Jesus bricht mit ihnen endgültig: Laßt die Blinden die Blinden führen! Das Volk Israel als Volk Gottes existiert nicht mehr.

Und genau nach diesem Zerwürfnis folgt die Perikope, in der Jesus die Bitte einer heidnischen Frau erhört. Sie bestreitet keineswegs den Vorrang Israels, glaubt aber, daß das dem Volk verkündete Heil so groß ist, daß auch etwas für die Heiden abfallen kann. „Frau, Dein Glaube ist groß“, antwortet ihr Jesus. Was Er zuvor mehrfach strikt abgelehnt hatte (z.B. in Mt 7,6, aber auch noch in der Perikope selbst), tut Er nun: Er wendet sich den Heiden zu.

Ausgerechnet hierauf folgt nun die Speisung der 4.000! Die Speisung der 4.000 wurde bei Gregorius Braun als Aufnahme der Heiden in die Kirche interpretiert. Was ergäbe vom Kontext her mehr Sinn? Die Kirche ist zunächst aus dem Volk Israel gegründet worden, doch da das Volk nicht als Volk das Heil will, sondern wichtige Führer es = Ihn ablehnen (Pharisäer), und weil das Heil so groß ist, daß es nicht für das Volk Israel alleine da ist (wie schon im AT die Erwählung des Volkes Israel zum Volk Gottes werkzeuglich verstanden wird, nämlich damit durch die Juden Gottes Heil zu allen Menschen kommt), sondern es auf den Glauben des Einzelnen ankommt (siehe Petri Gang auf dem Wasser), werden nun auch die Heiden in die Kirche, das Neue Volk Gottes, aufgenommen.

Die bei Matthäus zwar etwas vage Ortsangabe (unbewohnte Gegend am See Genezaret) läßt zudem darauf schließen, daß sich die Speisung der 4.000 auf heidnischen Gebiet ereignete. Deutlicher ist hier Markus, bei dem Jesus nach dem Zerwürfnis mit den Pharisäern nicht nur ausdrücklich Galiläa nach Tyrus hin verläßt, sondern über Sidon ins Gebiet der Dekapolis zieht, das im Nordosten an den See Genezaret angrenzt.

Auch die folgenden Perikopen passen voll in diesen Rahmen. Wie Jesus mit den Pharisäern gebrochen hat, so versuchen diese zusammen mit den Sadduzäern Ihn, also Gott, auf die Probe zu stellen, worauf Jesus Seine Jünger vor denselben warnt – und zwar gerade mit dem Verweis auf die beiden Speisewunder. Anschließend folgt das Messiasbekenntnis des Petrus und die Übertragung der Schlüsselgewalt, quasi also die Begründung des Papsttums. Wenn man noch bedenkt, daß erst in Mt 10 und damit kurz vor den beiden Speisungen die Berufung der Zwölf (= Stammväter des neuen Israels) erfolgt, so könnte man glatt sagen, daß der ganze Abschnitt Mt 10-16 von nichts anderem berichtet, als der Begründung der Kirche.[2]

Die allegorische Auslegung, wie sie Gregorius Braun dargelegt hat, läßt sich also aus dem Kontext heraus stützen, ja sie macht sogar auf Details aufmerksam, die einem sonst entgangen wären.

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[1] Vgl. Sermo In Natali Ioannis Baptistae 293,2; in: PL 38, 1327f. (hoch)
[2] Vielleicht kann man auch noch die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung, der Aufruf zur Kreuzesnachfolge und die Verklärung Jesu, vielleicht sogar die noch folgenden Perikopen (z.B. den Rangstreit der Jünger) bis zum Aufbruch nach Judäa, also zur Kreuzigung, zur „Kirchgründung“ zählen. Der Gedanke kam mir gerade erst, den habe ich noch nicht durchmeditiert. (hoch)

Wenn die Diskussionen über die Ehe in den letzten Wochen, seien sie gesellschaftlich, seien sie innerkirchlich, eins gezeigt haben, dann das: Was die Ehe eigentlich ist, weiß kaum noch einer. Da wird die Ehe über die in ihr gelebten Werte definiert (hä? und was, wenn die Werte faktisch nicht gelebt werden, ist es dann keine Ehe?!) oder sie wird willkürlich auf alle möglichen Beziehungen ausgedehnt.

Ich will mich jetzt nicht auf die Grundsatzdiskussion einlassen, ob man legitim naturrechtlich argumentieren darf (ja, natürlich), weshalb ich mich auf das kirchliche Verständnis beschränke, das allerdings beansprucht, die Ehe so zu verstehen, wie sie eigentlich von vornherein gedacht war („Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so.“ [Mt 19,8]; im AT gibt es auch Polygamie).

Ausgehen möchte ich von der Umschreibung der Ehe als „Bund fürs Leben“. Vielfach eher belanglos als poetisch erscheinendes Synonym verwendet (wobei selbst das nicht mehr in den letzten 10–15 Jahren) steckt dort eigentlich alles drin, was die Ehe ausmacht.

Wie gesagt, geht es in der Ehe nicht um Werte, sondern um jemanden, nämlich meinen Ehepartner. Die Ehe ist der Bund zwischen einem Mann und einer Frau, der eine Gemeinschaft des ganzen Lebens begründet. „Des ganzen Lebens“ ist dabei sowohl qualitativ als auch quantitativ gemeint: Die Ehepartner geben sich ganz einander hin und versprechen sich damit, daß der jeweils andere ihnen wichtiger ist und sein wird als sie selbst.

Das ist natürlich eine steile These und ein hoher Anspruch. Noch dazu handelt es sich um einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, wie sich der andere entwickelt, wie man sich selbst entwickelt und ob das in Einklang geschieht. Das muß aber notwendigerweise so sein. Denn Ganzhingabe bedeutet eben, daß ich nicht meinen Vorteil suche, sondern den des anderen.

Damit begebe ich mich aber in eine große Gefahr, nämlich ausgenutzt zu werden. (BTW: Genau deswegen werden alle, die von ihrem Partner die Erfüllung ihrer Wünsche erwarten, scheitern, denn kein Mensch kann das leisten; aber das nur am Rande.) Um in dieser Ganzhingabe, in der man sich de facto vorbehaltlos selbst aufgibt, gerade nicht ausgenutzt und zerstört zu werden, ja um die Menschen vor der Selbstzerstörung aus Liebe zu schützen, ist die Ehe auch kein beliebig aushandelbarer Vertrag mit x Klauseln, und wenn man vergessen hat, eine bestimmte Absicherung einzubauen, hat man halt im Falle des Falles Pech gehabt. Nein, die Ehe ist beiden Partnern objektiv vorgegeben, und sie kommt nur zustande, wenn beide zumindest einschlußweise wollen, was die Ehe ist.

Rechtlich bildet die Ehe bildet auf diese Weise den Rahmen, in dem eine verantwortete Ganzhingabe überhaupt möglich wird. Die Ehegatten binden sich in diesem Bund also auf Gedeih und Verderb aneinander. Oder wie es die Bibel ausdrück: Sie werden ein Fleisch. Weil aber auch das immer noch über die menschlichen Möglichkeiten hinausgeht, ist die Ehe zwischen zwei Getauften Sakrament (das sich übrigens die Ehegatten gegenseitig spenden!). Sakramente sind Hilfsmittel Gottes, die es einem möglich machen, zu tun (oder auch zu lassen), was dem Menschen eigentlich unmöglich ist.

Und weil es nicht möglich ist, die Ehe ohne dieses Hilfsmittel in ihrer Idealform zu leben, kennt die Kirche in ihrem Recht auch diverese (ich bin fast geneigt zu sagen: pastorale) Ausnahmeregelungen, die sich insbesondere auf Ungetaufte beziehen, z.B. wenn ein Ungetaufter sich taufen läßt und der ungetauft bleibende Partner nicht gewillt ist, die Ehe fortzusetzen. Sie besteht aber auf der Höchst- und Idealform, in der allein wirklich eine Gemeinschaft des ganzen Lebens gelebt werden kann. (So muß sich der polygam lebende Heide, der sich taufen lassen will, für eine Frau entscheiden; freilich ohne seine sozialen Verpflichtungen gegenüber den anderen zu verlieren.)

Aus dieser qualitativ wie quantitativ zu verstehenden Ganzhingabe ergeben sich auch die vom CIC definierten Wesenseigenschaften der Ehe. Nämlich die Einheit (qualitativ) und die Unauflöslichkeit (quantitativ), die die Möglichkeitsbedingungen der Ganzhingabe darstellen. Wenn ich mir vorbehalte, mich auch anderen Menschen in der ehelichen Weise ganz hinzugeben, kann ich mich niemandem ganz hingeben (reine Logik), so daß der Bund der Ganzhingabe nur mit einem Menschen zugleich eingegangen werden kann. Aber auch, wenn ich diesen Bund der Ganzhingabe zeitlich begrenzen will, ist die Hingabe nicht mehr ganz, da immer der Vorbehalt der Beendigung im Raum steht. Beides würde also auf die eine oder andere Weise die Ganzhingabe unmöglich machen.

Wenn man nun noch eine Ebene „drunter“ guckt, stellt man fest, daß auch die Wesenselemente der Ehe sich aus dem Gedanken der Ganzhingabe ergeben. Wie schon gesagt, besteht die Ganzhingabe vor allem darin, des anderen Wohl zu suchen, so daß das eine Wesenselement der Ehe eben das Wohl der Ehegatten ist – und zwar beider gleichzeitig, was nur funktioniert, wenn ich immer das Wohl des anderen suche und dieser meines, und nicht andersrum, als ob ich einen Anspruch darauf hätte. Genau das meint nämlich Ganzhingabe: Ich gebe meine Ansprüche auf, um die des anderen zu erfüllen. Im besten Fall dient das auch meinem Wohl, aber darauf darf es mir nicht ankommen, weil dieser Ansatz genau meinem Wohl im Wege steht.

Das andere Wesenselement ist die Zeugung von Nachkommenschaft. Das scheint auf den ersten Blick vielleicht nicht unmittelbar aus der Ganzhingabe zu folgen, tut es aber. Denn wenn ich die Zeugung von Nachkommenschaft verhindere – und sei es im gegenseitigen Einvernehmen – mache ich Vorbehalte, ich schenke mich nicht ganz dem anderen hin. Das schließt natürlich nicht aus, daß es Zeiten und Umstände gibt, in denen der menschlichen Schwäche selbst in einer sakramentalen Ehe Zugeständnisse gemacht werden müssen. Allerdings ist eine Ehe, die nicht von Anfang an zumindest prinzipiell für Kinder offen ist, eben keine Ehe.

Wie drastisch der Gedanke der Ganzhingabe auch im Eherecht umgesetzt ist, zeigt sich nicht nur an den Ehehindernissen (Impotenz im Sinne von Beischlafunfähigkeit, auch und gerade wenn sie nur auf den Partner bezogen ist, macht zur Ehe unfähig, nicht aber die bloße Zeugungsunfähigkeit), sondern auch am Verständnis, wie die Ehe zustandekommt. Sowohl das Eheversprechen als auch der „Vollzug“, d.h. die sexuelle Vereinigung in wahrhaft menschlicher Weise (also z.B. nicht durch Vergewaltigung, sondern nur als Akt der zumindest versuchten Ganzhingabe), sind für das Zustandekommen einer unauflöslichen Ehe notwendig.

Abschließend noch ein Wort zur Sakramentalität der Ehe, die mir auch etwas verkürzt verstanden zu werden scheint. Das Sakrament der Ehe ist nicht punktuell. Zwar ist theologisch der Punkt der Eheschließung insofern relevant, als das Zustandekommen des Ehekonsenses den Zeitpunkt definiert, zu dem das Sakrament zustande kommt. Aber wie schon an der doppelten Bedingung für die Unauflöslichkeit der Ehe zu erkennen ist, wirkt das Sakrament nicht einmalig, sondern – ein bißchen ähnlich zu Taufe, Firmung und Weihe – fortdauernd in dem Sinne, daß die in dem einmaligen Akt vermittelten Gnaden dadurch vertieft werden können, daß ich sie mehr zu wirken zulasse, oder auch wieder aufleben, etwa indem ich meine Sünden beichte. Wie die ganze Ehe, so auch ihre Sakramentalität: Ganzhingabe. Sie ist ein Geschenk, das mich durch den Partner erreicht, wenn ich mich ihm ganz hingebe.

Und noch so ein Post, der seit drei Jahren in der Warteschleife lag, aber es verdient, ans Licht zu kommen.

In Etzelsbach ist der Papst am deutlichsten auf das Verhältnis von Kirche und Welt eingegangen. Ja, in Etzelsbach, nicht in der Konzerthausrede, denn da ging es um die Verweltlichung der Kirche.

Damals habe ich das nicht so mitbekommen, weil die Vorbereitungen auch der Helfer für die Papstmesse auf dem Domplatz auf Hochtouren liefen, und habe immer nur „Maria, Maria, Maria“ gehört. Das ist auch nicht falsch gewesen, denn anhand von Maria stellt er die christliche Seite der Alternativen dar.

Es ist wohl auch nicht zufällig, daß er dies gerade im Eichsfeld getan hat. Nirgendwo sonst hatte er ein so durchgekirchlichtes Publikum vor sich, das sich in größeren Teilen zudem noch lebhaft an die Konfrontation mit den Kräften der Welt erinnern konnte. Und so trennen die erste Nennung Mariens und die erste Erwähnung gottloser Diktaturen ganze 25 Worte.

Die zwei gottlosen Diktaturen sind eigentlich nur ein kurzer, dunkler Schatten auf einem sehr lichtreichen Abschnitt der Predigt, der im gesprochenen Wort schnell untergeht. Aber sie ist doch mehr, als nur die Erwähnung des besonderen „Charisma“ des Ortes, nämlich über 56 Jahre hinweg weitgehend geschlossen antichristlichen Diktaturen getrotzt zu haben. Beim Lesen dachte ich mir bereits an dieser Stelle: Und heute? Was über ein halbes Jahrhundert Diktatur nicht geschafft haben, scheint sich jetzt selbst im Eichsfeld durchzusetzen. Und ist es bei diesem Papst so weit hergeholt, im Hintergrund gleich noch eine dritte, heutige Diktatur, die des Relativismus mitschwingen zu hören?

Ich denke nicht. Denn etwas nach der Mitte der Predigt legt sich ein erneuter dunkler Schatten auf das Licht, das die Worte des Papstes ausstrahlen. Auch hier nur kurz, aber drastisch, zwar nur als die dunkle Gegenfolie, aber so auf den Punkt gebracht, daß man das Beschriebene theologisch nur als Satanismus bezeichnen kann (zumindest entspricht es bis in den Wortlaut hinein dem, was ich in meiner Diss als theologischen Gehalt des Begriffes Satanismus herausgearbeitet zu haben meine):

Nicht die Selbstverwirklichung, das Sich-selber-haben-und-machen-wollen schafft die wahre Entfaltung des Menschen, wie es heute als Leitbild modernen Lebens propagiert wird, das leicht zu einem verfeinerten Egoismus umschlägt.

Daß mir diese Dunkelheit als erstes auffällt, kann ich wohl mittlerweile als Berufskrankheit anerkennen lassen. Doch auch im „lichten“ Rest der Predigt scheint bei genauerer Betrachtung immer wieder auch die Dunkelheit durch. Wie sollte das auch anders sein, ist das Gnadenbild von Etzelsbach doch eine Pietà:

Eine Frau mittleren Alters mit schweren Augenlidern vom vielen Weinen, den Blick zugleich versonnen in die Ferne gerichtet, als bewegte sie alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Auf ihrem Schoß liegt der Leichnam des Sohnes, sie faßt ihn behutsam und liebevoll, wie eine kostbare Gabe. Wir sehen die Spuren der Kreuzigung auf seinem entblößten Leib.

Maria kennt wie wir das Leid, ja, sie kennt „das größte aller Leiden“ und kann daher alle unsere Nöte mitempfinden. So gehen von der Schmerzensreichen Trost und Stärkung aus.

Entscheidend dafür ist aber die Beziehung zwischen Mutter und Sohn und ihre Betrachtung durch den trostsuchenden Gäubigen. Der Papst weist dabei auf eine Besonderheit der Etzelsbacher Darstellung hin. Der tote Jesus liegt hier nicht, wie sonst meist üblich, mit dem Kopf nach links, so daß der Betrachter seine Seitenwunde sehen könnte, sondern mit dem Kopf nach rechts, so daß seine linke Seite, die Herzseite, der Mutter zugewandt ist. Beide Herzen kommen einander nahe. „Sie tauschen einander ihre Liebe aus.“ Cor ad cor loquitur.

Genau das ist die christliche Gegenkonzeption zum „Selber-machen“,

die Haltung der Hingabe, des sich Weggebens, die auf das Herz Marias und damit auf das Herz Christi ausgerichtet ist und auf den Nächsten ausgerichtet ist und so uns erst uns selber finden läßt.

Gott läßt uns nicht im Leid versinken. Auch (gerade) bei Maria hat Er alles zum Guten gewendet. Und Maria ist sozusagen unser Vor-Bild, das Bild, an dem wir erkennen können, was Gott an uns tun will und wird, wenn wir Ihn denn nur ließen. Doch sie ist nicht nur das Bild des Heils, das uns erwartet, sondern Christus hat sie uns auch zur Mutter gegeben, durch die Er uns Seine Gnade schenken will:

Im Moment Seiner Aufopferung für die Menschheit macht Er Maria gleichsam zur Vermittlerin des Gnadenstroms, der vom Kreuz ausgeht. Unter dem Kreuz wird Maria zur Gefährtin und Beschützerin der Menschheit auf ihrem Lebensweg.

Das sollte man nicht dogmatisch mißverstehen. Der Papst meint nicht, daß es ohne die Vermittlung Mariens kein Heil gäbe. Vielmehr ist das ein pastoraler Gedanke Gottes: Es fällt vielen Menschen leichter, zu einem anderen Menschen eine Beziehung aufzubauen und von ihm Hilfe anzunehmen als direkt zu/von Gott. So ist die Mutterschaft Mariens eine Form der Fortsetzung der Inkarnation. Gott wird Mensch, um es den Menschen einfacher zu machen, Seine Gnade anzunehmen, und Er setzt Menschen ein, um diese Gnade zu vermitteln, zuallererst Seine menschliche Mutter, Maria.

Ja, wir gehen durch Höhen und Tiefen, aber Maria tritt für uns ein bei ihrem Sohn und hilft uns, die Kraft Seiner göttlichen Liebe zu finden und sich ihr zu öffnen.

Es ist schwer für den Menschen, sich seine Schwäche einzugestehen, Hilfe von anderen anzunehmen. Umwieviel schwerer ist es noch, sich einzugestehen, auf die Hilfe Gottes angewiesen zu sein!

[Maria] will uns in mütterlicher Behutsamkeit verstehen lassen, daß unser ganzes Leben Antwort sein soll auf die erbarmungsreiche Liebe unseres Gottes. Begreife – so scheint sie uns zu sagen -, daß Gott, der die Quelle alles Guten ist und der nie etwas anderes will als dein wahres Glück, das Recht hat, von dir dein Leben zu fordern, das sich ganz und freudig seinem Willen überantwortet und danach trachtet, daß auch die anderen ein Gleiches tun.

Das setzt Demut, Selbsterniedrigung voraus, so daß aus rein menschlicher Perspektive das „Selber-machen“ sehr viel verlockender und hilfreicher erscheinen mag. „Better to reign in hell, than to serve in heaven“, wie es in John Miltons Paradise Lost heißt. Und so schließt sich der Kreis. Dem weltlichen Weg der gottlosen Diktaturen, des „Selber-Machens“, der Selbstverwirklichung, ja, des Satanismus in der Selbstvergöttlichung steht der himmlische Weg Mariens zu Christus entgegen, ein Weg der Demut, der Liebe, der Zuwendung und des Friedens, der Vergöttlichung des Menschen durch den einzigen, der diese Vergöttlichung schenken kann, weil Er selbst wahrer Gott und wahrer Mensch ist (Theosis). Und ist es wohl zu weit hergeholt, Absicht darin zu sehen, daß die gegenwärtige Diktatur des Relativismus nur ansatzweise angedeutet wird? Will der Papst nicht sagen: Diese gottlosen Diktaturen, das „Selber-Machen“, das ist ein Weg der Vergangenheit (selbst wenn er vielleicht gegenwärtig beschritten wird), die Zukunft aber gehört dem himmlischen Weg, denn „wo Gott ist, da ist Zukunft“?

Dieser Post liegt schon seit über drei Jahren im Entwurfsordner. Am Anfang sollte es eine komplette Papst-Predigten-und-Ansprachen-Reihe werden. Irgendwann fehlte mir erst die Zeit, dann geriet das Projekt in Vergessenheit. Als ich wieder drüber stolperte, hatte sich meine Situation so weit verändert, daß ich mir nicht mehr sicher war, den Post noch so verantworten zu können. Tatsächlich würde ich ihn heute nicht mehr so schreiben. In der Sache hat sich meine Auffassung nicht geändert. Nur ist es nicht mehr so existentiell.

Mit der Papstpredigt im Olympiastadion (Video, Predigt ab 48:30) bin ich persönlich sehr verbunden. Es waren genau die richtigen Worte zur richtigen Zeit, die Antwort auf eine zuvor meditierte Frage.

Ich habe die Kirche immer geliebt. Auch jahrelange „Indoktrination“ (durch wen kann ich gar nicht sagen) hat das nicht ändern können, mir aber doch ein schlechtes Gewissen gemacht: Wenn ich die Kirche liebe, bin ich dann ein schlechter Christ, weil ich Christus nicht liebe? Ja, dieser Gedanke ist so bekloppt, wie er aussieht, aber das hat mich lange beschäftigt. Erst als ein Professor (noch dazu ein Freiburger!) die alte Tradition zitierte, daß man die Kirche nicht lieben könne, ohne Christus zu lieben, daß also die Liebe zur Kirche Liebe zu Christus ist, löste sich diese Hemmung auf. Ha, ich darf also nicht nur die Kirche lieben, wenn ich Christus lieben (möchte), ich muß es sogar.

Doch bald darauf hatte ich das nächste Problem: Wenn ich die Kirche lieben muß, wenn und weil ich Christus liebe – woher kommt dann all das abfällige Gerede über die Kirche in der Kirche?! Nie hatte ich ein Problem mit Kirchenkritik von außen, aber die (destruktive[1]) Kritik an der Kirche von innen, die Häme, teilweise der Haß gegenüber ihren Repräsentanten sogar durch einfache Gläubige, die innere Zerstrittenheit der Hierarchie selbst, all das habe ich nie begreifen können.

Ok, ich muß einräumen, daß ich das Glück hatte, nur periphär und erst spät mit solchen Erfahrungen konfrontiert zu werden, obgleich meine Heimatpfarrei auch nicht immer ein Herz und eine Seele war – aber Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. 🙂 So bin ich auch nie mit der inneren Logik dieser Kirchenkritik konfrontiert worden und habe sie auf Unverständnis und mangelndes Glaubenswissen zurückgeführt. Also: Wenn man den ganzen Kritikern mal in Ruhe alles erklären würde, könnten sie gar nicht anders, als die Kirche ebenfalls zu lieben und konstruktiv zu kritisieren. (Daß es unter den destruktiven Kritikern auch Theologieprofessoren gab, habe ich geflissentlich ausgeblendet.) Jedenfalls wollte ich nie einem Katholiken in seiner Kirchenkritik einen bösen Willen unterstellen. Gerade aus Liebe zur Kirche kann ich das doch eigentlich auch gar nicht. Auch der destruktive Kritiker ist doch als getaufter Katholik Teil der Kirche und damit des Leibes Christi. Ich verstehe zwar nicht, wie er tickt, aber daß er aus seiner Lebensgeschichte heraus konsequent und im Glauben so tickt, habe ich immer vorausgesetzt.

Mir ist zwar über die Jahre immer deutlicher geworden, daß gerade das Verständnis der Kirche als Leib Christi praktisch verdunstet ist, daß das Glaubenswissen nicht nur im Argen liegt, sondern vielfach bei Null. Aber eine Möglichkeit habe ich nie in Betracht gezogen: Daß sogar die Mehrheit der aktiven Katholiken in Deutschland leben könnte, als ob sie nicht glaubte, daß tatsächlich ein Großteil der Kirche de facto vom Glauben abgefallen ist. Bis ich einen längeren Blick in den Maschinenraum der deutschen Kirche werfen konnte. Da kamen mir dann langsam Zweifel an meinem Optimismus. Klar, man kann nie wirklich beurteilen, ob und was der andere glaubt (auch sehr überraschende Zeugnisse habe ich schon erlebt, die mir meinen eigenen Hochmut vor Augen geführt haben). Aber von einem Gedanken mußte ich mich langsam aber sicher verabschieden: Daß es reicht, einfach mal alles ordentlich zu erklären. Viel zu viele sind dermaßen in einer gut geölten Maschinerie aktiv, daß sie gar nicht merken, daß die Maschine gleichermaßen heiß wie leer läuft. Sie machen tolle Aktionen, sind in der Gesellschaft präsent – bringen aber Christus nicht nur nicht zu den Menschen, sondern sind auf dieser Ebene sogar gar nicht ansprechbar. Da redet man einfach an ihnen vorbei. Sie verstehen einen überhaupt nicht. So wird das nichts mit der missionarischen Kirche. Es gibt keine Kommunikationsmöglichkeit. Über die praktische Umsetzung unseres Glaubens. Es fehlt die gemeinsame Grundlage. Und was kann die gemeinsame Grundlage sein, wenn nicht Christus?! Also fehlt ihnen Christus?

Μὴ γένοιτο! Das sei ferne! Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Und natürlich, ich habe auch andere Menschen im kirchlichen Dienst erlebt, die sich wirklich gemüht haben, Christus zu verkündigen und dabei sogar ähnliche Aktionen gemacht haben, wie diejenigen, die auf dieser Ebene überhaupt nicht ansprechbar waren. Es kommt nicht darauf an, was jemand macht, sondern auf welcher Grundlage er es tut. Aber es waren nur ein paar wenige. Und so nagte der Verdacht weiter in mir.

Tja, und dann kam der Papst. Ich hatte schon wieder etwas Abstand zu meinen irritierenden Erfahrungen und kam bei der Reflexion über sie immer wieder zu dem Punkt: Kann es denn sein, daß ein Großteil der Kirche in Deutschland vom Glauben abgefallen ist? So auch am Abend des 22. September 2011. Während der Papst in Berlin predigte, stand ich unter der Dusche und meditierte dabei (auch unter dem Eindruck der absolut schäbigen Begrüßung des Papstes durch unseren damaligen Bundes-Wulff) diese Frage, brachte sie im Gebet vor Gott. Aber den Eindruck, der sich in mir immer mehr verstärkte, wollte ich immer noch nicht wahrhaben. Ich habe kein Problem, mit apokalyptischen Höllenpredigten und der massa damnata zu provozieren, aber doch immer nur, um aufzurütteln, um die Gefahr vor Augen zu führen, aber ihr Eintreten letztlich zu verhindern. Daß das tatsächlich das Ende einer großen Zahl von Menschen sei, vielleicht sogar der größten Zahl der Menschen und gerade meiner Zeitgenossen, noch dazu solcher, die neben mir in der Kirchenbank gesessen haben? Ich will das nicht, aber ich kann es nicht verhindern, wenn es so sein sollte, also darf es so nicht sein!

Das waren also die Voraussetzungen, unter denen ich dann unmittelbar nach dem Duschen die Aufzeichnung der Predigt aus dem Olympiastadion gehört habe. Und sie traf mich wie ein gut plazierter rechter Haken. Mit der grandiosen Vorlage des wahren Weinstocks (Joh 15,1-8) predigte der Papst genau die Kirche als Leib Christi:

Und dieses Zueinander- und Zu-Ihm-Gehören ist nicht irgendein ideales, gedachtes, symbolisches Verhältnis, sondern – fast möchte ich sagen – ein biologisches, ein lebensvolles Zu-Jesus-Christus-Gehören. Das ist die Kirche, diese Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und füreinander, die durch die Taufe begründet und in der Eucharistie von Mal zu Mal vertieft und verlebendigt wird. „Ich bin der wahre Weinstock“, das heißt doch eigentlich: „Ich bin ihr und ihr seid ich“ – eine unerhörte Identifikation des Herrn mit uns, mit seiner Kirche.

Das Gleichnis vom Weinstock bleibt aber nicht dabei stehen, diese Identifikation einfach freudig zu verkünden, sondern seine eigentliche Spitze hat es in der Verwandlung der Rebe durch den Winzer, der den Weinstock pflegt und hegt, „die dürren Reben abschneidet und die fruchttragenden reinigt, damit sie mehr Frucht bringen“. Der Papst fährt fort mit einem anderen, der Realität noch näheren Bild des Propheten Ezechiel (für mich eines der schönste Bücher des Alten Testamentes): „Gott will […] das tote, steinerne Herz aus unserer Brust nehmen, und uns ein lebendiges Herz aus Fleisch geben (vgl. Ez 36,26), ein Herz der Liebe, der Güte und des Friedens. Er will uns neues, kraftvolles Leben schenken.“ Und diese Dynamik wird vermittelt durch die Kirche, die der Leib Christi ist und Gottes Heilswerkzeug für die Menschen, die Sünder, „um uns den Weg der Umkehr, der Heilung und des Lebens zu eröffnen“. Was für eine froh machende Botschaft diese Reinigung doch ist!

Doch dann kam der Abschnitt, der mich tatsächlich „ausknockte“. Der Papst selbst spielt auf die Zustände in der deutschen Kirche an, die ziemlich genau meine Erfahrungen im „Maschinenraum“ trafen:

Manche bleiben mit ihrem Blick auf die Kirche an ihrer äußeren Gestalt hängen. Dann erscheint die Kirche nurmehr als eine der vielen Organisationen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, nach deren Maßstäben und Gesetzen dann auch die so sperrige Größe „Kirche“ zu beurteilen und zu behandeln ist. Wenn dann auch noch die leidvollle Erfahrung dazukommt, daß es in der Kirche gute und schlechte Früchte, Weizen und Unkraut gibt, und der Blick auf das Negative fixiert bleibt, dann erschließt sich das große und schöne Mysterium der Kirche nicht mehr.

Dann kommt auch keine Freude mehr auf über die Zugehörigkeit zu diesem Weinstock „Kirche“. Es verbreiten sich Unzufriedenheit und Mißvergnügen, wenn man die eigenen oberflächlichen und fehlerhaften Vorstellungen von „Kirche“, die eigenen „Kirchenträume“ nicht verwirklicht sieht! Da verstummt dann auch das frohe „Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad‘ in seine Kirch‘ berufen hat“, das Generationen von Katholiken mit Überzeugung gesungen haben.

Dieser kurze Absatz traf und deutete die „Maschinenraum“-Erfahrungen dermaßen deutlich und stimmig, daß mir seit diesem Moment völlig klar ist: Es ist nicht nur möglich, es ist sogar der Fall, daß ein großer Teil der deutschen Kirche vom Glauben abgefallen ist. Und daß ausgerechnet diese für jeden, der Christus anhängen will, wirklich frohe Botschaft, dieser kurze Abschnitt über die Reinigung der Reben als „Drohbotschaft“ die öffentliche Wahrnehmung der Predigt bestimmte, sagt doch eigentlich schon alles. Damit ergab sich eigentlich auch gleich noch, daß es keine Rückkehr in den „Maschinenraum“ geben kann, daß der Eindruck in ebenjenem „neutralisiert“, wirkungslos zu sein, weil bereits die Grundlage dessen, was ich dort erreichen wollte, nicht gegeben ist und die entsprechenden Anstrengungen, sie zu schaffen, mich nur zeitlich davon abhalten, tatsächlich missionarisch tätig zu sein, nicht aus der Luft gegriffen war. Und wer die Hand an den Pflug legt und noch einmal zurückschaut, ist des Himmelreiches nicht würdig…

Wo ich die Predigt gerade noch einmal lese, fällt mir auf, wie deutlich der Papst auch im Folgenden immer und immer wieder nichts anderes tut als seine Zuhörer zur Umkehr aufzurufen. Mit frohen und ermutigenden Worten, aber nichtsdestoweniger deutlich: Immer und immer wieder steht Christus als Wurzelgrund im Mittelpunkt, fordert der Papst uns auf, in Christus zu bleiben, der uns im Umkehrschluß eine Bleibe in schwieriger, geradezu dunkler Zeit schenkt, „einen Ort des Lichtes, der Hoffnung und der Zuversicht, der Ruhe und der Geborgenheit. Wo den Rebzweigen Dürre und Tod drohen, da ist in Christus Zukunft, Leben und Freude.“ In Christus zu bleiben, und das ist der nächste Hieb auf die deutsch-katholische Kirche, bedeutet, in der Kirche zu bleiben: „Wir glauben nicht allein, wir glauben mit der ganzen Kirche aller Orten und Zeiten, mit der Kirche im Himmel und auf der Erde.“ Boah, da kann ich mich als „Vincentius Lerinensis“ nur persönlich angesprochen fühlen. Und als ob das nicht schon reichte, legt er einen halben Absatz später noch einmal nach, so daß ich mich auch als Sebastian Berndt durch diese Predigt nur persönlich und gerade in der ganzen Komplexität der oben dargelegten Fragestellung angesprochen fühlen kann:

Daher konnte Augustinus sagen: „In dem Maß, wie einer die Kirche liebt, hat er den Heiligen Geist“ (In Ioan. Ev. tract. 32,8 [PL 35,1646]).

Und so maße ich mir an, den folgenden Abschnitt:

Wer an Christus glaubt, hat Zukunft. Denn Gott will nicht das Dürre, das Tote, das Gemachte, das am Ende weggeworfen wird, sondern das Fruchtbare und das Lebendige, das Leben in Fülle, und Er gibt uns Leben in Fülle.

umzukehren: Wer nicht von Christus her lebt und durch alles, was er tut, Seine Liebe zu den Menschen zu verkünden versucht, hat keine Zukunft.

Laßt die Toten ihre Toten begraben.


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[1] Es gibt natürlich auch eine legitime Kirchenkritik, die sich gerade aus der Liebe zur Kirche speist. Aber die ist nicht destruktiv, nicht Rechte von anderen einfordernd, sondern konstruktiv und fängt beim Kritiker selbst an. Sie ist eine Kritik in Demut, die sich vom Kern des Glaubens, von Christus her versteht, und nicht aus Hochmut. (hoch)

Einer der Gründe, warum ich am Ende des letzten Jahres plötzlich wieder aufgehört habe zu bloggen, war die Bibel. Genauer: Mein Vorsatz, im Jahr 2014 die Bibel einmal komplett durchgelesen zu haben. Das wurde am Ende ziemlich knapp (am 1.10. fehlten noch 45 Bücher, am 1.11. noch 31 und am 1.12. noch 13 Bücher, darunter fast das komplette Geschichtswerk), so daß ich klare Prioritäten gesetzt habe.

Ein paar frühe Resultate dieses Vorsatzes habe ich letztes Jahr schon verbloggt. Jetzt will ich der Frage nachgehen, ob sich das ganze gelohnt hat. Nicht nur Jürgen, sondern auch mein AT-Professor waren nach ihrem Komplettdurchgang diesbezüglich etwas skeptisch. Auch ich selbst habe, schon als Jugendlicher, den Versuch, die Bibel komplett zu lesen, nach anderthalb Büchern abgebrochen.

Dieser Versuch aus der Jugendzeit war auch der Grund, warum ich das Geschichtswerk so lange vor mir hergeschoben habe. Und tatsächlich: Ich halte das Buch Exodus für das am anstrengendsten zu lesende Buch der ganzen Bibel. Damals bin ich irgendwo im Bundesbuch (ca. Ex 22) hängengeblieben und konnte mich nicht mehr überwinden, weiterzulesen. Blöd halt, daß das Buch so weit vorne steht.

Im Buch Exodus kann man die Schichten, die in den Pentateuch eingeflossen sind, am deutlichsten erkennen, und sie sind zu allem Überfluß schlecht miteinander verknüpft. Es gibt zum Teil abrupte Wechsel mitten in einer Geschichte, infolgedessen zwei Beschreibungen desselben Ereignisses unvereinbar nebeneinander stehen (war das Wasser jetzt durch einen starken Wind weggetrieben worden oder stand es rechts und links wie eine Mauer?, um nur mal das bekannteste Beispiel anzuführen). Besonders anstrengend ist das in den Gesetzestexten, die keine klare Struktur erkennen lassen. Oder besser: die zwar scheinbar eine klare Grobstruktur haben, aber sich dann in komplexen Details verlieren.

Nicht besser wird es dadurch, daß die Geschichte des Auszugs aus Ägypten in geistlicher Lesung und der kirchlichen Tradition eine kaum zu überschätzende Rolle spielt als Vorbild des Auszugs des einzelnen und der Kirche aus der Welt der Sünde und des Todes.

Und dann folgt darauf auch noch das Buch Levitikus, das kaum noch Geschichte, sondern hauptsächlich Gesetzestexte präsentiert, ganz zu Schweigen von Numeri, das fast schon in einer Art Mantra beginnt (der und der Stamm brachte das und das, der und der Stamm brachtet dasselbe und nach 12 Stämmen geht’s wieder von vorne los)!

Aber schwer gefehlt! Ok, Numeri ist am Anfang tatsächlich etwas langweilig, wenn man nicht wie ich auf Statistiken abfährt, aber Levitikus haut pholl phätt rein! Zunächst einmal wirken beide Bücher im Gegensatz zu Exodus viel mehr wie aus einem Guß. Vor allem aber braucht es die richtige Hermeneutik, die richtige Brille, um einen Zugang zu den Büchern zu kriegen. Bei Levitikus drängte sich mir relativ schnell auf, das Buch im Hinblick auf die Verehrung der Eucharistie und den Aufbau katholischer Kirchen zu lesen; nicht zuletzt, weil ständig vom ungesäuerten Brot aus Feinmehl, das heilig ist, die Rede ist. Tabernakel, ewiges Licht (Lev 24), ja sogar die Elevation (Lev 7,14) und praktisch das gesamte Kirchenjahr von Erntedank bis Pfingsten (Lev 23) – alles schon drin! Ok, man muß ein paar Begrifflichkeiten kennen, z.B. daß tabernaculum das lateinische Wort für Zelt ist, aber dann ist Levitikus alles andere als vergangene Gesetzlichkeit, sondern pure Gegenwart (ein paar kleinere Ausnahmen in gesetzlichen Detailregelungen bestätigen die Regel).

Das ist überhaupt das Problem: Man muß erstmal raffen, daß manche uns geläufige Begriffe eben lateinisch oder griechisch sind, die Einheitsübersetzung aber im Text meist die deutschen Worte verwendet (soweit vorhanden) und in den Anmerkungen allenfalls die hebräischen Ausdrücke erwähnt. So habe ich auch eine ganze Weile gebraucht zu merken, daß Josua nicht nur figurativ die Israeliten ins verheißene Land führt wie Jesus uns ins Himmelreich, sondern daß Josua „lediglich“ eine andere griechische Form von J(eh|o)schua als das neutestamentliche Jesus ist… Tja, nur weil man Texte auf Deutsch liest oder hört, heißt das eben noch lange nicht, daß man sie besser versteht, als wenn sie in einer mehr oder weniger unbekannten Fremdsprache formuliert sind.

Besonders angetan hat es mir aber die Weiheitsliteratur. Ja, auch hier gilt, nicht alles ist zum sofortigen Komplettverzehr geeignet (Psalmen, Sprüche). Aber die grundsätzliche Orientierung dieser Bücher ist so herrlich thomanisch „down to earth“ – sie wird weder spiritualistisch noch materialistisch, selbst wenn sie wie Kohelet die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des Menschen bis ins Letzte auskostet.

Stellen wie: „Der Schlaf des Fröhlichen wirkt wie eine Mahlzeit, das Essen schlägt gut bei ihm an“, und: „Wie ein Lebenswasser ist der Wein für den Menschen, wenn er ihn mäßig trinkt. Was ist das für ein Leben, wenn man keinen Wein hat, der doch von Anfang an zur Freude geschafen wurde? Frohsinn, Wonne und Lust bringt Wein, zur rechten Zeit und genügsam getrunken. Kopfweh, Hohn und Schimpf bringt Wein, getrunken in Erregung und Zorn. Zu viel Wein ist eine Falle für den Toren, er schwächt die Kraft und schlägt viele Wunden“ (Sir 30,25;31,19–21), zeigen in aller Deutlichkeit, daß es bei allem Wechsel in den Verhältnissen manche Dinge einfach Grundkonstanten menschlichen Lebens sind: „Wer sich selbst nichts gönnt, wem kann der Gutes tun? Er wird seinem eigenen Glück nicht begegnen“ (Sir 14,5).

Das Hohelied hingegen scheint mir das geistlich tiefste Buch der ganzen Bibel zu sein. Beim ersten Lesen rauscht es irgendwie so vorbei. Beim zweiten Mal merkte ich an ein paar Stellen plötzlich auf, klingt das nicht wie ein Kirchenlied? Beim dritten Mal fielen mir auch die Lieder ein, z.B. „Mein schönste Zier und Kleinod bist“ (Hld 2,16 in der dritten Strophe) und „Sagt an, wer ist doch diese“ (Hld 6,10), und mir zeigte sich eine Tiefe, die ihresgleichen sucht und von mir noch entdeckt werden will.

Leid tun mir aber die Protestanten, die gerade in der Weisheit der schönsten Texte entbehren müssen. Nicht nur fehlt Sirach, so daß den Lutherjüngern ihr „Prediger“ irgendwie der Kontext fehlt, aus dem er verständlich(er) wird, sondern sie kennen auch so krasse prophetische Texte wie Weisheit 2 nicht. Kein Wunder, daß manche von ihnen das AT gleich ganz über Bord werfen wollen.

Da versteht man übrigens auch gleich, warum Luther mit Jakobus nicht viel anfangen konnte. Wer die Weisheit nicht gebührend schätzt, für den wird der Jakobusbrief ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, denn der steht ganz, ganz deutlich in weisheitlicher Tradition, nicht zuletzt in seiner (keineswegs fehlenden!) Christologie. Nur kommt Christus hier nicht als vorösterlicher Jesus, sondern als erhöhter Herr vor, nämlich als die „Weisheit[!] von oben“, die den Christgläubigen zu neuem Leben gebiert, ihre Werke dabei schon immer mitbringt und den Christen dadurch befähigt, sie zu vollbringen. Oder anders gesagt, wer bei Jakobus nicht die Bergpredigt durchhört, kann kaum bemerken, wie nah Jakobus an den Synoptikern ist (27 Parallelstellen, davon die Hälfte aus der Bergpredigt).

Aber ich schweife ab. Die Offenbarung des Johannes habe ich schon immer gemocht. Aber erst nach der kompletten Bibellektüre ist mir so richtig klargeworden, daß und warum sie das würdige Schlußbuch der Bibel ist. Sie greift quasi alle losen Enden auf, alle noch nicht (ganz) erfüllten Verheißungen und bündelt sie. So macht sie nicht nur deutlich, daß die Vollendung noch aussteht, sondern vor allem auch, daß die ganze Bibel zusammengehört und nicht nur die Stellen, die sich neutestamentlich als erfüllt herausstellen oder gar nur die, die uns heute in den Kram passen. Und dabei steht sie voll in der Tradition alttestamentlicher Prophetie. Sie weist sehr wohl darauf hin, daß die Verheißungen oder auch Drohungen Gottes in der Gegenwart relevant sind, auch eine nahe Folge haben werden, daß aber die Geduld Gottes soviel größer ist als wir sie uns vorstellen können, daß die vollständige Erfüllung der Verheißungen noch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ausstehen kann. Ihr kennt weder Zeit noch Stunde…

Um das ganze mal abzuschließen: Ja, die Komplettlektüre der Bibel hat mir viel gebracht. Viele Bezüge sind mir vorher nie klar gewesen, und ständig entdecke ich neue. Wichtig war aber, die Bibel nicht „instruktionstheoretisch“ zu lesen, d.h. als Buch, das mir Sachinformationen vermittelt, sondern „personal-kommunikativ“, oder einfacher formuliert: geistlich, auf meine Beziehung zum Herrn hin. So erschlossen sich viele Stellen, die sonst irgendwie alt, unbedeutend und „apokryph“ gewirkt hätten, als geistlich tief, Lebenszusammenhänge erschließend und den Glauben stärkend.

Nur zwei Tips seien potentiellen Nachahmern noch auf den Weg gegeben, wenn sie die Einheitsübersetzung nehmen, was für den Anfang vielleicht gar nicht mal die schlechteste Wahl ist: Überspringt im Zweifel die Einleitungen zu den Büchern, die zum Teil zwar ganz brauchbar, zum Teil aber auch absolut grottig sind und jegliche geistliche Lektüre auszutreiben zu versuchen scheinen. Gleiches gilt für die Anmerkungen. Manche sind hilfreich, manche, insbesondere an Stellen im AT, die eindeutig Jesus als den Messias vorausverkünden, sind einfach katastrophal, weil sie keine Erklärung bieten, sondern nur ausschließen wollen, was zwar offensichtlich ist, aber einfach nicht sein darf.

Inzwischen bin ich übrigens schon wieder zu zwei Dritteln durch. Was für mich etwas sehr Ungewöhnliches ist. Selbst die besten Romane (von Sachbüchern ganz zu schweigen) lese ich nur in absoluten Ausnahmen ein zweites Mal und dann bevorzugt in einer anderen Sprache, weil mir alles so bekannt vorkommt, daß meine Augen zwar weiterhin den Buchstaben folgen, mein Hirn aber gelangweilt sonstwohin abdriftet. Das ist bei der Bibel völlig anders. Hier scheint es mir von Mal zu Mal spannender zu werden. Je besser ich die Texte kenne, umso mehr Querverweise und -bezüge fallen mir auf, umso tiefere Deutungen werden mir möglich. (Die Kirchenväterauslegungen dazu zu lesen, schadet ganz offensichtlich auch nicht.) Wenn das mal nicht ein Zeichen ist, daß dort „is more to it than meets the eye“… 🙂